Joel
Dicker: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert.
Schon
wieder eine lange Bahnfahrt, und obwohl der Versuch beim letzten Mal gehörig
schiefging, wieder der Griff zu einem Bestseller der letzten Jahre. Das Buch
des Schweizer französischsprachigen Autors Joel Dicker (geboren 1985) stürmte
vor einiger Zeit die Verkaufslisten mit einer Mischung aus Krimi, Künstlerroman
und Liebesdrama. Da es um Schriftsteller, genauer Bestsellerautoren geht, ist
der Text stets begleitet von einem augenzwinkernden Unterton, Dicker spielt mit
der Suggestion, dass wir hier das Ergebnis des Schreibprozesses in Händen
halten, dem wir beim Lesen beiwohnen. Wie sich herausstellt, sind es mehrere
Schreibprozesse, die auf vielen Opfern, buchstäblichen und metaphorischen,
fußen. Im Garten des Schriftstellers Harry Quebert wird die Leiche eines
15jährigen Mädchens gefunden, das vor über 30 Jahren verschwunden war. Mit im
Grab: das Originalmanuskript von Queberts Roman, mit dem sein Weltruhm begann.
Die Sache scheint klar. Nur Queberts gelehriger Schüler Marcus Goldman, nach
fulminantem Debüt in einer Schaffenskrise steckender Autorenkollege, zweifelt
an seiner Schuld und nimmt eigene Recherchen auf. Die werden für ihn selbst
bald bedrohlich und bald ist nichts mehr so, wie es schien… Auch ist Quebert
keineswegs unschuldig. Das Buch ist äußerst gekonnt konstruiert, mit enorm
vielen Wendungen, da verzeiht man manche überzeichnete Nebenfigur wie Goldmans
Mutter oder seinen Verleger, wird man doch über 700 Seiten ohne Leerlauf
spannend unterhalten.
Ian
McEwan: Erste Liebe, letzte Riten.
Inzwischen
anerkannter britischer Großautor und gefragter Interviewpartner zu
gesellschaftliche Themen, sorgte Ian McEwan (geboren 1948) in seinen frühen
Jahren mit Texten zu äußerst kontroversen Themen, zumeist aus dem erotischen
Bereich, für Aufmerksamkeit. Solche Erzählungen aus den 1970ern versammelt der
Band „Erste Liebe, letzte Riten“. Sei es Inzest mit der kleinen Schwester, die
beiläufige Ermordung eines jungen Mädchens nach der kurzen Triebbefriedigung,
Sex auf der Theaterbühne, aber auch, wie man seine quengelige Freundin mittels
eines physikalischen Tricks verschwinden lassen kann oder die Antwort auf die
Frage, warum jemand sein Leben gern im Schrank verbirgt. Mal purer Realismus,
mal leichte Züge ins Groteske, immer aber eine verzweifelte Einsamkeit.
„Normale“ Beziehungen kommen nicht vor, geregeltes Familienleben scheint nicht
zu existieren, die Protagonisten der Texte und ihre Mitmenschen leben in
unvereinbaren Realitäten, die wenig verheißungsvoll sind. Nicht jede der
Geschichten muss man unbedingt gelesen haben, die Grundstimmung des Buches ist
allerdings wirkungsvoll beeindruckend.
Andréa
de Nerciat: Lolotte.
Pornographie,
so Umberto Eco, unterscheide sich von Erotik in Erzähltexten und Filmen durch eine
Handlung, die nur darin besteht, von einem Geschlechtsakt zum nächsten
überzuleiten und dies möglichst ohne Umschweife. Was für den Verfasser oder die
Verfasserin wie eine Erleichterung beim Schreiben klingen mag, wird für
Autor*innen des Genres – wie auch für die Leser*innen – schnell zum Problem.
