Dienstag, 29. September 2020

Das neue Buch: Lost & Dark Places Franken.

Dieses Mal geht die Reise zu den dunklen, schaurigen, vergessenen und verlotterten Orten Frankens.

 Wer einmal unter einem Galgen stehen, sich zum Grab kindermordender Adliger oder Köchinnen oder doch lieber einer Prophetin begeben, wer auf alten Gleisen vor verramschten Bahnhöfen, heruntergekommenen Burgruinen oder verlassenen Grenzstationen verweilen oder auf ungepflegten Friedhöfen spazieren möchte, der findet in dem Buch allerlei Anregungen. Komplett verschwundene Dörfer, vor sich hin modernde Kirchen, leere Schwimmbäder, Kasernen und Bunkeranlagen, zerbröselnde Fabriken und Burgen mit unglückseligem Schicksal warten auf zahlreiche Besucher*innen mit Hang zum Gruseln, Melancholie oder die einfach nur neugierig sind auf Entdeckungen der etwas anderen Art. 

Mit jeweils genauen Ortsangaben, der Geschichte hinter dem Ort und als Bonus pro Kapitel ein besonderer Tipp. 

Benedikt Grimmler: Lost & Dark Places Franken. 33 vergessene, verlassene und unheimliche Orte. München: 2020.  

Erhältlich im Buchhandel, im Internet oder hier direkt beim Verlag:

https://verlagshaus24.de/lost-dark-places-franken     


Aus dem Inhalt:

 

Pilatus und die Alchimisten 

Hausen und Schloss Scharfeneck

Ausgefeiert

Der Gasthof Großrehmühle

Sprengstoff in der »Zuckerfabrik«

Das Munitionsdepot Breitengüßbach

Die nachgeholte Zerstörung

Burgruine Leonrod

Abmarsch

Die Kaserne Ebern

Das ungeschminkte Gotteshaus

Franziskanerklosterkirche Ellingen

Die versiegte Quelle

Das Versandkaufhaus Quelle

Das zerstörte Karussell

Die Steinachtalbahn

Ein Ort mit großer Ausstrahlung

Uranbergwerk Großschloppen

Hier starb ein Gespenst

Die Marter der Weißen Frau

Endstation

Die Bahnlokschuppen Hof und Bamberg

Balthasar Neumanns Albtraum

Gut Hummendorf

Die spurlos verschwundenen Dörfer

Kirchheim und Leuchnitz

Schlachten mit Stil

Schlachthof Bad Kissingen

Ehrenvoll verwildert

Der alte Friedhof in Kulmbach

Hängt ihn höher!

Der Kupferberger Galgen

Die grausamen Frauen von Lauenstein

Das Köchinnengrab

Klinisch tot

Das alte Klinikum Lichtenfels

Gott erhalt’s

Die Malzfabrik Maineck

Zersägt

Das Sägewerk Markt Bibart

In der Finsteren Gasse

In Münnerstadt

Der Pfarrer im Sündereck

Ulmers Grab in Nemmersdorf

Kohlegrube, Kinderheim, Kaserne

Das Schwimmbad Minna

Abserviert

Gasthaus Krone Obernzenn und Brauerei Obendorfer Weismain

… Kontrolle ist besser

Grenzbahnhof Schirnding

Die gottlose Kirche

Christkönigskirche Schwarzenbach/Saale

Der Bunker von nebenan

Hochbunker in Schweinfurt

Gemetzel im Nirgendwo

 Die Schlacht von Seybothenreuth

Der versteckte Schatz

Burgruine Speckfeld

Natur und Verfall

Das Steinachtal

Das Grab der Prophetin

            Das Grab der Sibylla Weiß

Die Letzte ihrer Art

            Hexenverfolgung in Unterzell

Die verspätete Ruine

            Das Renaissanceschloss in Wässerndorf

Im Kloster der letzten fränkischen Hexe. 

 

 

Mittwoch, 23. September 2020

Moritz Schlick - Philosoph des Wiener Kreises.

