Dienstag, 11. September 2018

Lektüremonat August 2018.

 
Wolfgang Ecke’s Kriminalmagazin 1


…ist eine Anthologie von fünf Geschichten klassischer britischer Krimiautoren: Agatha Christie, Edgar Wallace, G.K. Chesterton und Dorothy Sayers. Geschichte Nummer fünf stammt vom Herausgeber Wolfgang Ecke (1927-1983) selbst, einem der erfolgreichsten Kriminalschreiber – für Jugendliche. Der vorliegende Band richtet sich allerdings vorwiegend an Erwachsene – und hier wiederum an die Liebhaber*innen herkömmlicher, insgesamt etwas angestaubter Krimikost, die, stets Gefahr dieses Genres, mal mehr, mal weniger an ihrer Konstruiertheit leidet, besonders auffällig in diesem Fall bei Dorothy Sayers. Als schnelle Urlaubslektüre trotz des grammatikalisch fragwürdigen Titels gerade noch so erträglich…   
 

Roald Dahl: Danny oder die Fasanenjagd.

In jüngerer Zeit sind einige von Roald Dahls (1916-1990) Jugendbüchern sehr erfolgreich auf die Leinwand zurückgekehrt, darunter „Der fantastische Mr. Fox“ und „Charlie und die Schokoladenfabrik“. Ob dies auch „Danny oder die Fasanenjagd“ widerfährt, ist dagegen eher fraglich. Die Geschichte eines neunjährigen Jungen, der allein mit seinem Vater in einem alten Zirkuswagen wohnt und die gemeinsam eine Tankstelle mit Werkstatt betreiben, weist zwar das übliche Inventar an mehr oder weniger kleinen Bizarritäten auf, doch wirkt das Hauptthema, des Vaters heimliche Leidenschaft für Fasanenwilderei – die er seit Generationen mit den Dorfbewohnern vom Polizisten bis zum Pfarrer teilt – ebenso altbacken wie der Humor, der so dezent ist, dass er fast verschwindet, und die klischeehafte Zeichnung der einzelnen Figuren. Übertroffen wird das Ganze nur noch von der ebenso naiven wie überflüssigen Moral am Ende der Geschichte. Insgesamt dröge.
 

Monika Sperr: Treffpunkt Froschweiher.

„…oder die Sache mit dem Fahrrad.“ Was in Titel und Untertitel so harmlos klingt, ist die Geschichte eines 15jährigen, der aufgrund der Verkettung mehrerer Umstände einige Wochen im Jugendstrafvollzug der JVA München-Stadelheim zu verbringen hat. Pubertärer Übermut, Verdruss zuhause, falsch verstandene Solidarität auf der einen, eine glückliche erste Liebe, verständnisvolle Lehrerinnen und ein Gutteil Einsicht prägen das Leben des Mitläufers Maxi, das Monika Sperr (1941-1984) in ihrem kurzen Roman beschreibt. Auch hier könnte man sich fragen, ob nicht das ein oder andere etwas zu stark dem Klischee zuneigt – böser Vater, falsche Freunde – doch basiert der Text größtenteils auf den Unterlagen und den Recherchen eines Originalfalles. Ob das Zusammenleben und vor allem der Zusammenhalt unter den Insassen des Jugendknasts tatsächlich so vergleichsweise harmonisch ist, sei dahingestellt, vielmehr ist es zu begrüßen, dass Monika Sperr eben nicht versucht, das inzwischen übliche Bild größtmöglicher Drastik zu zeichnen, sondern sie sich für ihre Charaktere interessiert, die weder Unschuldslämmer noch verwahrloste Monster im Frühstadium sind. Deshalb gibt es am Ende auch ein entsprechendes Urteil. Unser Urteil: immer noch lesenswert!
 

Anna Katharina Hahn: Am schwarzen Berg.

