Donnerstag, 19. September 2019

Simon Winder: Germany, oh Germany. Oder: Winder, oh Winder.



Simon Winder: Germany, Oh Germany.

Hörbranz in Vorarlberg, ein Marktort direkt an der deutsch-österreichischen Grenze, Herbst 2018. Angekommen am weitläufigen Marktplatz in der Mitte des Ortes, betritt man die markante, den Raum beherrschende Dorfkirche. Anders als in den vorherigen Orten der Wanderung ist man hier nicht allein. Eine us-amerikanische Reisegruppe hat, warum genau auch immer, hier Halt gemacht, Zufall oder bestellt, auch der Mesner ist vor Ort. Während er einigen der Gäste bruchstückhafte Erklärungen gibt, von denen nicht klar ist, wie und ob sie verstanden werden, ist der Rest der Gruppe in den Kirchenraum ausgeschwärmt. Alles wird fotografiert – alles. Die Lautstärke der Unterhaltungen entspricht einer lebhaften Podiumsdiskussion. Mit Begeisterung schart sich eine kleine Traube um einen Beichtstuhl, probiert diesen unter aufmunternden und erstaunten Zurufen über das seltsame Ding aus. Nun ist die Kirche von Hörbranz durchaus sehenswert, ohne Zweifel, sie ist aber wiederum kein Glanzstück österreichischer Sakralkunst, sie ist eine gut ausgestattete vorarlbergische Landkirche, nicht mehr, nicht weniger. Die in diesem Moment den Eindruck einer Loriot-Karikatur macht.
Simon Winder (geboren 1963), Lektor beim Penguin-Verlag, ist allerdings Brite und so erwartet man sich einen, wenn es hier schon um grobe Klischees gehen soll, kultiviert-distinguierten Beitrag, mag auch der Ruf angelsächsischer Nüchternheit in letzter Zeit arg gelitten haben. Das Buch ist im Original aber von 2010, die deutsche Übersetzung erfolgte mit großem Erfolg im Jahr darauf, und es ist ja auch ein vielversprechender Ansatz: Es ist immer spannend, zu sehen – beziehungsweise zu lesen – wie jemand von außen das Eigene, hier: Land, wahrnimmt, es eröffnet neue, andere Perspektiven, die im besten Fall zum Denken anregen – oder auch, was ja nicht schlecht ist, zum Widerspruch. Es kommt hinzu, dass Winder verspricht, einen eher humorvollen, jedenfalls nicht trocken-lexikalischen Tonfall anzuschlagen, auch wenn der deutsche Verlag aus dem originalen „persönlichen“ einen „eigensinnigen“ Blick gemacht hat – was immer das sein soll, aber vielleicht ist dies ein Freudscher, vielsagender Irrtum.  
  
Wer kennt sie nicht, den Fernsehturm auf dem Nürnberger Alex und die Magdeburger Frauenkirche? 