 

Moritz Schlick war der Kopf des Wiener Kreises, der in Wien die Grundlagen der Analytischen Philosophie legte. 1936 wurde er ermordet. Ein Portrait.


 

Moritz Schlick war kein gebürtiger Österreicher (er war 1882 in Berlin geboren worden) und doch der Kopf des sogenannten Wiener Kreises, der für eine ganz bestimmte Richtung der österreichischen Philosophie steht, der Beschäftigung mit der Sprache, und der in Folge vor allem im angelsächsischen Raum starke Wirkungen zeigte (was teilweise allerdings den politischen Umständen geschuldet war).

 

Der Wechsel vom Physiker zum Philosophen

 

Schlick, Sohn eines Fabrikbesitzers und Nachfahre des Dichters Ernst Moritz Arndt, studierte anfangs Physik bei Max Planck in Berlin und übernahm im Anschluß einen Lehrauftrag an der Universität Rostock. 1922 wechselte er in die österreichische Hauptstadt Wien, wo er eine Stelle an der philosophischen Fakultät bekam. Wiederum zwei Jahre später wurde dort unter seiner Leitung regelmäßig an Donnerstagabenden zu noch informellen Gesprächsrunden eingeladen, aus denen sich dann der erwähnte „Wiener Kreis“ bildete und aus dem auch der „Verein Ernst Mach“ (1928) hervorging.

 

Der Wiener Kreis und der Verein Ernst Mach

 

Dieser Zusammenschluß in der Tradition des nach ihm benannten Physikerphilosophen Mach sollte sich vor allem um die Publikmachung der besprochenen Ideen in der Öffentlichkeit kümmern, zu diesem Zweck wurde außerdem eine Zeitschrift herausgebracht. Führende Teilnehmer des Zirkels waren neben Schlick Rudolf Carnap und Otto Neurath, dazu weitere Philosophen und Naturwissenschaftler, aber auch Ökonomen und Juristen.

 

Das Ende des Vereins und die Ermordung Moritz Schlicks

 

Trotz der in einem Brief geäußerten Sympathie für das neue austrofaschistische System des Kanzlers Engelbert Dollfuß kann Schlick nicht verhindern, dass der Verein Ernst Mach 1934 aufgehoben wird. Am 22.Juni 1936 wird Moritz Schlick beim Betreten der Universität Wien auf der sogenannten „Philosophenstiege“ von einem ehemaligen Studenten erschossen. Die Motive Mörders bleiben im Dunklen, Geistesgestörtheit, philosophische Differenzen und politische Gründe wurden als Ursachen ins Feld geführt. Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme im März 1938 auch in Österreich zerstreuten sich die Mitglieder des „Wiener Kreises“ endgültig als Emigranten in alle Welt – was sich, wie erwähnt, immerhin fruchtbar auf die Verbreitung ihrer Ansichten ausgewirkt haben mag, wenn man diesem traurigen Schicksal denn etwas Positives abgewinnen möchte.

 

Philosophie als positivistische Wissenschaft

 

Obwohl die Gruppe aus überaus unterschiedlichen Charakteren bestand und auch in ihren Ansichten nicht immer Homogenität aufwies, so einte doch die Mitglieder ein entscheidender Grundzug: die Anti-Metaphysik und daraus resultierend die Schaffung einer Philosophie auf wissenschaftlicher, das heißt auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfbarer Basis. Programmatisch festgelegt wurde dies unter anderem in der Zeitschrift „Wissenschaftliche Weltauffassung – Der Wiener Kreis“: die Philosophie habe sich „auf erkenntnistheoretische, logische und sprachkritische Analysen zu beschränken. Ihre Erkenntnisquelle ist die Erfahrung, ihre Methode die der logischen Analyse, ihr Ziel eine Einheitswissenschaft, die sich am Modell der Naturwissenschaft orientiert und von dort auch auf die Sozial- und Geisteswissenschaften übertragen wird. Alle Fragen, die den strengen Sinn- und Verifikationskriterien einer solchen Konzeption nicht genügen, werden aus der Philosophie entfernt“ (nach Kampits – siehe Literaturverzeichnis).

