Simon Winder: Germany, Oh Germany.
Hörbranz
in Vorarlberg, ein Marktort direkt an der deutsch-österreichischen Grenze,
Herbst 2018. Angekommen am weitläufigen Marktplatz in der Mitte des Ortes,
betritt man die markante, den Raum beherrschende Dorfkirche. Anders als in den
vorherigen Orten der Wanderung ist man hier nicht allein. Eine us-amerikanische
Reisegruppe hat, warum genau auch immer, hier Halt gemacht, Zufall oder
bestellt, auch der Mesner ist vor Ort. Während er einigen der Gäste
bruchstückhafte Erklärungen gibt, von denen nicht klar ist, wie und ob sie
verstanden werden, ist der Rest der Gruppe in den Kirchenraum ausgeschwärmt.
Alles wird fotografiert – alles. Die Lautstärke der Unterhaltungen entspricht
einer lebhaften Podiumsdiskussion. Mit Begeisterung schart sich eine kleine
Traube um einen Beichtstuhl, probiert diesen unter aufmunternden und erstaunten
Zurufen über das seltsame Ding aus. Nun ist die Kirche von Hörbranz durchaus
sehenswert, ohne Zweifel, sie ist aber wiederum kein Glanzstück
österreichischer Sakralkunst, sie ist eine gut ausgestattete vorarlbergische
Landkirche, nicht mehr, nicht weniger. Die in diesem Moment den Eindruck einer
Loriot-Karikatur macht.
Simon
Winder (geboren 1963), Lektor beim Penguin-Verlag, ist allerdings Brite und so
erwartet man sich einen, wenn es hier schon um grobe Klischees gehen soll,
kultiviert-distinguierten Beitrag, mag auch der Ruf angelsächsischer
Nüchternheit in letzter Zeit arg gelitten haben. Das Buch ist im Original aber
von 2010, die deutsche Übersetzung erfolgte mit großem Erfolg im Jahr darauf,
und es ist ja auch ein vielversprechender Ansatz: Es ist immer spannend, zu sehen
– beziehungsweise zu lesen – wie jemand von außen das Eigene, hier: Land,
wahrnimmt, es eröffnet neue, andere Perspektiven, die im besten Fall zum Denken
anregen – oder auch, was ja nicht schlecht ist, zum Widerspruch. Es kommt
hinzu, dass Winder verspricht, einen eher humorvollen, jedenfalls nicht
trocken-lexikalischen Tonfall anzuschlagen, auch wenn der deutsche Verlag aus
dem originalen „persönlichen“ einen „eigensinnigen“ Blick gemacht hat – was
immer das sein soll, aber vielleicht ist dies ein Freudscher, vielsagender
Irrtum.
Wer kennt sie nicht, den Fernsehturm auf dem Nürnberger Alex und die Magdeburger Frauenkirche?
„Persönlich“ ist das Vorgehen Winders, da er zumeist von eigenem Erleben ausgeht, von in Deutschland besuchten Orten, die ihm charakteristisch für das Land und seine Einwohner zu sein scheinen. Tatsächlich ist das Buch genau dann immer am besten, wenn er diese anekdotischen Erlebnisse in Museen, Burgen, Kirchen, an Grab- und Denkmälern schildert. Gleichwohl zeigt sich bereits hier ein Manko des Buches: das Repetitive. Nicht in der Beschreibung der Geschehnisse, die mit dem Ort verbunden sind, sondern in Winders ästhetischer Bewertung. Er mag durchaus recht haben in seiner Verachtung für die Architektur des 19. Jahrhunderts. Aber das wissen wir dann spätestens nach der dritten Wiederholung. Auch dass das „Original“ zumeist nicht mehr das Original ist, sondern ein vielfach verändertes, restauriertes Gebäude, hat man schneller begriffen, als einem der Autor das zutraut – und der uns auch nicht verrät, wie es denn anders sein sollte. Darüber hatten sich bekanntlich schon die alten Griechen den Kopf zerbrochen. Deutschlandtypisch ist das Dilemma folglich auch nicht.
