"Today, the degradation of the inner life is symbolized by the fact that the only place sacred from intrusion is the private toilet."
Lewis Mumford, The City in History.
Das
nachnapoleonische Russland Zar Alexanders. Der Landadelige Michel Borissovitch
Ozareff reist zur Geburt seines Enkels nach Sankt Petersburg, doch als er dort
ankommt, ist das Kind bereits tot. Sein Sohn Nicolas und dessen junge, vom
alten Patriarchen Ozareff verachtete Frau Sophie, eine Französin, kehren mit
ihm aufs Land zurück. Dort entwickelt sich alles anders als gedacht: Sophie
langweilt sich keineswegs, sondern sorgt sich um die leibeigenen Bauern, betreut
ihre unglückliche Schwägerin Marie und freundet sich mit ihrem Schwiegervater
an, der sie heimlich allzusehr bewundert und ihr keinen Wunsch abschlagen kann.
Nicolas gelingt es dagegen nicht, eine revolutionäre Zelle aufzubauen,
stattdessen geht er, eher gedankenlos, erst ein Verhältnis mit der benachbarten
Gutsherrin, später bei einem Besuch in Sankt Petersburg mit einer Polin ein. Die
Schicksalsknoten verwickeln sich, doch werden sie am Ende nicht aufgelöst – der
Roman Troyats (1911-2007), eines Exilrussen, ist der zweite Teil eines
fünftbändigen Zyklus, und so schließt „La Barynia“, zu deutsch in etwa „Die
Herrin“, bezogen auf Sophie, recht tragisch mit dem Selbstmord der
unglücklichen Schwägerin Marie und deren zurückgelassenem Kind, das Sophie
gegen den Willen ihres Schwiegervaters bei sich aufnimmt, während der von
beiden nach der Aufdeckung seiner Affäre mit der Nachbarin verstoßene Nicolas
in Sankt Petersburg von all dem noch nichts ahnt. To be continued…
Der
Autor dieser Zeilen gibt es unumwunden zu, schon seit frühesten Jugendtagen ist
Ernst Weiß (1882-1940) einer seiner unangefochtenen Lieblingsautoren. Der
Brünner Schriftsteller und Arzt, befreundet mit zahlreichen Kulturgrößen seiner
böhmisch-mährischen Heimat, Österreichs und Deutschlands aus der Zeit des
Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit, hat seltsamerweise nie die
Bekanntheit erreicht, die er verdient hätte. Tatsächlich war der vorliegende
„Georg Letham“ sein erfolgreichstes Werk zu Lebzeiten, er erschien 1930 – und
man vergleiche Thema und Stil mit dem oben genannten „Hortense“ von Otto Flake.
Zwischen beiden liegen Welten. Georg Letham ist ein zynischer Facharzt,
Bakteriologie, der sich für seine Mitmenschen nur als Experimentiermaterial
interessiert, Mitgefühl und Humanismus sind da nur hinderlich – da er jedoch
zudem hochintelligent ist, weiß er hierum sogar, er ist ein brillanter
Analytiker seiner selbst. Nur mag er hieraus keine Konsequenzen ziehen, wozu
auch, er lebt damit bestens. Außer zu seinem dominanten Vater, hoher Beamter im
Staat, hat er keinerlei Familienbindung, seine ältliche Frau verachtet er
mindestens so, wie sie ihn verehrt. Ihr Geld kann er als Lebemann gut brauchen,
trotzdem wird sie ihm zunehmend lästig. Als sich durch Zufälle – eine typisch
paradoxe Weiß-Konstellation – geradezu zwangsweise die Möglichkeit ergibt, sie
gefahrlos zu töten, für den erfahrenen Forscher Letham ein Kinderspiel, führt
er dies – wiederum ein originäres Weiß-Motiv – so nachlässig aus, dass er noch
Stunden später verhaftet wird. Das lässig hingenommene Urteil sendet ihn auf
eine Gefängnisinsel, wo todbringende Gelbfieberseuchen an der Tagesordnung
sind. Letham wird einer medizinischen Expedition zugeteilt, der schließlich
durch menschliche Selbstexperimente die Aufdeckung der Übertragung des
Gelbfiebers gelingt – unter hohen Verlusten. Das nur der ohnehin fesselnde
Plot, den Weiß mit sprachlicher Brillanz zu einem Panorama an Personen ausbaut,
die nie eindimensional sind, sondern ständiger psychologischer Wandlung
unterliegen, allen voran natürlich Letham selbst, der Ich-Erzähler, der vom
gefühlskalten Misanthropen zum Mitmenschen wird, der sich letztlich opfert.
Dazu kommen zahlreiche Episoden, von denen man sich beim Lesen nicht Losreißen
kann, etwa die gescheiterte Nordpol-Expedition des Vaters (Gegenstück zur
Südsee-Insel des Sohnes) mit ihren klaustrophobischen und Horror-Elementen oder
die minutiöse Schilderung einer Geburtsoperation, bei der Letham ein fataler
Fehler unterläuft. Eines der ganz großen Meisterwerke der österreichischen
Literatur des 20. Jahrhunderts, viel zu selten gewürdigt und gelesen und seit
langem wie das Gesamtwerk Weiß‘ – der übrigens in Frankreich zum Beispiel hoch
geschätzt wird – der Wiederentdeckung harrend. Also ab in den Laden, kaufen und
lesen!