Merkmal dieser neuen Variante der Philosophie, die sich vor allem mit der Sprache auseinandersetzt, ist eine starke Berufung auf die Empirie; Wirklichkeit ist für Schlick das, was wir mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden feststellen können und auch ohne unsere Wahrnehmung existiert (was sich gegen Ernst Mach richtet). Rudolf Carnap geht noch weiter, indem er alle von der Metaphysik behandelten Fragen als Scheinprobleme bezeichnet, die nie einer Verifikation standhalten könnten. Sie entziehen sich jedweder logischen Aussage und gehören somit eher in den Bereich der Poesie und des Lebensgefühls.     

 

Die Kritik Wittgensteins und Poppers

 

Die ausgeprägte Wissenschaftsgläubigkeit des Wiener Kreises und die radikale Verurteilung der Metaphysik führten zu heftiger Kritik und auch Ablehnung. Wittgenstein, zu dem die Mitglieder, allen voran Schlick, stets Kontakt suchten, da er einige verwandte Ideen hatte, wollte sich nicht auf die einseitige wissenschaftliche Grundlegung der Philosophie einlassen. Der junge Karl Popper, der ebenfalls lose mit dem Zirkel in Verbindung stand, geriet in immer stärkere Opposition zu dessen Denken, indem er der Gruppe vorwarf, mit der Beschränkung auf empirisch lösbare Probleme die unbequemen Fragen nach dem Sinn aus dem Weg zu gehen. Tatsächlich gerät eine Philosophie nach den Kriterien des Wiener Kreises in Gefahr, ihre eigentlichen Grundlagen, nämlich „unsere Lebensfragen“ (Wittgenstein) aus ihrem Bereich zu verbannen und damit zu einer recht blutleeren Philosophiewissenschaft auf Basis empirischer Überprüfbarkeit zu verkommen.

 

Vereinbarkeit von Logik und Ethik?

 

Moritz Schlick war nicht konsequent in der reinen Beschäftigung mit Fragen der Logik und Erkenntnistheorie. Nebenbei interessierte er sich seit seiner Jugend für Fragen der Ethik, die er auch in einigen Schriften niederlegte, die einen etwas unzeitgemäß erscheinenden Optimismus offenbaren. Instanz für Handeln und Urteilen soll vor allem das Gefühl sein, sittlich frei ist, wer ohne jeden Zwang nach seinen Wünschen leben kann. Ideal dieses Zustandes ist die Jugend, die der Unschuld größtmögliche Freiheit bietet, „tragische Ironie des Schicksals (…), daß Schlick (…) von einem jungen Menschen ermordet wurde“ – so Peter Kampits.        

 

Literatur: 

Moritz Schlick: Fragen der Ethik. Frankfurt/Main: 1984.

Peter Kampits: Zwischen Schein und Wirklichkeit. Eine kleine Geschichte der Österreichischen Philosophie. Wien: 1984.

    

                                                                                                                              

 

Dienstag, 8. September 2020

Lektüremonat August 2020.

 

Markus Nummi: Bonbontag.


