Freitag, 9. Februar 2018

Lektüremonat Januar 2018.



Natürlich hat es keine tiefere Bedeutung, aber trotzdem möchte man das neue Jahr nicht mit einem miesen Buch beginnen. Um dem zu entgehen, könnte man auf die Wiederlektüre eines geliebten Schmökers setzen oder zumindest zum Werk eines verehrten Autors oder einer verehrten Autorin greifen, um das Risiko etwas zu minimieren. Aber das wäre auch ein bisschen feig – und schließlich weiß man auch nicht, was das neue Jahr bringt. Und so folgt der Griff zum nächsten Buch im Stapel. 

Buch Eins des Jahres 2018:
Thommie Bayer - Das Herz ist eine miese Gegend.
Thommie Bayer: Das Herz ist eine miese Gegend.

Glück gehabt. Thommie Bayer (geb. 1957) ist bekannt als Liedermacher – und sein Roman ist trotz grammatikalisch fragwürdigen Titels ein hervorragender Einstieg ins neue Jahr. Die charmant unterhaltsame Geschichte einer Langzeitbeziehung von der Jugend der 1960er bis in die späten 1980er ist witzig, gleichzeitig ein bisschen traurig, nostalgisch verklärend ohne Wehmut und hat ein offenes Ende – und, trotz ihrer Widersprüchlichkeiten, sehr sympathische Charaktere. Jedem zu empfehlen, auch wenn er oder sie nicht in jenen Tagen gelebt hat.  

P.G. Wodehouse: Mulliner Nights.

Seit einiger Zeit erfreut sich P.G. Wodehouse (1881-1975) gerade im deutschsprachigen Raum, erkennbar an zahlreichen Neuauflagen, wiederkehrender Beliebtheit. Der trockene Sprachwitz in Verbund mit grotesken Geschichten angesiedelt in der Upper Class und Aristokratie entspricht ziemlich exakt unserem Bild von britischem Humor – hier stark beeinflusst von den Komödien Oscar Wildes. Im vorliegenden Fall sind es die kuriosen Erlebnisse der Neffen des Herrn Mulliner, die er im Gesellschaftsgespräch zum Besten gibt. Gehobene Unterhaltungslektüre, man liest und lacht und legt es amüsiert beiseite. Die Lektüre des englischen Originals erweitert den Wortschatz ungemein, doch sollte man die das erworbene Vokabular im täglichen Umgang dann doch vielleicht besser nicht anwenden.


Christa Wolf: Sommerstück.

Die deutschsprachige Literatur in Ost und West gab sich nach den politisch aufregenden Zeiten der 1970er Jahre der resignierten „Neuen Subjektivität“ hin, einer oft wehleidigen Nabelschau, in dem die Protagonist*innen, zumeist Mittelschichtler mit Aussteigergelüsten, sich akribisch selbst analysierten und jeden ihrer Gedanken hundertfach hinterfragten – keine Glanzzeit der Literatur. Christa Wolfs (1929-2011) "Sommerstück", die Schilderung eines Freundeskreises, der an der Ostsee in alten Häusern Befreiung vom Stadtleben sucht, changiert am Rande dieses Phänomens, wie das Buch auch zwischen der Schilderung von Idylle und Nostalgie und einer von vorneherein eingestandenen Resignation und Illusionslosigkeit, die vor allem Anfang und Ende des Werkes bestimmen, hin und her wechselt. Gleichwohl krankt "Sommerstück" nicht an dem ausufernden Selbstmitleid der Neuen Subjektivität, was nicht zuletzt an Christa Wolfs Sprachmöglichkeiten und ihrer Distanz liegt, die sie trotz allem immer wieder anklingen lässt – und unter der ihr alter ego Ellen im Buch selbst bisweilen durchaus leidet. In das Buch wurde, da es am Ende der 1980er Jahre erschien, allerhand Prophetisches hineininterpretiert, das mag sein, wie es will, in jedem Fall ein äußerst lesenwertes Sommerstück der Literatur von einer großen Autorin. 

Hans Magnus Enzensberger: L’histoire des nuages. 99 méditations.

