Marcel Proust: In Swanns Welt. Auf der
Suche nach der verlorenen Zeit. st 2671
Fast etwas spät
taucht er in dieser Reihe auf, der Roman – besser: das Romanwerk – das James
Joyces Ulysses im Urteil der Expert*innen sicher am ehesten den Rang als
der bedeutendste des 20. Jahrhunderts streitig macht, falls es denn einen
Wettstreit gäbe. Unzweifelhaft ist der hohe Rang, der eminente Einfluss und das
einzigartig Monumentale von Marcel Prousts (1871-1922) Auf der Suche nach
der verlorenen Zeit, dessen ersten Band Suhrkamp unter dem Titel In
Swanns Welt herausbrachte. In der beliebten Erster-Satz-Kategorie ist
Prousts Recherche anders als Ulysses, Kafkas Prozess oder etwa
auch Goethes Werther reichlich unspektakulär und wohl auch deshalb –
schon des fehlenden Wiedererkennungswertes unter Nichtexperten wegen – selten
zitiert: Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen (9). Natürlich ist
auch dieser für Proustsche Verhältnisse äußerst lakonische Einstieg
anspielungsreich und wirft nach genauerem Hinschauen bereits einige Fragen auf,
die geradezu symptomatisch sind. Abgesehen davon, dass bereits das
Schlüsselwort Zeit auftritt, handelt es sich offenkundig um eine
Rückschau auf einen Moment der Veränderung – ab erwähntem Punkt wurde eine
Gewohnheit durchbrochen, es entstand ein neuer Zeitraum, an dem etwas nicht
mehr so war wie vorher. Es ist das titelgebende Thema in nuce.
Die Grammatik
kündigt die Rückschau an, doch sogleich wird in den folgenden Sätzen deren
Unzuverlässigkeit eingeräumt – oder vor ihr gewarnt. Die Erinnerungen sind wie
der Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen, eine wenig greifbare
Übergangsphase an beiden Enden: fließen in das Traumgeschehen des Schlafes
während jener Periode letzte Eindrücke des Tages – und der Lektüre – hinein, so
umgekehrt in den Prozess des Aufwachens die unvernünftigen, aber von der
Vernunft akzeptierten Vorgaukeleien des Schlafes, wie nach der
Seelenwanderung die Gedanken einer früheren Existenz (9). Es ist nicht der
erste Satz, es ist die Madeleine-Episode, die heute allgemein mit Prousts Roman
in Verbindung gebracht wird, jene Sekunde nun, als dieser mit
Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich
zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir
vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und
dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt (63).
Wahrscheinlich die berühmteste Sekunde der Weltliteratur. Der Ich-Erzähler
analysiert selbst, diese Substanz war vielmehr nicht in mir, ich war sie
selbst (64), es ist ganz offenbar, dass die Wahrheit, die ich suche,
nicht in ihm – dem Geschmack des Kuchens und des Tees – ist, sondern in
mir (64). Es ist eine in ihm hochsteigende Erinnerung, die im Moment des
unterbewussten Aufgreifens schon wieder zu verblassen droht, die er dann zwar
doch noch erfassen und identifizieren kann – eine Madeleine, die er einst von
seiner Tante während seiner Kindertage in Combray geschenkt bekam – die jedoch
als dieser Augenschein eines Glückes (64) nicht mehr wiederholbar sein
wird, natürlich ohnehin nicht als realer Ablauf, aber auch nicht als jenes
sinnlich auftauchende Überwältigungsgefühl.
Gleichwohl ist
dieses Erlebnis Auslöser und Anlass der Erzählung, eben jener Suche nach der
verlorenen Zeit. Ein, wie schon angedeutet, zwiespältiges, von allerlei und
ständigen Unsicherheiten begleitetes
Unterfangen. Unsere fragwürdige Fähigkeit zum Erinnern ist ein wiederkehrender
Topos des gesamten Romanprojektes: Aber da alles, was ich mir davon hätte
ins Gedächtnis rufen können, mir dann nur durch bewusstes, durch
intellektuelles Erinnern gekommen wäre und da die auf diese Weise vermittelte
Kunde von der Vergangenheit ihr Wesen nicht erfasst, hätte ich niemals Lust
gehabt, an das übrige Combray zu denken (62), es ist nicht das sogenannte
semantische Gedächtnis, das nüchterne, objektive, chronikalische – Daten sind,
anders als Orte, selten genannt in der Recherche –, es ist das
episodische, biographische, mit Gefühlen verbundene Erinnern, auf dessen Suche
sich der Ich-Erzähler begibt. Die Schwierigkeiten sind zahlreich. Momente sind
flüchtig, gegenwartslos, schon in der Antizipation bereits vorbei, so dass
der Augenblick, da ich sie heraufkommen und dann im Gang mit der Doppeltür das
leichte Rascheln ihres Gartenkleides aus blauem Musselin mit kleinen
strohgeflochtenen Quasten hörte, für mich ein schmerzlicher Augenblick war. Er
kündigte schon den nächsten an, der auf ihn folgen sollte, wo sie mich
verlassen haben und wieder unten sein würde (22). Die Wahrnehmung ist subjektiv,
von den anderen so geformt, dass sie ins eigene Bewusstsein – und damit auch in
das Gedächtnis – eingeht, unsere Persönlichkeit innerhalb der Gesellschaft
ist eine geistige Schöpfung der andern (29), eine Schlüsselbeobachtung in
dem von Proust beschriebenen Umgang des Bürgertums und Adels miteinander, einer
bis ins Privatleben extrem auf Konventionen, Status und buchstäblichem
Vor-Urteil aufgebauten Biotop, wo der Anschein mehr zählt als die reale Person,
die mit einem Anfangsverdikt belegt wird, an dem starr gegen jede objektive
Umstände festgehalten wird.
