Freitag, 27. September 2019

Interview auf "BR Heimat".


Eine Rezension zum Buch "50xFranken" und ein dazugehörendes Radio-Interview mit und auf dem Sender "BR Heimat" gibt es morgen, Samstag, 28.09.2019, um 15.05 Uhr zu hören.

Hier der Link zur begleitenden Seite - oben rechts findet sich dann ein weiterer Link zum Anhören der Sendung:

https://www.br.de/radio/br-heimat/sendungen/fraenkische-gschichten/benedikt-grimmler-50-mal-franken-100.html

Aufgenommen wurde das Interview auf der Nürnberger Kaiserburg.

Die Alte Hofhaltung in Bamberg: Schauplatz eines Königsmordes - mehr darüber im Buch!

Donnerstag, 19. September 2019

Simon Winder: Germany, oh Germany. Oder: Winder, oh Winder.



Simon Winder: Germany, Oh Germany.

Hörbranz in Vorarlberg, ein Marktort direkt an der deutsch-österreichischen Grenze, Herbst 2018. Angekommen am weitläufigen Marktplatz in der Mitte des Ortes, betritt man die markante, den Raum beherrschende Dorfkirche. Anders als in den vorherigen Orten der Wanderung ist man hier nicht allein. Eine us-amerikanische Reisegruppe hat, warum genau auch immer, hier Halt gemacht, Zufall oder bestellt, auch der Mesner ist vor Ort. Während er einigen der Gäste bruchstückhafte Erklärungen gibt, von denen nicht klar ist, wie und ob sie verstanden werden, ist der Rest der Gruppe in den Kirchenraum ausgeschwärmt. Alles wird fotografiert – alles. Die Lautstärke der Unterhaltungen entspricht einer lebhaften Podiumsdiskussion. Mit Begeisterung schart sich eine kleine Traube um einen Beichtstuhl, probiert diesen unter aufmunternden und erstaunten Zurufen über das seltsame Ding aus. Nun ist die Kirche von Hörbranz durchaus sehenswert, ohne Zweifel, sie ist aber wiederum kein Glanzstück österreichischer Sakralkunst, sie ist eine gut ausgestattete vorarlbergische Landkirche, nicht mehr, nicht weniger. Die in diesem Moment den Eindruck einer Loriot-Karikatur macht.
Simon Winder (geboren 1963), Lektor beim Penguin-Verlag, ist allerdings Brite und so erwartet man sich einen, wenn es hier schon um grobe Klischees gehen soll, kultiviert-distinguierten Beitrag, mag auch der Ruf angelsächsischer Nüchternheit in letzter Zeit arg gelitten haben. Das Buch ist im Original aber von 2010, die deutsche Übersetzung erfolgte mit großem Erfolg im Jahr darauf, und es ist ja auch ein vielversprechender Ansatz: Es ist immer spannend, zu sehen – beziehungsweise zu lesen – wie jemand von außen das Eigene, hier: Land, wahrnimmt, es eröffnet neue, andere Perspektiven, die im besten Fall zum Denken anregen – oder auch, was ja nicht schlecht ist, zum Widerspruch. Es kommt hinzu, dass Winder verspricht, einen eher humorvollen, jedenfalls nicht trocken-lexikalischen Tonfall anzuschlagen, auch wenn der deutsche Verlag aus dem originalen „persönlichen“ einen „eigensinnigen“ Blick gemacht hat – was immer das sein soll, aber vielleicht ist dies ein Freudscher, vielsagender Irrtum.  
  
Wer kennt sie nicht, den Fernsehturm auf dem Nürnberger Alex und die Magdeburger Frauenkirche? 