„Persönlich“ ist das Vorgehen Winders, da er zumeist von eigenem Erleben ausgeht, von in Deutschland besuchten Orten, die ihm charakteristisch für das Land und seine Einwohner zu sein scheinen. Tatsächlich ist das Buch genau dann immer am besten, wenn er diese anekdotischen Erlebnisse in Museen, Burgen, Kirchen, an Grab- und Denkmälern schildert. Gleichwohl zeigt sich bereits hier ein Manko des Buches: das Repetitive. Nicht in der Beschreibung der Geschehnisse, die mit dem Ort verbunden sind, sondern in Winders ästhetischer Bewertung. Er mag durchaus recht haben in seiner Verachtung für die Architektur des 19. Jahrhunderts. Aber das wissen wir dann spätestens nach der dritten Wiederholung. Auch dass das „Original“ zumeist nicht mehr das Original ist, sondern ein vielfach verändertes, restauriertes Gebäude, hat man schneller begriffen, als einem der Autor das zutraut – und der uns auch nicht verrät, wie es denn anders sein sollte. Darüber hatten sich bekanntlich schon die alten Griechen den Kopf zerbrochen. Deutschlandtypisch ist das Dilemma folglich auch nicht.
Winder schlendert durch das Land und durch seine Geschichte – und so wie man nicht alles ablaufen kann, so fällt das ein der andere im Ablauf heraus, es soll ja auch kein 20bändiges Monumentalwerk, sondern ein handlicher Einblick auf gut 450 Seiten werden. Die Schwierigkeit besteht nun darin, was draußen und was drinnen lassen und ob man eine Art roten Faden beibehalten möchte. Winder ist fasziniert von den barocken Wunderkammern und Kuriositätenkabinetten, und sie nimmt er sich offenkundig als Vorbild für seine Schilderung der deutschen Geschichte. Dass dies nicht gerade originell ist und noch dazu seinem Vorhaben zuwiderläuft, ein besseres Verständnis bei seinen Landsleuten für die Deutschen und ihre Geschichte zu erreichen, ist nur einer von vielen von ihm selbst nie erkannten Widersprüchen in Winders Buch. Dazu passt bestens, dass wie im Kuriositätenkabinett eher das Absonderliche als das Allgemeine, eher das Einzelstück als das Alltägliche und vor allem eher das oberflächlich Erstaunliche als die Suche nach dem Grund präsentiert wird. Hinzu kommt, dass Winder, wie wahrscheinlich viele Besucher eines solchen barocken Sammelsuriums zugleich verwunderte Begeisterung, aber auch ein bisschen Abscheu un inneres Kopfschütteln empfindet. Bestes Beispiel ist Winders wiederkehrende Erwähnung des deutschen Partikularismus, den er, als Abkömmling eines klassischen Zentralstaates, zumeist lächerlich macht, dem er aber auch nette Seiten abgewinnen kann – wobei die Verachtung deutlich überwiegt. Man fragt sich auch, warum die britischen Leser*innen die Deutschen nun sympathischer finden sollten, wenn Winder ihnen immer mit der ihm eigenen Dauerschleifenmentalität verbreitet, dass diese jahrhundertelang von überwiegend schlechten, zumeist verschroben verrückten, jedenfalls fast ausschließlich unfähigen Herrschern im Großen wie im Kleinen und sehr Kleinen regiert wurden. Man mag es durchaus schön finden, dass Winder nicht verklärend die Rosinen herauspickt, aber andererseits findet er dann doch oft nur das verdorbene Obst. Es reiht sich unverbunden Station an Station, Zeit für die Fragen nach dem Warum bleibt nicht, und so ergibt sich ein äußerst unterkomplexes Bild, weil nach Tiefe und Erklärung gar nicht erst gesucht wird. Liest man allerdings Winders Bericht über die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, wo er tatsächlich mal etwas mehr Aufwand betreibt, ist man bald froh, dass er sich sonst diese Mühe nicht macht. Nun gibt es ja schon seit einiger Zeit gerade in Großbritannien eine seltsam anmutende und von deutschen Neorevisionisten dankbar aufgenommene Tendenz, das deutsch-preußische Kaiserreich von Schuld entlasten zu wollen – Winder ist Lektor einschlägiger Autoren wie Christopher Clark und Neill Ferguson – er treibt dies aber fast ins Absurde. Lange lässt er sich darüber aus, wie gut Großbritannien und das Deutsche Reich sich eigentlich hätten verstehen können, Frankreich wäre eigentlich ein viel schlimmerer Akteur des 19. Jahrhunderts und damit sozusagen natürlicher Feind beider gewesen. Das sich die beiden letztlich Verbündeten, scheint im kurios – dass es für beide Demokratien näherliegender war, kommt ihm offenbar nicht in den Sinn. Kein Wunder, er findet zwar die deutsche Liebe zur Uniform bizarr und hält konsequenterweise wie eben alle deutschen Herrscher auch Wilhelm II. für inkompetent bis verrückt, wobei man ihm hier nicht unbedingt widersprechen mag, im gleichen Atemzug schafft er aber den geradezu grotesken Gedankensprung zu der erhellenden Aussage, ein Europa unter deutscher Vorherrschaft ab 1914 sei jedenfalls nicht so schlimm wie ein Europa unter deutscher Vorherrschaft ab 1939. Da stellt sich dann doch die subtile Frage: Wie wäre es mit gar keinem Europa unter deutscher Vorherrschaft? Und welche Regierung ist nicht besser als die deutsche von 1939?
Doch hier betritt man ohnehin äußerst schwankenden Boden. Winders eigene Motivation ist ja nach eigener Aussage, seinen Landsleuten (und allen anderen) zu zeigen, dass Deutschland eben mehr ist als die Nazizeit (ohne diese zu relativieren) – vor dieser bricht er sein Unternehmen dann aus seiner Sicht auch folgerichtig ab. „Dem“ – nämlich die gesamte deutsche Geschichte mit dem Wissen des Nachgeborenen immer auf die Nazizeit zu beziehen – „zu widerstehen, was schwierig, aber notwendig ist, ist Anliegen dieses Buches, sofern es überhaupt eines hat. Es klingt vielleicht frivol, wenn ich sage, dass wir beim Nachdenken über die Deutschen und ihre Geschichte zu oft und zu schnell auf die Nazizeit zu sprechen kommen, aber ich glaube, es ist etwas daran.“ Wenn dies tatsächlich Winders – wie auch immer zu bewertendes – Hauptanliegen war, ist er grandios an sich selbst gescheitert. Da er es sich schließlich nie verkneifen kann, eine Kuriosität zu erwähnen und die Nazis für die ihnen eigene Geschichtsklitterung selbige in hohem Maße produziert haben, schließt Winder so ziemlich jedes Kapitel mit einer Anekdote aus dem „Dritten Reich“ ab. So viel zum Thema keine Linien herstellen von der deutschen Geschichte zu den Nazis und überhaupt mal was anderes zu präsentieren.
Geschichtsklitterung in traditionellem Sinn, also eine manipulierte Aufhübschung der Historie, wie man dies vielleicht bei der ursprünglichen Begründung seines Vorhabens befürchten konnte, betreibt Winder nicht. Einfach, weil er von dem eingefahrenen Schema der Präsentation des Spektakulären nicht abweicht, das schließlich immer das Abseitige vor dem Alltäglichen bevorzugt. Ein verrückter mordlustiger Fürstbischof ist einfach interessanter als ein erfolgreich vor sich hinregierender Reformherrscher. Nun könnte man seine Ansprüche generell recht niedrig schrauben, den auch nicht immer allzu sicheren Umgang mit Fakten ignorieren und sagen, ‚was soll’s, ich hab mich blendend unterhalten‘. Hat man aber nicht. Neben den erwähnten teils äußerst fragwürdigen Thesen, die Winder unterschwellig einfließen lässt, raubt schließlich auch die bald durchschaubare Wiederholungsliebe des Immergleichen in anderem Gewand jegliches Lesevergnügen. Da hätte man doch einfach wieder einen vielleicht staubtrockenen, aber immerhin informativen Lexikon-Artikel lesen können. Vielleicht sogar einen über einen dieser total durchgeknallten deutschen Fürsten.                    
                               

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