Es gibt bestimmte Themen, über die man eigentlich nie etwas lesen möchte. Ganz oben auf dieser imaginierten Liste steht das Leben der oberen Mittelschicht in einer gediegenen Stuttgarter Vorortsiedlung, Lehrer und Ärzte mit ihren Frauen, alle kurz vor der Pensionsgrenze. Zum Beispiel. Aber vielleicht ist das ein böses Vorurteil und wir werden überrascht – insbesondere wenn sich eine bewährte Schriftstellerin wie Anna Katharina Hahn (geboren 1970) des zweifelhaften Themas annimmt. Zumindest verfällt sie nicht der wohlfeilen Versuchung, aus dem Ganzen eine Satire zu machen. Stattdessen setzt sie allerdings auf einen Hyperrealismus, also eine sehr kleinteilige Beschreibung, die Markennamen statt Gattungsbegriffe verwendet (Zewa statt Küchenrolle etc.), jeden Weg akkurat à la Stadtplan beschreibt, jeder Straßenname, jedes Gebäude wird exakt benannt, zudem jede körperliche Scheußlichkeit vom Eiterpickel bis zum Speichelfaden genauestens geschildert. Das kann, muss man aber auf Dauer nicht mögen – und nervt vor allem in den Ortsbeschreibungen. Der Plot ist simpel: Der erwachsene Sohn der einen Nachbarsfamilie kehrt verwahrlost zurück, alle rätseln, warum, es stellt sich schließlich heraus: Frau und Kinder haben ihn verlassen. Dabei fand „Peterle“ doch Mörike toll, hat sich für Stuttgart-21 engagiert, beziehungsweise dagegen, und ist ein freigeistiger Heilpraktiker. Nur einem bestimmten Stuttgarter Milieu kann es da vermutlich tatsächlich unbegreiflich vorkommen, warum man so einen Kerl, der nun vor sich hinmüffelnd in Selbstmitleid zerfließt, nicht lieben kann. Anna Katharina Hahn aber ist es gelungen, alle unsere Vorbehalte diesem Milieu gegenüber zu bestätigen. Falls sie dies mit ihrem Roman erreichen wollte, dann ist er ein Meisterwerk.  
 

Achim Bröger: Flammen im Kopf.

Der erfahrene Jugendbuchautor Achim Bröger (geboren 1944), sonst Experte für die Schilderung erster Liebeserfahrungen, widmet sich in seinem kurzen Roman dem Thema Schuld. Gemäß alter Tradition versuchen fünf Jugendliche, das Osterfeuer des Nachbardorfes vor dem eigentlichen Termin abzufackeln – was ihnen auch gelingt. Allerdings gerät dabei einer der Wachposten der feindlichen Dorfjugend in die Flammen und verbrennt. Die fünf Kinder sind fortan auf der Flucht – vor der Polizei, der Rache der Dorfbewohner, der Angst vor den Eltern und der eigenen Tat. Nachdem anfangs einer der Jugendlichen etwas „turbostark“ findet – ein Ausdruck, den wahrscheinlich noch nie jemals irgendwann ein Teen verwendet hat – fürchtet man schon, in einen dieser Jugendromane geraten zu sein, wo erwachsene Autoren besonders cool erscheinen wollen. Doch weit gefehlt, Brögers Buch entwickelt sich zu einem spannenden Roman mit verschiedenen Perspektiven, Einblick in die Gruppendynamik, Interesse an den Figuren und immer wieder der Frage, welches Handeln das Richtige (gewesen) wäre.
 

Frederik Hetmann, Harald Tondern: Die Nacht, die kein Ende nahm.

Weiter geht’s in der legendären Rotfuchs-Reihe, der schon die Bücher Dahls, Sperrs und Brögers entstammten. Dem Jugendroman des Autorenduos Hetmann (1934-2006)/Tondern (geboren 1941) merkt man die Entstehung Anfang der 1990er Jahre deutlich an, als die Gewalt von Rechts erkennbar anstieg und in Rostock, Mölln und Solingen traurige Höhepunkte erfuhr. „In der Gewalt von Skins“, so der Untertitel, befindet sich eine Berliner Schulklasse eine ganze Nacht in einem Mecklenburger Ferienheim. Formal ist das Ganze zwar ausgeglichen – die Perspektiven wechseln zwischen Schüler*innen, Lehrern, aber auch den Skins – insgesamt jedoch etwas bemüht, auch nah am Plakativen. Ein Vorwurf ist dies letztens nicht – das Berichtete basiert auf einem realen Vorfall. Hoch anzurechnen ist den Autoren auch, dass sie keine Heldengeschichte erzählen, sondern auf die Ignoranz, aber auch die Hilflosigkeit vieler ihrer Figuren eingehen. Trotz Schwächen eine wichtige Lektüre.
 

Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war.

Der Untertitel von Meyerhoffs (geboren 1967) Nachfolgeroman zu seinem Amerika-Buch „Alle Toten fliegen hoch, Teil 2“ scheint eine Fortsetzung anzudeuten und beim Lesen dann eher ein Prequel zu sein, ist aber weder das eine noch das andere und doch beides. Der Untertitel ist trotzdem nicht falsch, denn schon die ersten Zeilen deuten an, dass es hier keineswegs nur um die Kindheitserlebnisse des jungen Joachim gehen wird, wie gewohnt vordergründig leichthändig, locker und lustig erzählt, sondern um die traurigen Ereignisse jener Tage, den Tod des Bruders, des Hundes und des Vaters. Letztere ist die Figur, die – neben dem Erzähler – den Angelpunkt des Textes darstellt, auch wenn der Roman mehr ist als nur eine Hommage an den schwer fassbaren Vater, sondern ein Familienportrait in äußerst ungewohnter Umgebung. Berufsbedingt wohnt die Familie nämlich im zentralen Gebäude innerhalb einer psychiatrischen Anstalt. Das gibt Anlass zu zahlreichen Anekdoten, die sich keineswegs über die Deformationen der Insassen lustig, aber für den Leser das in vielen Fällen doch sehr tragische Geschehen im Leben der Patient*innen und der Familie erträglicher machen. Der Text hat nichts von der Faszination des Erstlings verloren, ist ein leicht süchtig machender Roman, der auf (zum Glück bereits erfolgte) weitere Texte Meyerhoffs sehnsüchtig warten lässt.
 

Stefan Heym: Nachruf.

Stefan Heym (1913-2001) macht, was so manchem von uns wahrscheinlich auch lieb wäre: er schreibt seinen Nachruf einfach selbst, auf nicht weniger als 850 Seiten. Der Titel – über dessen Grund auf den letzten Seiten berichtet wird – ist weit weniger makaber, als es den Anschein hat – schließlich ist jede Autobiographie mehr oder weniger ein Nachruf auf sich selbst, mit der Tendenz, das eigene Erleben erfolgreicher darzustellen, als es vielleicht war – das Dilemma des Genres schlechthin. Ganz entkommt dem auch der große Schriftsteller Heym nicht, aber unzweifelhaft hat er anders als manch andere*r einiges aus seinem Leben zu erzählen. Jüdischer Herkunft, als Gymnasiast wegen eines kritischen Gedichts von der Schule geflogen, von den  Nazis gehasst, nach deren Machtübernahme verfolgt, nach Prag, dann in die USA geflüchtet, dort schwierige Zeiten, dann ein erster Romanerfolg – Heym schreibt zeitlebens die meisten seiner Bücher, auch in der DDR, erst auf Englisch – amerikanischer Staatsbürger, Eintritt in die Armee, Dienst bei der Psychologischen Kriegsführung in Europa, McCarthyismus in den Staaten, erneute Flucht durch Osteuropa, Ansiedlung in der DDR, ständige Konflikte mit der Staatsführung, Rauswurf aus dem Schriftstellerverband. Heyms Nachruf erschien 1988, es fehlen folglich – leider – seine Auftritte während der Wende, sein Einzug 1994 in den Deutschen Bundestag als Alterspräsident, begleitet von Skandalen, sein Rücktritt ein Jahr später. Ein Leben im 20. Jahrhundert, das durch die politischen Lagen und Lager geprägt war, aufgeschrieben von einem der wichtigsten deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit. Mehr kann man nicht wollen. 
 

Dave Zeltserman: 28 Minuten.