„Persönlich“ ist das Vorgehen Winders, da er zumeist von eigenem Erleben ausgeht, von in Deutschland besuchten Orten, die ihm charakteristisch für das Land und seine Einwohner zu sein scheinen. Tatsächlich ist das Buch genau dann immer am besten, wenn er diese anekdotischen Erlebnisse in Museen, Burgen, Kirchen, an Grab- und Denkmälern schildert. Gleichwohl zeigt sich bereits hier ein Manko des Buches: das Repetitive. Nicht in der Beschreibung der Geschehnisse, die mit dem Ort verbunden sind, sondern in Winders ästhetischer Bewertung. Er mag durchaus recht haben in seiner Verachtung für die Architektur des 19. Jahrhunderts. Aber das wissen wir dann spätestens nach der dritten Wiederholung. Auch dass das „Original“ zumeist nicht mehr das Original ist, sondern ein vielfach verändertes, restauriertes Gebäude, hat man schneller begriffen, als einem der Autor das zutraut – und der uns auch nicht verrät, wie es denn anders sein sollte. Darüber hatten sich bekanntlich schon die alten Griechen den Kopf zerbrochen. Deutschlandtypisch ist das Dilemma folglich auch nicht.
Winder schlendert durch das Land und durch seine Geschichte – und so wie man nicht alles ablaufen kann, so fällt das ein der andere im Ablauf heraus, es soll ja auch kein 20bändiges Monumentalwerk, sondern ein handlicher Einblick auf gut 450 Seiten werden. Die Schwierigkeit besteht nun darin, was draußen und was drinnen lassen und ob man eine Art roten Faden beibehalten möchte. Winder ist fasziniert von den barocken Wunderkammern und Kuriositätenkabinetten, und sie nimmt er sich offenkundig als Vorbild für seine Schilderung der deutschen Geschichte. Dass dies nicht gerade originell ist und noch dazu seinem Vorhaben zuwiderläuft, ein besseres Verständnis bei seinen Landsleuten für die Deutschen und ihre Geschichte zu erreichen, ist nur einer von vielen von ihm selbst nie erkannten Widersprüchen in Winders Buch. Dazu passt bestens, dass wie im Kuriositätenkabinett eher das Absonderliche als das Allgemeine, eher das Einzelstück als das Alltägliche und vor allem eher das oberflächlich Erstaunliche als die Suche nach dem Grund präsentiert wird. Hinzu kommt, dass Winder, wie wahrscheinlich viele Besucher eines solchen barocken Sammelsuriums zugleich verwunderte Begeisterung, aber auch ein bisschen Abscheu un inneres Kopfschütteln empfindet. Bestes Beispiel ist Winders wiederkehrende Erwähnung des deutschen Partikularismus, den er, als Abkömmling eines klassischen Zentralstaates, zumeist lächerlich macht, dem er aber auch nette Seiten abgewinnen kann – wobei die Verachtung deutlich überwiegt. Man fragt sich auch, warum die britischen Leser*innen die Deutschen nun sympathischer finden sollten, wenn Winder ihnen immer mit der ihm eigenen Dauerschleifenmentalität verbreitet, dass diese jahrhundertelang von überwiegend schlechten, zumeist verschroben verrückten, jedenfalls fast ausschließlich unfähigen Herrschern im Großen wie im Kleinen und sehr Kleinen regiert wurden. Man mag es durchaus schön finden, dass Winder nicht verklärend die Rosinen herauspickt, aber andererseits findet er dann doch oft nur das verdorbene Obst. Es reiht sich unverbunden Station an Station, Zeit für die Fragen nach dem Warum bleibt nicht, und so ergibt sich ein äußerst unterkomplexes Bild, weil nach Tiefe und Erklärung gar nicht erst gesucht wird. Liest man allerdings Winders Bericht über die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, wo er tatsächlich mal etwas mehr Aufwand betreibt, ist man bald froh, dass er sich sonst diese Mühe nicht macht. Nun gibt es ja schon seit einiger Zeit gerade in Großbritannien eine seltsam anmutende und von deutschen Neorevisionisten dankbar aufgenommene Tendenz, das