Winder
schlendert durch das Land und durch seine Geschichte – und so wie man nicht
alles ablaufen kann, so fällt das ein der andere im Ablauf heraus, es soll ja
auch kein 20bändiges Monumentalwerk, sondern ein handlicher Einblick auf gut
450 Seiten werden. Die Schwierigkeit besteht nun darin, was draußen und was
drinnen lassen und ob man eine Art roten Faden beibehalten möchte. Winder ist
fasziniert von den barocken Wunderkammern und Kuriositätenkabinetten, und sie
nimmt er sich offenkundig als Vorbild für seine Schilderung der deutschen
Geschichte. Dass dies nicht gerade originell ist und noch dazu seinem Vorhaben
zuwiderläuft, ein besseres Verständnis bei seinen Landsleuten für die Deutschen
und ihre Geschichte zu erreichen, ist nur einer von vielen von ihm selbst nie
erkannten Widersprüchen in Winders Buch. Dazu passt bestens, dass wie im
Kuriositätenkabinett eher das Absonderliche als das Allgemeine, eher das
Einzelstück als das Alltägliche und vor allem eher das oberflächlich
Erstaunliche als die Suche nach dem Grund präsentiert wird. Hinzu kommt, dass
Winder, wie wahrscheinlich viele Besucher eines solchen barocken Sammelsuriums
zugleich verwunderte Begeisterung, aber auch ein bisschen Abscheu un inneres
Kopfschütteln empfindet. Bestes Beispiel ist Winders wiederkehrende Erwähnung
des deutschen Partikularismus, den er, als Abkömmling eines klassischen
Zentralstaates, zumeist lächerlich macht, dem er aber auch nette Seiten abgewinnen
kann – wobei die Verachtung deutlich überwiegt. Man fragt sich auch, warum die
britischen Leser*innen die Deutschen nun sympathischer finden sollten, wenn
Winder ihnen immer mit der ihm eigenen Dauerschleifenmentalität verbreitet,
dass diese jahrhundertelang von überwiegend schlechten, zumeist verschroben
verrückten, jedenfalls fast ausschließlich unfähigen Herrschern im Großen wie
im Kleinen und sehr Kleinen regiert wurden. Man mag es durchaus schön finden,
dass Winder nicht verklärend die Rosinen herauspickt, aber andererseits findet
er dann doch oft nur das verdorbene Obst. Es reiht sich unverbunden Station an
Station, Zeit für die Fragen nach dem Warum bleibt nicht, und so ergibt sich
ein äußerst unterkomplexes Bild, weil nach Tiefe und Erklärung gar nicht erst
gesucht wird. Liest man allerdings Winders Bericht über die Zeit vor dem Ersten
Weltkrieg, wo er tatsächlich mal etwas mehr Aufwand betreibt, ist man bald
froh, dass er sich sonst diese Mühe nicht macht. Nun gibt es ja schon seit einiger
Zeit gerade in Großbritannien eine seltsam anmutende und von deutschen
Neorevisionisten dankbar aufgenommene Tendenz, das deutsch-preußische
Kaiserreich von Schuld entlasten zu wollen – Winder ist Lektor einschlägiger
Autoren wie Christopher Clark und Neill Ferguson – er treibt dies aber fast ins
Absurde. Lange lässt er sich darüber aus, wie gut Großbritannien und das
Deutsche Reich sich eigentlich hätten verstehen können, Frankreich wäre
eigentlich ein viel schlimmerer Akteur des 19. Jahrhunderts und damit sozusagen
natürlicher Feind beider gewesen. Das sich die beiden letztlich Verbündeten,
scheint im kurios – dass es für beide Demokratien näherliegender war, kommt ihm
offenbar nicht in den Sinn. Kein Wunder, er findet zwar die deutsche Liebe zur
Uniform bizarr und hält konsequenterweise wie eben alle deutschen Herrscher
auch Wilhelm II. für inkompetent bis verrückt, wobei man ihm hier nicht unbedingt
widersprechen mag, im gleichen Atemzug schafft er aber den geradezu grotesken
Gedankensprung zu der erhellenden Aussage, ein Europa unter deutscher
Vorherrschaft ab 1914 sei jedenfalls nicht so schlimm wie ein Europa unter
deutscher Vorherrschaft ab 1939. Da stellt sich dann doch die subtile Frage:
Wie wäre es mit gar keinem Europa unter deutscher Vorherrschaft? Und welche
Regierung ist nicht besser als die deutsche von 1939?
Doch
hier betritt man ohnehin äußerst schwankenden Boden. Winders eigene Motivation
ist ja nach eigener Aussage, seinen Landsleuten (und allen anderen) zu zeigen,
dass Deutschland eben mehr ist als die Nazizeit (ohne diese zu relativieren) –
vor dieser bricht er sein Unternehmen dann aus seiner Sicht auch folgerichtig
ab. „Dem“ – nämlich die gesamte deutsche Geschichte mit dem Wissen des
Nachgeborenen immer auf die Nazizeit zu beziehen – „zu widerstehen, was
schwierig, aber notwendig ist, ist Anliegen dieses Buches, sofern es überhaupt
eines hat. Es klingt vielleicht frivol, wenn ich sage, dass wir beim Nachdenken
über die Deutschen und ihre Geschichte zu oft und zu schnell auf die Nazizeit
zu sprechen kommen, aber ich glaube, es ist etwas daran.“ Wenn dies tatsächlich
Winders – wie auch immer zu bewertendes – Hauptanliegen war, ist er grandios an
sich selbst gescheitert. Da er es sich schließlich nie verkneifen kann, eine
Kuriosität zu erwähnen und die Nazis für die ihnen eigene Geschichtsklitterung
selbige in hohem Maße produziert haben, schließt Winder so ziemlich jedes
Kapitel mit einer Anekdote aus dem „Dritten Reich“ ab. So viel zum Thema keine
Linien herstellen von der deutschen Geschichte zu den Nazis und überhaupt mal
was anderes zu präsentieren.
Geschichtsklitterung
in traditionellem Sinn, also eine manipulierte Aufhübschung der Historie, wie
man dies vielleicht bei der ursprünglichen Begründung seines Vorhabens
befürchten konnte, betreibt Winder nicht. Einfach, weil er von dem
eingefahrenen Schema der Präsentation des Spektakulären nicht abweicht, das
schließlich immer das Abseitige vor dem Alltäglichen bevorzugt. Ein verrückter
mordlustiger Fürstbischof ist einfach interessanter als ein erfolgreich vor
sich hinregierender Reformherrscher. Nun könnte man seine Ansprüche generell
recht niedrig schrauben, den auch nicht immer allzu sicheren Umgang mit Fakten
ignorieren und sagen, ‚was soll’s, ich hab mich blendend unterhalten‘. Hat man
aber nicht. Neben den erwähnten teils äußerst fragwürdigen Thesen, die Winder
unterschwellig einfließen lässt, raubt schließlich auch die bald durchschaubare
Wiederholungsliebe des Immergleichen in anderem Gewand jegliches Lesevergnügen.
Da hätte man doch einfach wieder einen vielleicht staubtrockenen, aber immerhin
informativen Lexikon-Artikel lesen können. Vielleicht sogar einen über einen
dieser total durchgeknallten deutschen Fürsten.
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