Man merkt dem finnischen Autor Markus Nummi (geboren 1959) an, dass er auch Drehbücher verfasst – nicht nur, weil er einen ziemlich erfolglosen Autoren von Filmskripten zum indirekten Sprachrohr seines Romans macht, der als Erzählersuggestion gewissermaßen uns den Gang der Geschichte „vor“-schreibt. Zugleich ist er jedoch einer der zahlreichen Protagonisten des Textes, der – hier kommt die filmische Sichtweise stark zum Tragen – von vielen schnellen Perspektivwechseln lebt. Dies erleichtert anfangs nicht gerade den Zugang, insbesondere, da die Sprünge nicht nur recht abrupt, sondern vor allem, weil sie in der Innensicht vor sich gehen. Hat man dann aber mit der sich vergrößernden Informationen einmal die Personen und Handlungsstränge, die sich immer mehr verweben, einigermaßen geordnet, entwickelt sich eine spannende Handlung um vernachlässigte und misshandelte Kinder, die sich mühsam in der Welt der Erwachsenen zurechtfinden müssen, die ihnen bestenfalls unfreundlich, schlimmstenfalls gewalttätig begegnet – dass es gerade diejenigen sind, die man am liebsten hat, die Eltern, wirkt auf sie naturgemäß noch verstörender. So flüchtet sich Tomi, dessen geschiedene Eltern sich für ihn nicht zuständig fühlen, in Phantasiewelten, in denen er das Nachbarmädchen befreit, dass von seiner überforderten und desinteressierten alleinerziehenden Mutter tagelang in der Wohnung eingesperrt wird. Aber in der realen Welt ist das nicht so einfach. Er hängt sich a den ihm völlig unbekannten Ari – den Drehbuchautoren –, der auch nicht recht weiß, wie er mit der Situation umgehen soll. Denn da ist auch noch das Jugend- und Sozialamt, wo sich bei den – durchaus engagierten – Mitarbeiter*innen die verschiedenen Meldungen nur ganz langsam zu einem Gesamtbild zusammenfügen, bis sie eingreifen können. Da ist es schon fast zu spät. Ob diese kolportagehafte Form dem wichtigen Thema gerecht wird, sei dahingestellt. Nummi gibt der Kindersicht viel Raum, die Perspektivenwechsel ermöglichen ihm diverse Blickwinkel, die er jedoch nicht immer ausreichend nutzt. Die alleinerziehende Mutter etwa ist zu einseitig gefühlskalt und manipulativ gezeichnet. Insgesamt aber immerhin ein Versuch, sich der komplexen Thematik auf eine innovative Weise anzunähern.

 

Birgit Heiderich: Mit geschlossenen Augen.

Die Tagebucheintragungen Birgit Heiderichs (geboren 1947), die nur wenige Monate (August 1977 bis Mai 1978) umfassen, veröffentliche kurz darauf der Suhrkamp Verlag. Auf die berechtigte Frage ‚Warum?‘ kann man aus heutiger Sicht eigentlich nur noch antworten, weil diese Art ‚authentischer‘ Literatur der Selbstbefragung damals hoch im Trend lag. Weder war Heiderich damals eine prominente Person, der Einsichten öffentliches Interesse gehabt hätten, noch war sie, obwohl damals in der Hauptstadt Bonn lebend, eine Chronistin der damaligen Zeitumstände – der in jene Monate fallende ‚Deutsche Herbst‘ wird nur beiläufig erwähnt. Die Eintragungen beschäftigen sich hauptsächlich mit Beziehungsproblemen, Versagensängsten bei der literarischen Arbeit und einem bevorstehenden Umzug nach Tübingen, der ebenfalls Sorge bereitet. Man mag die sexuelle Freiheit, die sich Heiderich nimmt, als Ausdruck eines emanzipierteren Lebens und feministischer Stärke interpretieren, wäre sie nicht stets von ihren hochtrabenden Verliebtheitsgefühlen begleitet, die eher an die Gefühlsschwankungen unsicherer Teenager erinnern. Im Grunde ist man dankbar dafür, dass nur wenige Monate beschrieben werden. Bei allem Respekt vor dem Mut zur Selbstentblößung ist das Buch nur ein weiteres schreckliches Beispiel der noch viel schrecklicheren Periode der ‚Inneren Subjektivität‘.   

 

Greifbuch.