Man könnte es für eine exzentrische Verstiegenheit halten, den Gedichtband eines deutschen Autors auf französisch zu lesen, doch handelt es sich einerseits um das gut gewählte Geschenk eines französischen Freundes und zweitens weiß die Kulturnation Frankreich ohnehin, dass man Lyrik – das wohl am schwersten zu übersetzende Genre überhaupt – stets in zweisprachigen Ausgaben veröffentlicht. Und so hat man das doppelte Vergnügen, Enzensbergers (geb. 1929) späte Gedichte in zwei Sprachen vergleichen zu können. Schon immer frei von Esoterik und Hermetismus widmet sich der Altmeister für ihn klassischer Themen wie naturwissenschaftlichen Beobachtungen, Erfindern und ihren Erfindungen und natürlich den alltäglichen Dingen, Diskussionen und Betrachtungen. Erstaunlich sanft geht es dabei zu, gerade die gesellschaftskritischen Gedichte der ersten Kapitel sind geprägt von einer gewissen Gelassenheit und positiven Gleichgültigkeit, ein Zug, der sich durch den gesamten Band zieht und letztlich im Gedichtzyklus am Ende, der titelgebenden Geschichte der Wolken, an deren Existenz man sich orientieren soll, ihren zusammenfassenden konsequenten Höhepunkt findet. Gleichwohl schimmert durch diese Distanzierung insbesondere durch Enzensbergers ironischen Stil Wachheit durch, die nicht bereit ist, sich mit den Zuständen einfach nur abzufinden. Vielmehr geht es darum, eigene – alte und erste – Reaktionen zu überdenken und zu überprüfen. Unbedingt lesenswert, gerade weil man sich selten dazu aufrafft, Lyrik zu lesen. Das Überflüssige, hüte es. Viel nämlich/ bleibt nicht von dir, wenn du es wegwirfst (Überflüssige Elegie). 

Leon de Winter: Supertex.

Ein junger niederländischer Jude versucht sich von seinem Elternhaus, insbesondere vom Vater, einem KZ-Überlebenden aus armen Verhältnissen, der sich bis zum erfolgreichen Textilunternehmer hochgearbeitet hat, zu emanzipieren. Doch das Rebellentum ist nur scheinbar erfolgreich: zwar löst er sich von der Religion, wird angesehener und vermögender Anwalt und hat Wirkung auf Frauen. Doch nach und nach gerät er zurück in den alten Bannkreis und wird zum symbolischen und letztlich echten Erbe seines Vaters: er tritt in dessen Konzern ein, übernimmt nach dem Tod des Gründers die Leitung – und schließlich sogar dessen Geliebte. Ohne Krise geht dies nicht – wie ihm an einem Tag bewusst wird, als er einen jüdischen Jungen auf der Straße anfährt. Komplexer, aber sehr unterhaltsamer Roman des ebenso populären wie streitbaren niederländischen Autors (geb. 1954), der in jüngeren Jahren allerdings eher als polemischer Islamkritiker auffällt, auch in Deutschland durch zahlreiche Kolumnen aktiv. Nebenbei wird einem beim Lesen zudem bewusst, dass de Winter die Methoden der Billigtextilketten mit all der dazugehörigen Ausbeutung damals bereits deutlich thematisierte und sich seit 1991 daran rein gar nichts geändert hat - und schon gar nicht gebessert.

Peter Shaffer: Equus.

Theaterstück aus den großen Glanzzeiten des britischen Dramas. Shaffer (1926-2016) wurde dem breiten Publikum bekannt durch die oscarprämierte Verfilmung seines Stücks "Amadeus". Auch "Equus" wurde (1977) mit Spitzenbesetzung, u.a. Richard Burton, verfilmt – für beide Filme lieferte Shaffer das Drehbuch selbst ab. Die Nachricht von einem tatsächlichen Vorfall – ein Jugendlicher hatte sechs Pferden die Augen ausgestochen – inspirierte ihn zu einem Psycho-Drama im Wortsinne, einem Dialog zwischen dem Arzt Martin Dysart und dem eingelieferten Übeltäter Alan Strang. Dysart gelingt es zwar die Hintergründe von Strangs schwer nachvollziehbarer Schändung der Tiere zu beleuchten, wo sich Mystisches mit Sexuellem verbindet, doch gerät er hierbei selbst an seine Grenzen – oder sogar über diese hinaus. Spannend und intensiv, egal, ob man den psychologischen Erklärungsversuchen folgen möchte oder nicht. 

Gabriele d’Annunzio: Das Feuer.

Gabriele d’Annunzio (1863-1938): Literarisches Wunderkind, das mit 16 Jahren seinen ersten Lyrikband herausbrachte, Erneuerer der italienischen Literatur fast im Alleingang, internationaler Star der europäischen Dekadenz gleichauf mit einem Hofmannsthal, Wilde, Maeterlinck, Huysmans, Liebhaber der Musik Wagners und der Philosophie Nietzsches, Hasardeur und Kriegstreiber, Errichter des ersten proto-faschistischen und illegalen Staates in Fiume, Freund und Kritiker Mussolinis, von den Faschisten als wenig widerspenstiges Aushängeschild genutzt. Unbestreitbar eine erstaunliche, kontroverse und im Positiven wie Negativen irritierende Biographie eines zugeben genialen Schriftstellers. Zu den vielen Attributen des in allen literarischen Genres reüssierenden d’Annunzio gehört natürlich auch das des Skandalautors. Zu diesem Ruf trug nicht wenig der Roman „Das Feuer“ (1900) bei, in dem d’Annunzio kaum verschlüsselt seine Beziehung zur Schauspielgröße Eleonora Duse aufarbeitete, ohnehin ein beliebtes Thema der Klatschspalten. Wer nun allerdings allerlei Pikantes erwartet, wird enttäuscht sein: symbolistische Dichtung zu lesen gehört nicht gerade zu den schnellen Vergnügungen insbesondere für heutige Leser*innen. Wenig Handlung, viel Symbolik des Verfalls, viel Kunstgespräche – d’Annunzio kreierte mit seinem Buch auch den Venedigmythos neu, von dem die Stadt noch heute profitiert (oder unter welchem sie noch immer leidet). Die Psychologie der Beziehung – das Feuer steht für Leidenschaft und Eifersucht, an der sie auch zugrunde zu gehen scheint – liegt darunter tief verborgen. Der Roman ist also etwas für Liebhaber*innen der Jugendstilepoche. 