deutsch-preußische Kaiserreich von Schuld entlasten zu wollen – Winder ist Lektor einschlägiger Autoren wie Christopher Clark und Neill Ferguson – er treibt dies aber fast ins Absurde. Lange lässt er sich darüber aus, wie gut Großbritannien und das Deutsche Reich sich eigentlich hätten verstehen können, Frankreich wäre eigentlich ein viel schlimmerer Akteur des 19. Jahrhunderts und damit sozusagen natürlicher Feind beider gewesen. Das sich die beiden letztlich Verbündeten, scheint im kurios – dass es für beide Demokratien näherliegender war, kommt ihm offenbar nicht in den Sinn. Kein Wunder, er findet zwar die deutsche Liebe zur Uniform bizarr und hält konsequenterweise wie eben alle deutschen Herrscher auch Wilhelm II. für inkompetent bis verrückt, wobei man ihm hier nicht unbedingt widersprechen mag, im gleichen Atemzug schafft er aber den geradezu grotesken Gedankensprung zu der erhellenden Aussage, ein Europa unter deutscher Vorherrschaft ab 1914 sei jedenfalls nicht so schlimm wie ein Europa unter deutscher Vorherrschaft ab 1939. Da stellt sich dann doch die subtile Frage: Wie wäre es mit gar keinem Europa unter deutscher Vorherrschaft? Und welche Regierung ist nicht besser als die deutsche von 1939?
Doch hier betritt man ohnehin äußerst schwankenden Boden. Winders eigene Motivation ist ja nach eigener Aussage, seinen Landsleuten (und allen anderen) zu zeigen, dass Deutschland eben mehr ist als die Nazizeit (ohne diese zu relativieren) – vor dieser bricht er sein Unternehmen dann aus seiner Sicht auch folgerichtig ab. „Dem“ – nämlich die gesamte deutsche Geschichte mit dem Wissen des Nachgeborenen immer auf die Nazizeit zu beziehen – „zu widerstehen, was schwierig, aber notwendig ist, ist Anliegen dieses Buches, sofern es überhaupt eines hat. Es klingt vielleicht frivol, wenn ich sage, dass wir beim Nachdenken über die Deutschen und ihre Geschichte zu oft und zu schnell auf die Nazizeit zu sprechen kommen, aber ich glaube, es ist etwas daran.“ Wenn dies tatsächlich Winders – wie auch immer zu bewertendes – Hauptanliegen war, ist er grandios an sich selbst gescheitert. Da er es sich schließlich nie verkneifen kann, eine Kuriosität zu erwähnen und die Nazis für die ihnen eigene Geschichtsklitterung selbige in hohem Maße produziert haben, schließt Winder so ziemlich jedes Kapitel mit einer Anekdote aus dem „Dritten Reich“ ab. So viel zum Thema keine Linien herstellen von der deutschen Geschichte zu den Nazis und überhaupt mal was anderes zu präsentieren.
Geschichtsklitterung in traditionellem Sinn, also eine manipulierte Aufhübschung der Historie, wie man dies vielleicht bei der ursprünglichen Begründung seines Vorhabens befürchten konnte, betreibt Winder nicht. Einfach, weil er von dem eingefahrenen Schema der Präsentation des Spektakulären nicht abweicht, das schließlich immer das Abseitige vor dem Alltäglichen bevorzugt. Ein verrückter mordlustiger Fürstbischof ist einfach interessanter als ein erfolgreich vor sich hinregierender Reformherrscher. Nun könnte man seine Ansprüche generell recht niedrig schrauben, den auch nicht immer allzu sicheren Umgang mit Fakten ignorieren und sagen, ‚was soll’s, ich hab mich blendend unterhalten‘. Hat man aber nicht. Neben den erwähnten teils äußerst fragwürdigen Thesen, die Winder unterschwellig einfließen lässt, raubt schließlich auch die bald durchschaubare Wiederholungsliebe des Immergleichen in anderem Gewand jegliches Lesevergnügen. Da hätte man doch einfach wieder einen vielleicht staubtrockenen, aber immerhin informativen Lexikon-Artikel lesen können. Vielleicht sogar einen über einen dieser total durchgeknallten deutschen Fürsten.                    
                               

