Buch Eins des Jahres 2018: Thommie Bayer - Das Herz ist eine miese Gegend. |
Thommie
Bayer: Das Herz ist eine miese Gegend.
Glück
gehabt. Thommie Bayer (geb. 1957) ist bekannt als Liedermacher – und sein Roman
ist trotz grammatikalisch fragwürdigen Titels ein hervorragender Einstieg ins
neue Jahr. Die charmant unterhaltsame Geschichte einer Langzeitbeziehung von
der Jugend der 1960er bis in die späten 1980er ist witzig, gleichzeitig ein
bisschen traurig, nostalgisch verklärend ohne Wehmut und hat ein offenes Ende –
und, trotz ihrer Widersprüchlichkeiten, sehr sympathische Charaktere. Jedem zu
empfehlen, auch wenn er oder sie nicht in jenen Tagen gelebt hat.
P.G.
Wodehouse: Mulliner Nights.
Seit
einiger Zeit erfreut sich P.G. Wodehouse (1881-1975) gerade im
deutschsprachigen Raum, erkennbar an zahlreichen Neuauflagen, wiederkehrender Beliebtheit.
Der trockene Sprachwitz in Verbund mit grotesken Geschichten angesiedelt in der
Upper Class und Aristokratie entspricht ziemlich exakt unserem Bild von
britischem Humor – hier stark beeinflusst von den Komödien Oscar Wildes. Im
vorliegenden Fall sind es die kuriosen Erlebnisse der Neffen des Herrn
Mulliner, die er im Gesellschaftsgespräch zum Besten gibt. Gehobene Unterhaltungslektüre, man
liest und lacht und legt es amüsiert beiseite. Die Lektüre des englischen
Originals erweitert den Wortschatz ungemein, doch sollte man die das erworbene
Vokabular im täglichen Umgang dann doch vielleicht besser nicht anwenden.
Christa
Wolf: Sommerstück.
Die
deutschsprachige Literatur in Ost und West gab sich nach den politisch
aufregenden Zeiten der 1970er Jahre der resignierten „Neuen Subjektivität“ hin,
einer oft wehleidigen Nabelschau, in dem die Protagonist*innen, zumeist Mittelschichtler
mit Aussteigergelüsten, sich akribisch selbst analysierten und jeden ihrer
Gedanken hundertfach hinterfragten – keine Glanzzeit der Literatur. Christa
Wolfs (1929-2011) "Sommerstück", die Schilderung eines Freundeskreises, der an
der Ostsee in alten Häusern Befreiung vom Stadtleben sucht, changiert am Rande
dieses Phänomens, wie das Buch auch zwischen der Schilderung von Idylle und
Nostalgie und einer von vorneherein eingestandenen Resignation und
Illusionslosigkeit, die vor allem Anfang und Ende des Werkes bestimmen, hin und
her wechselt. Gleichwohl krankt "Sommerstück" nicht an dem ausufernden
Selbstmitleid der Neuen Subjektivität, was nicht zuletzt an Christa Wolfs
Sprachmöglichkeiten und ihrer Distanz liegt, die sie trotz allem immer wieder
anklingen lässt – und unter der ihr alter ego Ellen im Buch selbst bisweilen
durchaus leidet. In das Buch wurde, da es am Ende der 1980er Jahre erschien,
allerhand Prophetisches hineininterpretiert, das mag sein, wie es will, in
jedem Fall ein äußerst lesenwertes Sommerstück der Literatur von einer großen
Autorin.
Hans
Magnus Enzensberger: L’histoire des nuages. 99 méditations.
Man
könnte es für eine exzentrische Verstiegenheit halten, den Gedichtband eines
deutschen Autors auf französisch zu lesen, doch handelt es sich einerseits um
das gut gewählte Geschenk eines französischen Freundes und zweitens weiß die
Kulturnation Frankreich ohnehin, dass man Lyrik – das wohl am schwersten zu
übersetzende Genre überhaupt – stets in zweisprachigen Ausgaben veröffentlicht.
Und so hat man das doppelte Vergnügen, Enzensbergers (geb. 1929) späte Gedichte
in zwei Sprachen vergleichen zu können. Schon immer frei von Esoterik und
Hermetismus widmet sich der Altmeister für ihn klassischer Themen wie
naturwissenschaftlichen Beobachtungen, Erfindern und ihren Erfindungen und
natürlich den alltäglichen Dingen, Diskussionen und Betrachtungen. Erstaunlich
sanft geht es dabei zu, gerade die gesellschaftskritischen Gedichte der ersten
Kapitel sind geprägt von einer gewissen Gelassenheit und positiven
Gleichgültigkeit, ein Zug, der sich durch den gesamten Band zieht und letztlich
im Gedichtzyklus am Ende, der titelgebenden Geschichte der Wolken, an deren
Existenz man sich orientieren soll, ihren zusammenfassenden konsequenten
Höhepunkt findet. Gleichwohl schimmert durch diese Distanzierung insbesondere
durch Enzensbergers ironischen Stil Wachheit durch, die nicht bereit ist, sich
mit den Zuständen einfach nur abzufinden. Vielmehr geht es darum, eigene – alte
und erste – Reaktionen zu überdenken und zu überprüfen. Unbedingt lesenswert,
gerade weil man sich selten dazu aufrafft, Lyrik zu lesen. Das Überflüssige, hüte es. Viel nämlich/ bleibt nicht von dir, wenn du
es wegwirfst (Überflüssige Elegie).