Ein Greif kommt in dem Buch erstaunlicherweise gar nicht vor, am nächsten käme dem noch die geflügelte Halbweltdame aus Angela Carters Erzählung „Fevvers“, doch ist das antike Sagenwesen bekanntlich das Wappentier des altehrwürdigen Klett-Cotta-Verlages, der diese Anthologie anno 1987 herausgab. Dementsprechend ist das Spektrum des hier Versammelten ziemlich weit – eben alle Bereiche des Verlagsprogramms repräsentierend. Von Gedichten Gottfried Benns über zahlreiche Kurzgeschichten, Romanausschnitten, Erzählungen aus Europa und den USA über gehobene Fantasy bis hin zu Sachbuchtexten. Über die Krux von Anthologien – ihre oft, natürlich teils vom Geschmack abhängige – inhärente Durchschnittlichkeit haben wir schon öfter aus gegebenem Anlass geschrieben, weshalb diese Auswahl aufgrund ihrer quasi erschwerten Bedingungen – es fehlt ein übergreifendes Themenfeld – angenehm positiv überrascht. Sicher, es gibt den ein oder anderen Text, der einem weniger behagt, aber insgesamt ist eine sehr gute, äußerst lesbare Sammlung von Texten entstanden, die tatsächlich erstens den Verlag mit all seinen Facetten bestens vorstellt und zweitens Lust auf weitere Lektüre macht. Der Anspruch des Untertitels „Lesen beflügelt“ wurde folglich verwirklicht.     

 

Catherine Breillat: Pornocratie.

Im Zusammenhang mit Virginie Despentes erwähnten wir kürzlich die Generation französischer Schriftstellerinnen, die in den 1990er Jahren mit einer Welle explizit obszöner Romane mit feministischer Ausrichtung für Aufregung sorgten. Gegen Catherine Breillat (geboren 1948) wirkten

diese Autorinnen allerdings wie Waisenmädchen beziehungsweise Waisennichten, denn die Regisseurin und Schriftstellerin hatte lange Zeit und stilbildend dieses Thema weitaus radikaler aufgegriffen, sie nahm – und nimmt – in ihren Filmen und Texten kein Blatt vor den Mund und buchstäblich auch nicht vor die Geschlechtsteile. So erwartungsgemäß auch ihrer Erzählung „Pornocratie“ einem Kammerspiel im wahrsten Sinne des Wortes. Ein junges Mädchen am Übergang zur Frau sucht sich in einer Homosexuellenbar einen jungen Mann heraus, dem sie Geld dafür bietet, dass er einige Tage mit ihr in einem einsamen Landhaus am Meer verbringt. Seine Aufgabe ist lediglich, ihren nackten Körper zu betrachten. Mithilfe dieser experimentellen Kombination eines Mannes, der einerseits in der Blüte seiner sexuellen Aktivität, andererseits aber an Frauen nicht interessiert ist und dem jungen Mädchen, das einen begehrenswerten Körper besitzt, lotet Breillat das Verhältnis von Mann und frau auf verschiedenen Ebenen aus. Die Anspielungen sind zahlreich: von der Mythologie der Geschlechter – aber vor allem der Geschlechtsteile –, psychologische, und psychoanalytische Motive und biologische Grenzen, feministische Theorien. Abstoßung und Anziehung, auch die Frage, wer hier wem mehr ausgeliefert ist, was ist reiner Trieb, was Verführung, was Attraktion, was Liebe, all das verhandelt Breillat – in der ihr eigenen ungeschminkten Sprache. Es gibt einen Satz im Text, der charakteristisch ist für ihr Schaffen: „Cela n’est pas obscène puisque cela se voit“. Naturgemäß – und anhand des Themas wenig überraschend – ist auch dieser Text (von 2001) – wie fast alle Werke von Breillat umstritten, aber im besten Sinne diskutabel. Er regt dazu an, über ihn nachzudenken. Und das macht ihn zu einem guten Text.   

 

Stephan Thome: Grenzgang.


