Julio Cortázar: Rayuela. Himmel-und-Hölle. st 2579
Nicht von
ungefähr erschien Julio Cortázars (1914-1984) Roman Rayuela, dem man im
Deutschen zur Erläuterung den hier geläufigeren Namen der argentinischen
Variante dieses Hinterhof- und Straßenspiels Himmel und Hölle beigefügt
hat (wer das Spiel nicht kennt, siehe 253f), als erster südamerikanischer Text
in der Reihe der Romane des Jahrhunderts. Mit dem bahnbrechenden Werk
Cortázars, berühmt geworden durch seine die Realität auflösenden Erzählungen,
von 1963 begann die große Zeit der lateinamerikanischen Literatur, was ihre
Rezeption in der übrigen Welt anging. Zwar blieb Cortázar neben der Anerkennung
der Kritiker und Kollegen selbst eher ein Autor für eine überschaubarere
Lesergemeinde, doch sind die berühmten Schriftsteller*innen von Marquez über
Allende bis Llosa ohne ihn nicht denkbar – wie sie selbst auch freimütig
zugeben. In kurioser Rückkopplung führte dies dann 1981 aufgrund ihrer Erfolge
endlich auch zur Übersetzung von Rayuela ins Deutsche.
Auf seine
Weise ist dieses Buch viele Bücher (7) warnt mit biblischem Anklang gleich
der Wegweiser zu Beginn und gibt hilfreiche Tipps zur Lesegestaltung
mitsamt einer Kapitelreihung in Zahlen, denn einfach von Kapitel 1 zu 2 und 3
voranschreiten kann man, muss – und sollte – man aber nicht, schließlich hüpft
man auch beim Himmel und Hölle nicht einfach nur geradeaus. Doch dazu kommen
wir noch. Die Handlung des Romans ist schnell erzählt: Horacio Oliveira, ein
junger Argentinier, den es in die Kreise einer Clique internationaler Bohemiens
in Paris verschlagen hat, lebt dort mit Gesprächen in der Runde und seiner
Geliebten Maga – der Zauberin – sowie ihrem Kind aus einer früheren Beziehung
dahin. Hinter Horacios versnobter Gefühlskälte, die ihn die neugierige und
offene, ihm aber intellektuell unterlegene Maga mies behandeln lässt, obwohl er
sie abgöttisch liebt, verbirgt sich eine tiefe Melancholie, die ihn nie zur
Ruhe kommen lässt, das Glück musste etwas anderes sein, etwas, das
vielleicht trauriger war als dieser Frieden und diese Lust, etwas
Einhornartiges, Inselhaftes, ein unaufhörliches Fallen in der
Bewegungslosigkeit (27). Die Beziehungen zu seinen Freunden in Paris
bleiben lose, er vergrault die Maga mit Eifersüchteleien und seinem
Unverständnis gegenüber ihrer Trauer um ihren plötzlich verstorbenen Sohn.
Eines Tages ist sie verschwunden und Horacios Suche nach ihr – eine Suche mehr
– vergeblich.
Die Maga wird
seine Obsession bleiben, auch als er – zweiter Teil des Romans – nach
Südamerika zurückkehrt, er war sich klar darüber, dass die Rückreise in mehr
als einem Sinn die Hinfahrt war (269). Horacio kommt bei seinem Freund
Traveler unter, doch bleibt er in Außenseitergesellschaften: erst Bohemien und
Ausländer in Paris, hilft er hier bei einem Zirkus aus, der sich später auflöst
und stattdessen zum Personal einer Irrenanstalt wird. Doch Horacio ist auf dem
besten Weg, vom Betreuer zum Insassen zu werden, sein Verhältnis zu Traveler
trübt sich, nicht zuletzt, weil er in dessen Freundin Talita mehr und mehr die
Maga wiederzuerkennen glaubt. Symptomatisch ein Dialog zwischen Traveler und
Horacio, der auch das Verhältnis Erzähler/Autor-Leser*in gut beschreibt:
-
Na und? sagte Traveler. Warum muss ich deine
Spielchen mitspielen, Bruder?