Leon
de Winter: Supertex.
Ein
junger niederländischer Jude versucht sich von seinem Elternhaus, insbesondere
vom Vater, einem KZ-Überlebenden aus armen Verhältnissen, der sich bis zum
erfolgreichen Textilunternehmer hochgearbeitet hat, zu emanzipieren. Doch das
Rebellentum ist nur scheinbar erfolgreich: zwar löst er sich von der Religion,
wird angesehener und vermögender Anwalt und hat Wirkung auf Frauen. Doch nach
und nach gerät er zurück in den alten Bannkreis und wird zum symbolischen und letztlich echten Erbe
seines Vaters: er tritt in dessen Konzern ein, übernimmt nach dem Tod des
Gründers die Leitung – und schließlich sogar dessen Geliebte. Ohne Krise geht
dies nicht – wie ihm an einem Tag bewusst wird, als er einen jüdischen Jungen
auf der Straße anfährt. Komplexer, aber sehr unterhaltsamer Roman des ebenso
populären wie streitbaren niederländischen Autors (geb. 1954), der in jüngeren
Jahren allerdings eher als polemischer Islamkritiker auffällt, auch in
Deutschland durch zahlreiche Kolumnen aktiv. Nebenbei wird einem beim Lesen
zudem bewusst, dass de Winter die Methoden der Billigtextilketten mit all der
dazugehörigen Ausbeutung damals bereits deutlich thematisierte und sich seit
1991 daran rein gar nichts geändert hat - und schon gar nicht gebessert.
Peter
Shaffer: Equus.
Theaterstück
aus den großen Glanzzeiten des britischen Dramas. Shaffer (1926-2016) wurde dem
breiten Publikum bekannt durch die oscarprämierte Verfilmung seines Stücks
"Amadeus". Auch "Equus" wurde (1977) mit Spitzenbesetzung, u.a. Richard
Burton, verfilmt – für beide Filme lieferte Shaffer das Drehbuch selbst ab. Die Nachricht von einem tatsächlichen Vorfall
– ein Jugendlicher hatte sechs Pferden die Augen ausgestochen – inspirierte ihn
zu einem Psycho-Drama im Wortsinne, einem Dialog zwischen dem Arzt Martin
Dysart und dem eingelieferten Übeltäter Alan Strang. Dysart gelingt es zwar die
Hintergründe von Strangs schwer nachvollziehbarer Schändung der Tiere zu
beleuchten, wo sich Mystisches mit Sexuellem verbindet, doch gerät er hierbei
selbst an seine Grenzen – oder sogar über diese hinaus. Spannend und intensiv,
egal, ob man den psychologischen Erklärungsversuchen folgen möchte oder nicht.
Gabriele
d’Annunzio: Das Feuer.
Gabriele
d’Annunzio (1863-1938): Literarisches Wunderkind, das mit 16 Jahren seinen
ersten Lyrikband herausbrachte, Erneuerer der italienischen Literatur fast im
Alleingang, internationaler Star der europäischen Dekadenz gleichauf mit einem
Hofmannsthal, Wilde, Maeterlinck, Huysmans, Liebhaber der Musik Wagners und der
Philosophie Nietzsches, Hasardeur und Kriegstreiber, Errichter des ersten
proto-faschistischen und illegalen Staates in Fiume, Freund und Kritiker
Mussolinis, von den Faschisten als wenig widerspenstiges Aushängeschild
genutzt. Unbestreitbar eine erstaunliche, kontroverse und im Positiven wie
Negativen irritierende Biographie eines zugeben genialen Schriftstellers. Zu
den vielen Attributen des in allen literarischen Genres reüssierenden
d’Annunzio gehört natürlich auch das des Skandalautors. Zu diesem Ruf trug
nicht wenig der Roman „Das Feuer“ (1900) bei, in dem d’Annunzio kaum
verschlüsselt seine Beziehung zur Schauspielgröße Eleonora Duse aufarbeitete,
ohnehin ein beliebtes Thema der Klatschspalten. Wer nun allerdings allerlei
Pikantes erwartet, wird enttäuscht sein: symbolistische Dichtung zu lesen
gehört nicht gerade zu den schnellen Vergnügungen insbesondere für heutige
Leser*innen. Wenig Handlung, viel Symbolik des Verfalls, viel Kunstgespräche –
d’Annunzio kreierte mit seinem Buch auch den Venedigmythos neu, von dem die
Stadt noch heute profitiert (oder unter welchem sie noch immer leidet). Die
Psychologie der Beziehung – das Feuer steht für Leidenschaft und Eifersucht, an
der sie auch zugrunde zu gehen scheint – liegt darunter tief verborgen. Der
Roman ist also etwas für Liebhaber*innen der Jugendstilepoche.