Dienstag, 10. September 2019

Lektüremonat August 2019.



 Joel Dicker: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert.

Schon wieder eine lange Bahnfahrt, und obwohl der Versuch beim letzten Mal gehörig schiefging, wieder der Griff zu einem Bestseller der letzten Jahre. Das Buch des Schweizer französischsprachigen Autors Joel Dicker (geboren 1985) stürmte vor einiger Zeit die Verkaufslisten mit einer Mischung aus Krimi, Künstlerroman und Liebesdrama. Da es um Schriftsteller, genauer Bestsellerautoren geht, ist der Text stets begleitet von einem augenzwinkernden Unterton, Dicker spielt mit der Suggestion, dass wir hier das Ergebnis des Schreibprozesses in Händen halten, dem wir beim Lesen beiwohnen. Wie sich herausstellt, sind es mehrere Schreibprozesse, die auf vielen Opfern, buchstäblichen und metaphorischen, fußen. Im Garten des Schriftstellers Harry Quebert wird die Leiche eines 15jährigen Mädchens gefunden, das vor über 30 Jahren verschwunden war. Mit im Grab: das Originalmanuskript von Queberts Roman, mit dem sein Weltruhm begann. Die Sache scheint klar. Nur Queberts gelehriger Schüler Marcus Goldman, nach fulminantem Debüt in einer Schaffenskrise steckender Autorenkollege, zweifelt an seiner Schuld und nimmt eigene Recherchen auf. Die werden für ihn selbst bald bedrohlich und bald ist nichts mehr so, wie es schien… Auch ist Quebert keineswegs unschuldig. Das Buch ist äußerst gekonnt konstruiert, mit enorm vielen Wendungen, da verzeiht man manche überzeichnete Nebenfigur wie Goldmans Mutter oder seinen Verleger, wird man doch über 700 Seiten ohne Leerlauf spannend unterhalten.




Ian McEwan: Erste Liebe, letzte Riten.

Inzwischen anerkannter britischer Großautor und gefragter Interviewpartner zu gesellschaftliche Themen, sorgte Ian McEwan (geboren 1948) in seinen frühen Jahren mit Texten zu äußerst kontroversen Themen, zumeist aus dem erotischen Bereich, für Aufmerksamkeit. Solche Erzählungen aus den 1970ern versammelt der Band „Erste Liebe, letzte Riten“. Sei es Inzest mit der kleinen Schwester, die beiläufige Ermordung eines jungen Mädchens nach der kurzen Triebbefriedigung, Sex auf der Theaterbühne, aber auch, wie man seine quengelige Freundin mittels eines physikalischen Tricks verschwinden lassen kann oder die Antwort auf die Frage, warum jemand sein Leben gern im Schrank verbirgt. Mal purer Realismus, mal leichte Züge ins Groteske, immer aber eine verzweifelte Einsamkeit. „Normale“ Beziehungen kommen nicht vor, geregeltes Familienleben scheint nicht zu existieren, die Protagonisten der Texte und ihre Mitmenschen leben in unvereinbaren Realitäten, die wenig verheißungsvoll sind. Nicht jede der Geschichten muss man unbedingt gelesen haben, die Grundstimmung des Buches ist allerdings wirkungsvoll beeindruckend.

Andréa de Nerciat: Lolotte.