Seit Andreas Maiers „Wäldchestag“ weißt die literarische Welt auch außerhalb Hessens, dass dort sehr eigentümliche Feste gefeiert werden. Der „Grenzgang“ gehört auch dazu, eine auf vagen historischen Ereignissen basierende Dreitagefeierlichkeit, die nur alle sieben Jahre in der Kreisstadt stattfindet und aus einigen kuriosen Ritualen sowie den beiden sehr deutschen Hauptaktivitäten Wandern und Saufen besteht. Für die Einheimischen sind es die mit Abstand drei wichtigsten Tage im Jahr – für die man sich um zu vergebende prestigeträchtige Ämter bemüht – für die in die Welt Aufgebrochenen Anlass zur Heimkehr und für die Tourist*innen Möglichkeit zum Saufen und Wandern. Und für Autor Stephan Thome (geboren 1972) in seinem Debut Vorgabe für eine Siebenjahresstruktur, die ihn die Geschichte zweier Außenseiter der Stadt in vielen Sprüngen erzählen lässt. Kerstin Werner, einst zur Heirat hierhergezogen, längst geschieden, hat mit ihrem pubertierenden Sohn und ihrer Einsamkeit zu kämpfen, Thomas Weidmann, gescheiterter Universitätsakademiker, mit der Rückkehr in seinen Heimatort, wo er nun ein Dasein als alleinstehender Gymnasiallehrer fristet. Beide Mittvierziger sind Gefangene ihrer – großstädtischen – Vergangenheit, hier die kaputte Ehe, dort die geplatzten Karriereträume. Und dazu kommen noch gar nicht so unwesentliche Nebenschauplätze wie die demente Mutter Kerstins und eben der beide verbindende Sohn Daniel, der andere Schüler mobbt. Immerhin freundet sich eine Nachbarin, Karin Preiss, näher mit Kerstin an, doch rückt diese irgendwann mit einer aus ihrer gefrusteten Ehe geborenem Idee heraus: sie möchte, nur aus Neugier, einen Swingerclub bei Frankfurt besuchen, traut sich aber alleine nicht. Kerstin lässt sich breitschlagen und geht mit. Das hat Folgen. Was geht uns das triste Leben irgendwelcher mediokren Menschen kurz vor der Midlife Crisis in der hessischen Provinz an? Eine berechtigte Frage – und es ist nicht so, dass sie sich auf den über 450 Seiten des Romans nicht ab und zu aufdrängt. Doch Thome ist ein begabter Erzähler, das erweist sich nicht nur in der erwähnten Grundstruktur, sondern auch in seiner Fähigkeit, nicht alles erzählen zu müssen – man erfährt nie genau, was an der Schule nun eigentlich vorgefallen ist – aber vor allem in der Kunst, sich in das Innenleben seiner Figuren so hineinzuversetzen, dass wir ihm mühelos und gerne folgen, auch wenn manches an der Oberfläche – wie eigentlich das gesamte Fest – doch äußerst banal erscheint. Wir erleben die Grenzgänge der verschiedenen Jahre aus der Innensicht mit, die immer auch Grenzgänge sind für Entscheidungen, die getroffen werden oder wurden. Grenzen werden überschritten, nie spektakulär, aber jeweils mit Konsequenzen. Wahrscheinlich hätte man vor hundert Jahren einen solchen Roman „ein Sittenbild aus der Provinz“ genannt.  

 

Maria Scherer: Silbertrompete.

Man sieht sich wieder beim Scheidungsanwalt. Andrea hat sich neu verliebt, aber der Liebhaber ist weg, der Ehemann nun, nach einem letzten klärenden Gespräch, auch. Den Beruf als Journalistin ist sie – freiwillig – ebenfalls los. Nun ist sie einerseits von allem frei, aber auch orientierungs- und bald mittellos, einen Plan, was sie mit ihrer wiedergewonnenen Freiheit anfangen soll, hat sie nicht. Und vielleicht ist sie gar nicht so frei wie gedacht. Jedenfalls reist sie spontan von ihrem letzten Geld ab nach New York, überrascht von ihrem eigenen Entschluss und von ihrer Unbesorgtheit der gesamten Situation gegenüber. Dass sie sich in New York dann mit einem alten Bekannten streitet, macht die Sache irgendwie auch nicht besser. Schließlich ist es ausgerechnet ein Taxifahrer, der sie wachrüttelt, so dass sie fortan die Dinge wieder selbst in die Hand nimmt. Sie ruft die Schwester ihres Ex-Liebhabers an, die ihr verrät, dass auch dieser zufällig gerade in New York ist. Doch als sie ihn dann überrascht, erfährt sie den Grund hierfür: sein bester Freund hat sich erschossen. Während er zur Beerdigung geht, wartet Andrea auf ihn, derweil ruft seine frau im Hotel – der titelgebenden ‚Silbertrompete‘ – an. Was ist von dem Liebhaber zu halten? Er hat sich nicht scheiden lassen, war plötzlich verschwunden. Und auch jetzt, nach einer Liebesnacht, scheint er sich erneut heimlich davonstehlen zu wollen. Andrea versteckt die Zimmerschlüssel und sperrt sie somit beide zum klärenden Gespräch ein. Der Roman der Schwedin Maria Scherer (geboren 1943) erfreut anfangs durch seinen unbekümmert frechen Ton, der sich jedoch leider mit dem Auftauchen des Liebhabers verliert. Ab da gibt es dann lange Dialoge über gegenseitige Verletzungen, psychologisierende Liebesschwüre und allerlei Gefühlsbekenntnisse. Kurzum: Wir sind in den 1980er Jahren. Leider. 