Suhrkamp-Krimi des amerikanischen Erfolgsautors Dave Zeltserman (geboren 1959), der miese Voraussetzungen mitbringt. Schon der Plot ist denkbar unglaubwürdig: vier alternde arbeitslose Programmierer planen einen Banküberfall – in Zeiten der Cybercrimes, die klassischen Raubüberfällen längst das Wasser abgegraben haben, erscheint es doch mehr als unwahrscheinlich, dass sich gerade IT-Experten auf dieses altmodische Geschäft einlassen sollten. Nun gut, einer von ihnen hat das Alarmsystem der Bank entworfen und dabei einen Fehler entdeckt: eine routinemäßige Sicherheitswartung dauert nicht wie vorgesehen 28 Sekunden, sondern 28 Minuten. Hieraus entwickelt er einen minutiösen Plan, für dessen Durchführung er seine früheren Kollegen benötigt. Es folgen weitere Krimi-Clichés: es kommt anders als man denkt, Streit nach (halb) erfolgreichem Überfall, Verbrechen lohnt sich nicht, Russen- und italienische Mafia, kluger Einzelgängerpolizist, doofe Bundesbehörden (FBI in diesem Fall). So weit, so schlimm, könnte man denken, würde Zeltserman aus all dem nicht trotzdem einen extrem spannenden Thriller basteln, der vielleicht nicht gerade brilliert, aber insgesamt bestens unterhält. Krimipflicht erfüllt. 
 

Marie Hermanson: Das englische Puppenhaus.

Ungewöhnliches aus der Feder der schwedischen Großmeisterin Marie Hermanson (geboren 1956) – gut, das würde man ja ohnehin erwarten. Ungewöhnlich ist hier das Formale, denn es handelt sich um eine Sammlung von kurzen Erzählungen Hermansons, die meisten hiervon aus den 1980er Jahren. Das dürfte einer der Gründe sein, warum die Texte eher wie Vorstufen zu den späteren Romanen wirken, als ein Ausprobieren und Herantasten. Im Gegensatz zu den Romanen konzentriert sich Hermanson in den Geschichten hier auf ein oft langsames, stilles Ineinanderfließen von Realitäten, oft ist es der Einbruch eines einzigen Ereignis in den Alltag, der allerdings selbst oft schon träumerische oder leicht bizarre Züge hat. So verschwindet eine Mitschülerin in einem Diorama des alten, bereits geschlossenen Naturkundemuseums, tauscht die Protagonistin den Platz mit dem Dienstmädchen des von ihr geliebten Puppenhauses, entsteht in einer Schneelaterne ein Zwergenkönigreich, das am nächsten Tag verschwunden ist. Vieles deutet sich nur an, das Geschehen wird nüchtern berichtet, wer die Romane Hermansons kennt, mag vielleicht auf den ersten Blick, nach der ersten Lektüre leicht enttäuscht sein, weil das Spektakuläre hier versteckter, unaufgeregter daherkommt – aber gerade das ist schließlich auch eine Kunst.  
 

Charles Bukowski: Aufzeichnungen eines Außenseiters/Kaputt in Hollywod/Fuck Machine.

In diesem Monat fanden sich ja besonders viele Jugendromane in unserem Repertoire; nun Charles Bukowski (1920-1994) wird für gewöhnlich der Jugend nicht gerade empfohlen, von ihr aber sicher nicht minder gerne heimlich gelesen, umgibt ihn doch der Hauch des Verruchten. Die drei zusammen editieren Kurzgeschichtensammlungen sind denn auch die von Bukowski erwartbare verfickte Scheiße, um es mal in seinem Tonfall zu sagen. Der gebürtige, früh ausgewanderte  Andernacher ist bei einem Publikum beliebt, dass die eigene Postpubertät nicht abgelegt hat und sich in dem Pseudorebellentum toll findet, das Bukowski verachtet, und dass nicht tiefer blickt als auf die oberflächlichen Obszönitäten, die den Dichter zum Bürgerschreck machten – eine Attitüde, die ihn längst hätte ihn Vergessenheit geraten lassen, weil dies heute keine müde Maus mehr hinter dem Ofen hervorlocken würde. Bukowskis Radikalität liegt tiefer und ist gekonnter in ihrer Form, was schon daran ersichtlich ist, dass sein scheinbar äußerst beschränktes Themenfeld – Sex, Saufen und Gewalt in aller Drastik – zur eigenen Überraschung der Leser*innen nicht ermüdend wird, wie dies etwa Pornographen fast unausweichlich geschieht. Bukowski lebt Phantasien ungefiltert und ohne Eigenzensur aus, weiß aber, dass dies nur Konstruktion ist – Konstruktion für die Leser*innen. Wunderbar ironisch führt er dies nicht nur dadurch vor, dass er selbst meist der Protagonist seiner Geschichten ist, sondern auch auf der beliebten Metaebene in der Geschichte „Zwölf fliegende Affen, die nicht richtig kopulieren wollen“ (in „Fuck Machine“).                     




 

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