Laurens van der Post: Das Schwert und die Puppe. Trennender Schatten. Die Saat und der Säer.

Der Band versammelt als „Weihnachts-Trilogie“ unterschiedlich lange Erzählungen von Laurens van der Post (1906-1996), in denen der südafrikanisch-britische Schriftsteller seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg verarbeitete, wo er hauptsächlich in Afrika und Asien diente. An und für sich sehr begrüßenswert widmen sich seine Werke der Versöhnung der ehemaligen Gegner, doch kann man sich bei der Lektüre schon bald nicht des Eindrucks erwehren, dass van der Post in Gestalt seines alter ego Mr. Lawrence ein eher seltsames Einfühlungsvermögen in die japanischen Offiziere entwickelt. Das liegt keinesfalls daran, dass er ihr Handeln in den Gefangenenlagern milde schildert, ganz im Gegenteil, er zeigt deutlich die überbordende Brutalität und Verachtung gegenüber denen der Willkür ausgelieferten Häftlinge – umso überraschender dann jedoch der (in den ersten beiden Geschichten) jeweilige Versuch, gerade das Vorgehen der ärgsten Schinder als innerhalb deren und des japanischen Volkes Wertesystem als durchaus gerechtfertigt und gewissermaßen ehrenhaft zu erklären, abgeleitet noch dazu aus einer reichlich esoterischen Psychologie. Dieses Denken innerhalb von Offizierskategorien, von vermeintlichen Ehrbegriffen und deren Zurückführung auf Ansehen in Hierarchien und des Handelnmüssens aufgrund eines Kodex stößt einem – insbesondere als deutschem Leser – irgendwann ziemlich sauer auf. Was ließe sich damit nicht alles rechtfertigen – und das wurde oft genug versucht. Manchmal scheint es, van der Post habe eine Form des Stockholm-Syndroms entwickelt. 

William Hope Hodgson: The Ghost-Finder. The Casebook of Carnacki.

Hodgson (1877-1918) ist bekannt für seine auch noch heute ziemlich unheimlichen Seegeschichten, schuf aber auch den Ghost-Finder Carnacki, der sich ähnlich seinem Zeitgenossen Sherlock Holmes der Aufklärung seltsamer Begebenheiten widmete, allerdings übersinnlicher Natur. Die Geschichten sind in der äußeren und inneren Struktur zumeist ähnlich, ihr Reiz liegt aber vor allem darin, dass Carnacki kein abgeklärter Übermensch ist, sondern das Geschehen um ihn herum zumeist selbst nur schwer und unter großer Angst erträgt. Ein kluger Kniff des Autors ist zudem, die Erzählungen manchmal rational als Betrug aufzulösen, manchmal als tatsächliches übernatürliches Ereignis – oder beides, wie in der berühmtesten dieser Geschichten „The Horse of the Invisible“. Zwar sind die Seeabenteuer Hodgsons von größerer Wirkung, als gruselige Unterhaltung lesen sich Carnackis Erzählungen aber noch immer mit Gewinn. 

Friedrich Dürrenmatt: Romulus der Große. Ungeschichtliche historische Komödie.

Geschrieben kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und mehrfach überarbeitet, ist Dürrenmatts (1921-1990) Komödie ein Vergnügen, aber ein sehr zweifelhaftes. Also ein zu Zweifeln anregendes Theaterstück, amüsant und wie versprochen recht ungeschichtlich – das Personal und die Zeit sind von realen Personen inspiriert, aber im dramatischen Sinn verändert und ergänzt – schildert es die letzten Stunden des Weströmischen Reiches. Die Germanen stehen bereits in Rom, die Legionen sind geschlagen, doch der Kaiser sitzt recht gelassen in seinem campanischen Landhaus und züchtet Hühner. Seine letzten Getreuen in Hofstaat und Familie verzweifeln schier über seine Untätigkeit, denn sie erkennen nicht Romulus‘ perfiden Plan: er selbst will durch sein Nichthandeln das Römische Reich endgültig zum Untergang zwingen und damit eine jahrhundertelang Geschichte der Gewalt und Unterdrückung beenden. Der Untergang gelingt – aber sind die übernehmenden Germanen tatsächlich eine bessere Wahl? Dürrenmatts Folgerungen bezweifeln auch das. Nur weil sie Hosen tragen, wird sich grundsätzlich nichts ändern. Sollte viel öfter gelesen und gespielt werden als die elende „alte Dame“…                    

 



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