Und dann ist da
naturgemäß das Hauptproblem des Erinnerns: die Vergänglichkeit und damit
Unwiederbringlichkeit des Erinnerten. Heute waren sie alle dem Erdboden
gleichgemacht, das Gras wuchs (223) über ihnen und auch in mir sind
viele Dinge zerstört, von denen ich geglaubt habe, sie würden ewig währen, und
andere sind entstanden, die neue Freuden und Leiden heraufbeschworen haben, von
denen ich damals noch nichts wissen konnte, so wie mir heute die damaligen
schwer zu begreifen sind (53). Das Anhaften der Gefühle bedingt auch, das
mit diesen jene Erinnerungsstücke wechseln oder von ihnen je nach momentaner
Stimmung überdeckt und umgewandelt werden, sich dadurch dem rationalen Zugang
verweigern, bei einem physischen Schmerz kann das Denken, gerade weil er
unabhängig davon ist, verweilen, kann feststellen, dass er nachgelassen, dass
er für eine Sekunde vollkommen aufgehört habe. Jenen Schmerz aber, den er
empfand, schuf das Denken jedes Mal neu, wenn er sich damit befasste (365).
Diesem schmerzhaften, tiefen Erinnern durch Grübeln stehen die kurzen,
unverhofften Glücksmomente des Aufblitzens gegenüber, jene Momente, die wie
eine Drogensehnsucht empfunden werden, so klang dicht neben mir der Name
Gilberte auf, mir geschenkt wie ein Talisman, der mir vielleicht erlauben
würde, eines Tages diejenige wiederzufinden, die er aus einem eben noch ganz
ungewissen Bild zu einer wirklichen Person geschaffen habe (189f.). Doch
auch hier ist sich der Erzähler bewusst, wie trügerisch gerade jene
verklärenden Augenblicke sein können, durch die von meiner Phantasie
willkürlich erfundenen Freuden (512).
Mit sanfter
Ironie flicht Proust den Wunsch seines Protagonisten ein, jemand möge die
Atmosphäre der Unterhaltungen der Erwachsenen seiner Kindertage aufgezeichnet
haben, sie hätte das zentrale Thema eines Epenzyklus abgeben können, hätte
einer von uns über wirkliches Erzählergenie verfügt (149). Nun, einer hat.
Die drei Teile von In Swanns Welt, die Exposition der Kindheit in
Combray, die beginnende und langsam wieder tragisch verdämmernde Liebe von
Swann zu Odette de Crécy und des Erzählers eigenes Schwärmen für Swanns
Tochter Gilberte, sind bekanntlich nur der Auftakt zu jenem Großvorhaben der Recherche.
Auch wir als Leserinnen und Leser wissen, welcher Widersinn darin liegt,
wenn man die Bilder der Erinnerung in der Wirklichkeit sucht, wo immer der Reiz
ihnen fehlen muss, der im Gedächtnis wohnt und mit den Sinnen nicht
wahrgenommen werden kann. Die Wirklichkeit, die ich einst kannte, existierte
nicht mehr (564). Und doch ist ihr wohl kaum jemals jemand so nahe gekommen
wie Proust, hat Gefühl und Erinnerung wieder so nahe gebracht wie er, sie so
nachvollziehbar gemacht – meisterlich in der Schilderung von Swanns Liebe zu Odette
– und vor allem sprachlich so unnachahmlich. Die Eleganz Proustscher Sätze,
auch in der Übersetzung noch spürbar, sucht ihresgleichen, ist –
unvergesslich.
Vorgänger (Teil 10): Martin Walser - Halbzeit.