Laurens
van der Post: Das Schwert und die Puppe. Trennender Schatten. Die Saat und der
Säer.
Der
Band versammelt als „Weihnachts-Trilogie“ unterschiedlich lange Erzählungen von
Laurens van der Post (1906-1996), in denen der südafrikanisch-britische
Schriftsteller seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg verarbeitete, wo er
hauptsächlich in Afrika und Asien diente. An und für sich sehr begrüßenswert
widmen sich seine Werke der Versöhnung der ehemaligen Gegner, doch kann man
sich bei der Lektüre schon bald nicht des Eindrucks erwehren, dass van der Post
in Gestalt seines alter ego Mr. Lawrence ein eher seltsames Einfühlungsvermögen
in die japanischen Offiziere entwickelt. Das liegt keinesfalls daran, dass er
ihr Handeln in den Gefangenenlagern milde schildert, ganz im Gegenteil, er
zeigt deutlich die überbordende Brutalität und Verachtung gegenüber denen der
Willkür ausgelieferten Häftlinge – umso überraschender dann jedoch der
(in den ersten beiden Geschichten) jeweilige Versuch, gerade das Vorgehen der
ärgsten Schinder als innerhalb deren und des japanischen Volkes Wertesystem als
durchaus gerechtfertigt und gewissermaßen ehrenhaft zu erklären, abgeleitet noch
dazu aus einer reichlich esoterischen Psychologie. Dieses Denken innerhalb von
Offizierskategorien, von vermeintlichen Ehrbegriffen und deren Zurückführung
auf Ansehen in Hierarchien und des Handelnmüssens aufgrund eines Kodex stößt
einem – insbesondere als deutschem Leser – irgendwann ziemlich sauer auf. Was
ließe sich damit nicht alles rechtfertigen – und das wurde oft genug versucht. Manchmal
scheint es, van der Post habe eine Form des Stockholm-Syndroms entwickelt.
William
Hope Hodgson: The Ghost-Finder. The Casebook of Carnacki.
Hodgson
(1877-1918) ist bekannt für seine auch noch heute ziemlich unheimlichen
Seegeschichten, schuf aber auch den Ghost-Finder Carnacki, der sich ähnlich
seinem Zeitgenossen Sherlock Holmes der Aufklärung seltsamer Begebenheiten
widmete, allerdings übersinnlicher Natur. Die Geschichten sind in der äußeren
und inneren Struktur zumeist ähnlich, ihr Reiz liegt aber vor allem darin, dass
Carnacki kein abgeklärter Übermensch ist, sondern das Geschehen um ihn herum
zumeist selbst nur schwer und unter großer Angst erträgt. Ein kluger Kniff des
Autors ist zudem, die Erzählungen manchmal rational als Betrug aufzulösen,
manchmal als tatsächliches übernatürliches Ereignis – oder beides, wie in der
berühmtesten dieser Geschichten „The Horse of the Invisible“. Zwar sind die
Seeabenteuer Hodgsons von größerer Wirkung, als gruselige Unterhaltung lesen
sich Carnackis Erzählungen aber noch immer mit Gewinn.
Friedrich
Dürrenmatt: Romulus der Große. Ungeschichtliche historische Komödie.
Geschrieben
kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und mehrfach überarbeitet, ist Dürrenmatts
(1921-1990) Komödie ein Vergnügen, aber ein sehr zweifelhaftes. Also ein zu
Zweifeln anregendes Theaterstück, amüsant und wie versprochen recht
ungeschichtlich – das Personal und die Zeit sind von realen Personen
inspiriert, aber im dramatischen Sinn verändert und ergänzt – schildert es die
letzten Stunden des Weströmischen Reiches. Die Germanen stehen bereits in Rom,
die Legionen sind geschlagen, doch der Kaiser sitzt recht gelassen in seinem
campanischen Landhaus und züchtet Hühner. Seine letzten Getreuen in Hofstaat
und Familie verzweifeln schier über seine Untätigkeit, denn sie erkennen nicht
Romulus‘ perfiden Plan: er selbst will durch sein Nichthandeln das Römische
Reich endgültig zum Untergang zwingen und damit eine jahrhundertelang
Geschichte der Gewalt und Unterdrückung beenden. Der Untergang gelingt – aber
sind die übernehmenden Germanen tatsächlich eine bessere Wahl? Dürrenmatts
Folgerungen bezweifeln auch das. Nur weil sie Hosen tragen, wird sich grundsätzlich
nichts ändern. Sollte viel öfter gelesen und gespielt werden als die elende
„alte Dame“…
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