Pornographie, so Umberto Eco, unterscheide sich von Erotik in Erzähltexten und Filmen durch eine Handlung, die nur darin besteht, von einem Geschlechtsakt zum nächsten überzuleiten und dies möglichst ohne Umschweife. Was für den Verfasser oder die Verfasserin wie eine Erleichterung beim Schreiben klingen mag, wird für Autor*innen des Genres – wie auch für die Leser*innen – schnell zum Problem. Die Aneinanderreihung des Immergleichen wird bald ermüdend, der Versuch, dem durch immer exquisitere Sexualakrobatik entgegenzuwirken nicht selten grotesk bis lächerlich. Insgesamt ist die pornographische Literatur ein äußerst schematisches, wenig innovatives Feld, dem auch gehobene Vertreter*innen auf Dauer wenig Originelles entlocken können – an Versuchen hat es seit der Antike nicht gemangelt. Insgesamt beschränkt sich die Wirkung zumeist auf das rein Biologische. Dies gilt auch für Andréa de Nerciat (1739-1800), einen erfolgreichen Autor aus einer Blütezeit der pornographischen Literatur, dem späten 18. Jahrhundert. ‚Galant‘ war das Attribut jener Romane, die zumeist die Einführung einer jungen Frau in alle Varianten des Liebeslebens schildern. Das hatte durchaus befreiende, aufklärerische Wirkung (in jeglichem Sinn), auch wenn man dies nicht allzu überbewerten dürfte angesichts eines wohl fast ausschließlich höfischen Publikums. Die Elemente von Nerciats Romanen sind zeittypisch: verführte Kammerjungfern, Lustgreise und süße Knaben, dazu nymphomane Nonnen und verdorbene Priester. Nerciat predigt die Schönheit der Wollust, weit entfernt vom Zeitgenossen de Sade. Von der allzu anatomischen Pornographie unserer Tage unterscheidet er sich durch eine mal mehr, mal weniger erfindungsreiche Metaphorik, die Handlung kann man vernachlässigen…

Steve Tesich: Ein letzter Sommer.

„Summer Crossing“ heißt der Roman des früh verstorbenen Steve Tesich (1942-1996) im Original und beide Titel sind so schlicht wie passend. Es ist der letzte Sommer der drei 18jährigen Freunde Daniel, Billy und Larry, der ihnen nach dem High-School-Abschluss vor dem Eintritt ins Berufs- oder Collegeleben bevorsteht. Doch was nach Freiheit klingt, wird bald zum Anlass für Orientierungslosigkeit und Unsicherheit. Was anfangen mit den vielen Möglichkeiten – und wie entscheiden, wenn die Zukunft dadurch für immer festgelegt erscheint? Doch Daniel, der Ich-Erzähler, wird bald feststellen, dass es neben der beängstigenden Freiheit ein gleichzeitig determinierendes Umfeld von Zwängen gibt: die Kleinstadt, die so vertraut und Heimat ist, aber der man auch entfliehen möchte. Die Eltern, die auseinandergelebt, geliebt werden wollen, aber unzugänglich sind. Die Freunde, die immer da waren, aber nun nicht mehr zu halten sind, fortstreben ins Spießertum wie Billy oder ihre Flucht- und Gewaltphantasien umsetzen wie Larry. Und vor allem ist da die erste große Liebe zu Rachel, die Daniel liebt und die ihn liebt, die ihm aber auch stets unverständlich bleibt. Für den 18jährigen ist die Welt seiner Mitmenschen, besonders derjenigen, die er doch durch ihre Nähe besonders gut kennen müsste, undurchschaubar wie seine eigene Gefühlswelt. Er wünscht die Abwesenheit, den Tod des krebskranken Vaters, der ihn liebt, aber auch demütigt – und erkennt schließlich, wie nah ihm dieser war und wie ähnlich. Es war ihr letzter gemeinsamer Sommer. Tesichs präzise, zurückhaltende und äußerst sensible Schilderung dieses kurzen Abschnitts im Leben Daniels ist eine der herausragendsten Leistungen, die bisher in dieser Lektüreliste in diesem Jahr besprochen wurde. Eine melancholische, subtile Geschichte über unaufhaltbare Verluste und die Schwierigkeit, seine Mitmenschen zu deuten. Großartig.

Per Petterson: Pferde stehlen. 