 

Maxim Gorki: Die Mutter.

Ehrungen für Schriftsteller*innen gibt es – zum Glück – viele, aber nur nach den wenigsten von ihnen wurde eine ganze Stadt benannt. Oder zumindest umbenannt – und das auch nur zwischenzeitlich. So


wurde aus Nischni Nowgorod, der Geburtsstadt des Autors und nun nicht gerade ein Dörfchen, von 1932 an Gorki, bis man 1990 zum alten Namen zurückkehrte. Nun, dies sagt natürlich einiges über den Stellenwert Maxim Gorkis (1868-1936) in der Sowjetunion aus und dieser Ruhm begründete sich neben seinem Drama „Nachtasyl“ und seinem persönlichen Engagement für die Revolution natürlich vor allem auf dem Roman „Die Mutter“. Der Inhalt ist leicht zusammengefasst. Die Mutter, Witwe eines Säufers, erlebt die Wandlung ihres Sohnes, eines Fabrikarbeiters, zum sozialistischen Vorkämpfer und übernimmt selbst immer mehr Aufgaben in den Untergrundorganisationen des kleinen kämpfenden Freundeskreises ihrer Umgebung, insbesondere, nachdem ihr Sohn ins Gefängnis und dann in die Verbannung muss. Durch ihre Taten erwacht in ihr selbst immer mehr das Bewusstsein der vorhandenen Unterdrückung im zaristischen Staat und die Notwendigkeit zum Handeln. Das Werk ist, natürlich, eine literarische Propaganda reinsten Wassers, getrieben von einem hohen Idealismus. Der sentimentalistisch-pathetische Tonfall ist heute nur noch mühsam erträglich, im Nachwort wird Tolstoi zitiert, der Gorkis Werke „große Gefühle, heroisch und unecht“ attestierte, ein Urteil, das man schwerlich abstreiten dürfte. Und gleichwohl bleibt „Die Mutter“ ein Klassiker. Die Explizitheit des Politischen in einem 1905 geschriebenen Roman war etwas Neues, auch die Anklage der herrschenden Umstände war und ist ja nicht verkehrt, und war damals nicht minder unerhört, weit über die sozialen Schilderungen des Naturalismus hinausgehend, der sich mit wissenschaftlichen Diagnosen meist begnügte. Eine einfache, recht naive und gläubige, eigentlich längst resignierte Frau aus einfachsten Verhältnissen als Protagonistin zu wählen, war wohl Gorkis raffiniertester Schachzug, besaß sie doch hohes Identifikationspotential. Wenn selbst diese ungebildete Mutter – übrigens, obwohl oft als ‚Alte‘ und ‚Mütterchen‘ angesprochen, erst gut vierzig Jahre alt, wie einmal nebenbei erwähnt wird – zur Erkenntnis und schließlich zum selbstlosen Aufbegehren gebracht werden kann, dann ist dies jedem möglich. Auch dem Mütterchen Russland. So wurde Gorki zum Ideal des sowjetischen Schriftstellers.