Die Aneinanderreihung des Immergleichen wird bald ermüdend, der Versuch, dem
durch immer exquisitere Sexualakrobatik entgegenzuwirken nicht selten grotesk
bis lächerlich. Insgesamt ist die pornographische Literatur ein äußerst
schematisches, wenig innovatives Feld, dem auch gehobene Vertreter*innen auf
Dauer wenig Originelles entlocken können – an Versuchen hat es seit der Antike
nicht gemangelt. Insgesamt beschränkt sich die Wirkung zumeist auf das rein
Biologische. Dies gilt auch für Andréa de Nerciat (1739-1800), einen
erfolgreichen Autor aus einer Blütezeit der pornographischen Literatur, dem
späten 18. Jahrhundert. ‚Galant‘ war das Attribut jener Romane, die zumeist die
Einführung einer jungen Frau in alle Varianten des Liebeslebens schildern. Das
hatte durchaus befreiende, aufklärerische Wirkung (in jeglichem Sinn), auch
wenn man dies nicht allzu überbewerten dürfte angesichts eines wohl fast
ausschließlich höfischen Publikums. Die Elemente von Nerciats Romanen sind
zeittypisch: verführte Kammerjungfern, Lustgreise und süße Knaben, dazu
nymphomane Nonnen und verdorbene Priester. Nerciat predigt die Schönheit der
Wollust, weit entfernt vom Zeitgenossen de Sade. Von der allzu anatomischen
Pornographie unserer Tage unterscheidet er sich durch eine mal mehr, mal
weniger erfindungsreiche Metaphorik, die Handlung kann man vernachlässigen…
Steve
Tesich: Ein letzter Sommer.
„Summer
Crossing“ heißt der Roman des früh verstorbenen Steve Tesich (1942-1996) im
Original und beide Titel sind so schlicht wie passend. Es ist der letzte Sommer
der drei 18jährigen Freunde Daniel, Billy und Larry, der ihnen nach dem
High-School-Abschluss vor dem Eintritt ins Berufs- oder Collegeleben
bevorsteht. Doch was nach Freiheit klingt, wird bald zum Anlass für
Orientierungslosigkeit und Unsicherheit. Was anfangen mit den vielen
Möglichkeiten – und wie entscheiden, wenn die Zukunft dadurch für immer
festgelegt erscheint? Doch Daniel, der Ich-Erzähler, wird bald feststellen,
dass es neben der beängstigenden Freiheit ein gleichzeitig determinierendes
Umfeld von Zwängen gibt: die Kleinstadt, die so vertraut und Heimat ist, aber
der man auch entfliehen möchte. Die Eltern, die auseinandergelebt, geliebt
werden wollen, aber unzugänglich sind. Die Freunde, die immer da waren, aber
nun nicht mehr zu halten sind, fortstreben ins Spießertum wie Billy oder ihre
Flucht- und Gewaltphantasien umsetzen wie Larry. Und vor allem ist da die erste
große Liebe zu Rachel, die Daniel liebt und die ihn liebt, die ihm aber auch
stets unverständlich bleibt. Für den 18jährigen ist die Welt seiner
Mitmenschen, besonders derjenigen, die er doch durch ihre Nähe besonders gut
kennen müsste, undurchschaubar wie seine eigene Gefühlswelt. Er wünscht die
Abwesenheit, den Tod des krebskranken Vaters, der ihn liebt, aber auch demütigt
– und erkennt schließlich, wie nah ihm dieser war und wie ähnlich. Es war ihr
letzter gemeinsamer Sommer. Tesichs präzise, zurückhaltende und äußerst
sensible Schilderung dieses kurzen Abschnitts im Leben Daniels ist eine der
herausragendsten Leistungen, die bisher in dieser Lektüreliste in diesem Jahr
besprochen wurde. Eine melancholische, subtile Geschichte über unaufhaltbare
Verluste und die Schwierigkeit, seine Mitmenschen zu deuten. Großartig.
Per
Petterson: Pferde stehlen.