Eine einsame, etwas heruntergekommene Hütte an der schwedisch-norwegischen Grenze sucht sich der 67jährige Trond als aktiven Alterssitz aus. Aus gutem Grund: nicht nur wegen der Landschaft, sondern vor allem in Erinnerung eines Sommeraufenthaltes mit seinem Vater im Jahr 1948, vor über fünfzig Jahren. Jene Tage waren ereignisreich, Tronds Freund Jon wird zum unfreiwilligen Auslöser einer Katastrophe, Trond erfährt einiges über die Vergangenheit seines Vaters als Schmuggler für den Widerstand gegen die deutsche Besatzung, muss aber nach dem Sommer feststellen, dass sein Vater zwar ungeahnte Züge von Heldenhaftigkeit besaß, dass dieser Mensch ihn aber auch zutiefst enttäuschen wird. Pettersons (geboren 1952) Roman scheint zwar oberflächlich typische Skandinavienklischees zu bedienen, er beherrscht aber – neben der Sprache – die hohe Kunst der Andeutungen, vieles wird nicht auserzählt, sondern den Leser*innen überlassen. Das allein schon macht den Roman lesenswert.

John von Düffel: Hotel Angst.  

Der kurze Roman – oder die lange Erzählung – scheint thematisch ähnlich zu beginnen wie Pettersons Buch: Ein Sohn auf den Spuren des Vaters, diesmal in Erinnerung an gemeinsame Urlaubstage in Italien, doch folgt keine typische Geschichte vom bundesrepublikanischen Sehnsuchtsort der Nachkriegsjahre, sondern ein Portrait des Vaters als Träumer. Daheim eher biederer Statistiker, erwacht in ihm aufgrund des verfallenen Luxushotels Angst aus der Belle Epoque die Sehnsucht nach der Verwirklichung eines Traums: Die Wiedereröffnung dieses aus der Zeit gefallenen, den Ort Bordighera beherrschenden Baus mit der faszinierenden Geschichte und dem ambivalenten Namen – eigentlich nur der des Schweizer Gründers, aber nicht nur in den Ohren der späteren deutschen, sondern auch der britischen Gäste der Jahrhundertwende verheißungsvollen Grusel ausstrahlend. Der in der Gegenwart auf den Spuren seines Vaters wandelnde Sohn erfährt nicht nur mehr über das nun kaum noch rettbare Gebäude, sondern auch über die Phantasie des kürzlich Verstorbenen, die vielleicht weniger verschroben war, als es zuerst erschien. Klug verquicktes Portrait des Vaters und des – tatsächlich existierenden – Hotels Angst, einfühlsam und spannend erzählt von John von Düffel (geboren 1966).

Amos Oz: Unter Freunden.

Mit dem vor wenigen Monaten verstorbenen Amos Oz (1939-2018) hat Israel einen seiner profiliertesten Schriftsteller verloren, zugleich eine der international bekanntesten Stimmen des Landes und, nebenbei, großen Liebhaber, nach anfänglichen Bedenken, der deutschsprachigen Literatur. Der Band „Unter Freunden“ versammelt einen Zyklus von kurzen Erzählungen, die aus dem Leben verschiedener Kibbuzbewohner*innen berichten. Es ist die Zeit des Übergangs von der idealistischen Gründergeneration zu den pragmatischeren Jüngeren. Auch hieraus erwachsen hie und da Probleme, doch hauptsächlich sind es, nicht anders als außerhalb der Kibbuzwelt, die zwischenmenschlichen Konflikte, die in dem engen und strikt geregelten Kosmos, Sorge bereiten. Sei es zwischen der verlassenen Ehefrau und ihrer „Nachfolgerin“, seien es verdrängte Jugendlieben, das anrüchige Zusammenleben von Lehrer und junger Schülerin oder die Sehnsucht nach den Erfahrungen der Welt. Die Geschichten zeigen, wie einschränkend das Ideal der Freiheit im Kibbuz, dass Solidarität auch unsolidarisch sein kann, dass immer Reibungen entstehen, wo Individualität auf ihre Entfaltung besteht. Mit viel menschlicher Wärme gezeichnete Portraits von Alltagscharakteren.     
               