-
Die Spiele spielen sich von selber, du bist
es, der ein Stöckchen dazwischensteckt, um das Rad anzuhalten.
-
Das Rad, das du gebaut hast, wenn wir schon
davon reden wollen.
-
Ich glaube nicht, sagte Oliveira. Ich habe lediglich
die Umstände heraufbeschworen, wie die Eingeweihten sagen. Man hätte das Spiel
ehrlich spielen müssen. (292f)
Der zweite Teil
– und mit ihm die Romanhandlung – endet ohne Abschluss. Es folgt der Abschnitt Von
anderen Ufern voller Kapitel, die man getrost beiseite lassen kann
(409), der Ergänzungen, Zitate, Zeitungsausschnitte und die sogenannten
Morelliana, Aussagen des Dichters Morelli, eines alter egos Cortázars,
aneinander reiht, natürlich ungeordnet, ein plastisch sich veränderndes
Universum voll des wunderbaren Zufalls (429) oder anders: Mein Buch kann
man so lesen, wie man Lust hat (628), so Morelli – wozu man allerdings die
Leseanleitung zu Beginn hätte ignorieren müssen, ganz so einfach ist es nämlich
wiederum nicht.
Natürlich ist es
ein – siehe das Streitgespräch – extrem spielerischer Roman. Dies weniger in
einem streng experimentellen Sinn, wie er nur gelegentlich, etwa in Kapitel 34
auftaucht, wo sich Horacios innerer Monolog zwischen die Zeilen eines
Schundromans schiebt, sondern im Umgang mit der Form: Provozieren, sich
einen Text zur Aufgabe machen, der schlampig gemacht ist, unverbunden,
inkongruent, der bis ins letzte gegen die Kunst des Romans (obgleich nicht
gegen den Roman) verstößt (455), ein Geheimnis bieten, das der
Leser-Komplize suchen muss (457), so kommentiert sich das Verfahren ständig
selbst im Text. Und dies nicht ohne Ironie, wie das wunderbare Schlüsselkapitel
23 belegt, indem Oliveira mehr oder weniger versehentlich das Klavierkonzert
einer avantgardistischen Pianistin besucht, die mit ihren verfremdeten
synkretistischen Dodekaphonikstücken alle ihre anfangs gut 200 Zuhörer nach und
nach in die Flucht schlägt. Auch Horacio will gehen, bleibt aber aus Mitleid,
begleitet die enttäuschte Künstlerin sogar nach Hause – gedankt wird es ihm
nicht. Wir sind hoffentlich mehr als ein Leser oder eine Leserin, die aus
Zufall zu einem Roman gegriffen haben, der höchste Ansprüche an uns stellt und
den wir nur aus Mitleid mit dem Autor, der sich doch immerhin die Mühe gemacht
hat, fast 650 Seiten zu Papier zu bringen, ratlos zu Ende liest – dafür könnten
auch wir sicher keinen Dank erwarten. Doch Rayuela ist eben ein Spiel,
dessen Regeln man akzeptieren oder während des Lesens neu ordnen muss, das
aber vielleicht auch den Ehrgeiz herausfordert, den Drang, hinter das erwähnte Geheimnis
zu kommen, das in dem Sog liegt, den der Roman recht schnell entfaltet –
und der nicht wenig von seiner brillanten Sprache ausgeht. Es ist eben ein Text
im Sinne Morellis: Was ihn zum Beispiel auf die Palme bringt, ist der Roman
nach Art eines chinesischen Rollbilds. Ein Buch, das man von Anfang bis Ende
liest, ein gehorsames Kind (506) oder mit den Worten Horacios, wer feste
Verabredungen traf, gehört zu denen, die liniertes Papier verwenden,
wenn sie einander schreiben, und die Zahnpastatube von unten drücken (15).
Vorgänger: Hermann Hesse - Das Glasperlenspiel.
Vorgänger: Hermann Hesse - Das Glasperlenspiel.
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