Eine
einsame, etwas heruntergekommene Hütte an der schwedisch-norwegischen Grenze
sucht sich der 67jährige Trond als aktiven Alterssitz aus. Aus gutem Grund:
nicht nur wegen der Landschaft, sondern vor allem in Erinnerung eines
Sommeraufenthaltes mit seinem Vater im Jahr 1948, vor über fünfzig Jahren. Jene
Tage waren ereignisreich, Tronds Freund Jon wird zum unfreiwilligen Auslöser
einer Katastrophe, Trond erfährt einiges über die Vergangenheit seines Vaters
als Schmuggler für den Widerstand gegen die deutsche Besatzung, muss aber nach
dem Sommer feststellen, dass sein Vater zwar ungeahnte Züge von
Heldenhaftigkeit besaß, dass dieser Mensch ihn aber auch zutiefst enttäuschen
wird. Pettersons (geboren 1952) Roman scheint zwar oberflächlich typische
Skandinavienklischees zu bedienen, er beherrscht aber – neben der Sprache – die
hohe Kunst der Andeutungen, vieles wird nicht auserzählt, sondern den Leser*innen
überlassen. Das allein schon macht den Roman lesenswert.
John
von Düffel: Hotel Angst.
Der
kurze Roman – oder die lange Erzählung – scheint thematisch ähnlich zu beginnen
wie Pettersons Buch: Ein Sohn auf den Spuren des Vaters, diesmal in Erinnerung
an gemeinsame Urlaubstage in Italien, doch folgt keine typische Geschichte vom
bundesrepublikanischen Sehnsuchtsort der Nachkriegsjahre, sondern ein Portrait
des Vaters als Träumer. Daheim eher biederer Statistiker, erwacht in ihm
aufgrund des verfallenen Luxushotels Angst aus der Belle Epoque die Sehnsucht
nach der Verwirklichung eines Traums: Die Wiedereröffnung dieses aus der Zeit
gefallenen, den Ort Bordighera beherrschenden Baus mit der faszinierenden
Geschichte und dem ambivalenten Namen – eigentlich nur der des Schweizer
Gründers, aber nicht nur in den Ohren der späteren deutschen, sondern auch der
britischen Gäste der Jahrhundertwende verheißungsvollen Grusel ausstrahlend. Der
in der Gegenwart auf den Spuren seines Vaters wandelnde Sohn erfährt nicht nur
mehr über das nun kaum noch rettbare Gebäude, sondern auch über die Phantasie
des kürzlich Verstorbenen, die vielleicht weniger verschroben war, als es
zuerst erschien. Klug verquicktes Portrait des Vaters und des – tatsächlich
existierenden – Hotels Angst, einfühlsam und spannend erzählt von John von
Düffel (geboren 1966).
Amos
Oz: Unter Freunden.
Mit
dem vor wenigen Monaten verstorbenen Amos Oz (1939-2018) hat Israel einen
seiner profiliertesten Schriftsteller verloren, zugleich eine der international
bekanntesten Stimmen des Landes und, nebenbei, großen Liebhaber, nach
anfänglichen Bedenken, der deutschsprachigen Literatur. Der Band „Unter
Freunden“ versammelt einen Zyklus von kurzen Erzählungen, die aus dem Leben
verschiedener Kibbuzbewohner*innen berichten. Es ist die Zeit des Übergangs von
der idealistischen Gründergeneration zu den pragmatischeren Jüngeren. Auch
hieraus erwachsen hie und da Probleme, doch hauptsächlich sind es, nicht anders
als außerhalb der Kibbuzwelt, die zwischenmenschlichen Konflikte, die in dem
engen und strikt geregelten Kosmos, Sorge bereiten. Sei es zwischen der
verlassenen Ehefrau und ihrer „Nachfolgerin“, seien es verdrängte Jugendlieben,
das anrüchige Zusammenleben von Lehrer und junger Schülerin oder die Sehnsucht
nach den Erfahrungen der Welt. Die Geschichten zeigen, wie einschränkend das
Ideal der Freiheit im Kibbuz, dass Solidarität auch unsolidarisch sein kann,
dass immer Reibungen entstehen, wo Individualität auf ihre Entfaltung besteht.
Mit viel menschlicher Wärme gezeichnete Portraits von Alltagscharakteren.
Pauls
Auster: Leviathan.