Pauls Auster: Leviathan.

Ein – fast – klassischer Paul Auster (geboren 1947): Der Schriftsteller Peter Aaron liest durch Zufall die Notiz über eine Person, die sich in Wisconsin in die Luft gesprengt hat – kein Anschlag, sondern wohl ein Unfall. Aaron ahnt, um wen es sich handeln könnte und sieht seinen Verdacht durch Recherchen bald bestätigt. Nur er kennt bislang das Geheimnis seines früheren engen Freundes Ben Sachs, das er fortan vor der Polizei zu verheimlichen sucht. Stattdessen fasst er dessen verschlungene Lebensgeschichte, in der er selbst eine nicht geringe und teils tragische Rolle spielt, als Zeugnis für die Nachwelt in einem Roman zusammen: Leviathan. Ben Sachs‘ Biographie ist eine Abfolge von fatalen Zufällen, unerwarteten Wendungen, aufkeimender und absterbender Liebschaften und des Scheiterns, bis er auf eine noch viel bizarrere und gefährlichere Idee der Selbstbestätigung verfällt. „Fast“ klassisch ist dieser Auster aus den frühen 1990er Jahren, da er zwar die gewohnte komplexe Struktur seiner Romane aufweist, jedoch vergleichsweise klassisch erzählt ist. Oft als Kommentar zu den Reagan-Jahren gelesen, trägt er zudem für Auster recht deutliche fatalistische Züge. Ansonsten ist alles wie immer: ein extrem verwickelter Plot, eine erstaunliche Episode reiht sich an die nächste, das alles auf hohem Niveau und spannend von der ersten Seite an.  

Henry Fielding: Tom Jones.

Er liegt eines Tages im Bett des Landadeligen von Alwerth, das Findelkind Tom Jones. Alwerth, Friedensrichter und bekannt für seine Menschlichkeit, nimmt sich des Kindes an wie eines eigenen Sohnes – den er nicht hat – und lässt in gemeinsam mit seinem Neffen Bilfil aufziehen. Doch die beiden Zöglinge sind sehr unterschiedlicher Natur. Während Bilfil als ein natürlicher Sohn der Schwester allgemeines Wohlwollen von Beginn an besitzt, muss sich Jones durchsetzen, etwa gegen den ihn verachtenden Lehrer Klopfstock. Bilfil weiß seine Voraussetzungen gut zu nutzen, um Jones gegen seinen Onkel auszuspielen, er beherrscht früh die Kunst der Intrige. Der stetig aufrechte und menschenfreundliche Tom Jones dagegen gerät durch seine Gutmütigkeit erst recht in die Fallen menschlicher Zweideutigkeiten, so dass sein Leben sich als ein Verwirrspiel an Komplikationen, Bedrohungen und verpassten Chancen gestaltet, die ihn bis ins Gefängnis führt. Und immer weiter entfernt von seiner großen Liebe, Sophie, der Tochter des benachbarten Landjunkers. Obwohl sie seine Liebe erwidert, scheint sie chancenlos: Jones ist ein Bastard, nicht von Stand und zudem Opfer der Spielchen seines Cousins Bilfil, der ebenfalls ein Auge auf Sophie, besser gesagt deren Vermögen, geworfen hat. Der Roman von über 850 Seiten stammt von 1749 und hat nichts von seiner Lesbarkeit verloren – Fielding (1707-1754) nutzt das Mittel der Zweideutigkeit, mit der er den Adel und seine Umgangsformen böse karikiert, in einer äußerst amüsanten sanft sarkastischen Variante. Überraschend auch, wie frei Fielding etwa die Affären Jones‘ mit anderen Frauen gleichzeitig mit dem Kampf seines Protagonisten um Sophie schildert, die ihm von ihr zwar vorgehalten, aber letztlich auch verziehen werden. Immer noch ein großartiger Spaß – allein die Schilderung des Landjunkers ist jedesmal ein großes Genuss, seine Reden wunderbar übersetzt.