Ein
– fast – klassischer Paul Auster (geboren 1947): Der Schriftsteller Peter Aaron
liest durch Zufall die Notiz über eine Person, die sich in Wisconsin in die
Luft gesprengt hat – kein Anschlag, sondern wohl ein Unfall. Aaron ahnt, um wen
es sich handeln könnte und sieht seinen Verdacht durch Recherchen bald
bestätigt. Nur er kennt bislang das Geheimnis seines früheren engen Freundes
Ben Sachs, das er fortan vor der Polizei zu verheimlichen sucht. Stattdessen
fasst er dessen verschlungene Lebensgeschichte, in der er selbst eine nicht
geringe und teils tragische Rolle spielt, als Zeugnis für die Nachwelt in einem
Roman zusammen: Leviathan. Ben Sachs‘ Biographie ist eine Abfolge von fatalen
Zufällen, unerwarteten Wendungen, aufkeimender und absterbender Liebschaften
und des Scheiterns, bis er auf eine noch viel bizarrere und gefährlichere Idee
der Selbstbestätigung verfällt. „Fast“ klassisch ist dieser Auster aus den
frühen 1990er Jahren, da er zwar die gewohnte komplexe Struktur seiner Romane
aufweist, jedoch vergleichsweise klassisch erzählt ist. Oft als Kommentar zu
den Reagan-Jahren gelesen, trägt er zudem für Auster recht deutliche
fatalistische Züge. Ansonsten ist alles wie immer: ein extrem verwickelter
Plot, eine erstaunliche Episode reiht sich an die nächste, das alles auf hohem
Niveau und spannend von der ersten Seite an.
Henry
Fielding: Tom Jones.
Er
liegt eines Tages im Bett des Landadeligen von Alwerth, das Findelkind Tom
Jones. Alwerth, Friedensrichter und bekannt für seine Menschlichkeit, nimmt
sich des Kindes an wie eines eigenen Sohnes – den er nicht hat – und lässt in
gemeinsam mit seinem Neffen Bilfil aufziehen. Doch die beiden Zöglinge sind
sehr unterschiedlicher Natur. Während Bilfil als ein natürlicher Sohn der
Schwester allgemeines Wohlwollen von Beginn an besitzt, muss sich Jones
durchsetzen, etwa gegen den ihn verachtenden Lehrer Klopfstock. Bilfil weiß
seine Voraussetzungen gut zu nutzen, um Jones gegen seinen Onkel auszuspielen,
er beherrscht früh die Kunst der Intrige. Der stetig aufrechte und menschenfreundliche
Tom Jones dagegen gerät durch seine Gutmütigkeit erst recht in die Fallen
menschlicher Zweideutigkeiten, so dass sein Leben sich als ein Verwirrspiel an
Komplikationen, Bedrohungen und verpassten Chancen gestaltet, die ihn bis ins
Gefängnis führt. Und immer weiter entfernt von seiner großen Liebe, Sophie, der
Tochter des benachbarten Landjunkers. Obwohl sie seine Liebe erwidert, scheint
sie chancenlos: Jones ist ein Bastard, nicht von Stand und zudem Opfer der
Spielchen seines Cousins Bilfil, der ebenfalls ein Auge auf Sophie, besser
gesagt deren Vermögen, geworfen hat. Der Roman von über 850 Seiten stammt von
1749 und hat nichts von seiner Lesbarkeit verloren – Fielding (1707-1754) nutzt
das Mittel der Zweideutigkeit, mit der er den Adel und seine Umgangsformen böse
karikiert, in einer äußerst amüsanten sanft sarkastischen Variante.
Überraschend auch, wie frei Fielding etwa die Affären Jones‘ mit anderen Frauen
gleichzeitig mit dem Kampf seines Protagonisten um Sophie schildert, die ihm
von ihr zwar vorgehalten, aber letztlich auch verziehen werden. Immer noch ein
großartiger Spaß – allein die Schilderung des Landjunkers ist jedesmal ein
großes Genuss, seine Reden wunderbar übersetzt.