Markus
Nummi: Bonbontag.
Man
merkt dem finnischen Autor Markus Nummi (geboren 1959) an, dass er auch
Drehbücher verfasst – nicht nur, weil er einen ziemlich erfolglosen Autoren von
Filmskripten zum indirekten Sprachrohr seines Romans macht, der als
Erzählersuggestion gewissermaßen uns den Gang der Geschichte „vor“-schreibt.
Zugleich ist er jedoch einer der zahlreichen Protagonisten des Textes, der –
hier kommt die filmische Sichtweise stark zum Tragen – von vielen schnellen
Perspektivwechseln lebt. Dies erleichtert anfangs nicht gerade den Zugang,
insbesondere, da die Sprünge nicht nur recht abrupt, sondern vor allem, weil
sie in der Innensicht vor sich gehen. Hat man dann aber mit der sich
vergrößernden Informationen einmal die Personen und Handlungsstränge, die sich
immer mehr verweben, einigermaßen geordnet, entwickelt sich eine spannende
Handlung um vernachlässigte und misshandelte Kinder, die sich mühsam in der
Welt der Erwachsenen zurechtfinden müssen, die ihnen bestenfalls unfreundlich,
schlimmstenfalls gewalttätig begegnet – dass es gerade diejenigen sind, die man
am liebsten hat, die Eltern, wirkt auf sie naturgemäß noch verstörender. So
flüchtet sich Tomi, dessen geschiedene Eltern sich für ihn nicht zuständig
fühlen, in Phantasiewelten, in denen er das Nachbarmädchen befreit, dass von
seiner überforderten und desinteressierten alleinerziehenden Mutter tagelang in
der Wohnung eingesperrt wird. Aber in der realen Welt ist das nicht so einfach.
Er hängt sich a den ihm völlig unbekannten Ari – den Drehbuchautoren –, der
auch nicht recht weiß, wie er mit der Situation umgehen soll. Denn da ist auch
noch das Jugend- und Sozialamt, wo sich bei den – durchaus engagierten –
Mitarbeiter*innen die verschiedenen Meldungen nur ganz langsam zu einem
Gesamtbild zusammenfügen, bis sie eingreifen können. Da ist es schon fast zu
spät. Ob diese kolportagehafte Form dem wichtigen Thema gerecht wird, sei
dahingestellt. Nummi gibt der Kindersicht viel Raum, die Perspektivenwechsel
ermöglichen ihm diverse Blickwinkel, die er jedoch nicht immer ausreichend
nutzt. Die alleinerziehende Mutter etwa ist zu einseitig gefühlskalt und
manipulativ gezeichnet. Insgesamt aber immerhin ein Versuch, sich der komplexen
Thematik auf eine innovative Weise anzunähern.
Birgit
Heiderich: Mit geschlossenen Augen.
Die
Tagebucheintragungen Birgit Heiderichs (geboren 1947), die nur wenige Monate
(August 1977 bis Mai 1978) umfassen, veröffentliche kurz darauf der Suhrkamp
Verlag. Auf die berechtigte Frage ‚Warum?‘ kann man aus heutiger Sicht
eigentlich nur noch antworten, weil diese Art ‚authentischer‘ Literatur der
Selbstbefragung damals hoch im Trend lag. Weder war Heiderich damals eine
prominente Person, der Einsichten öffentliches Interesse gehabt hätten, noch
war sie, obwohl damals in der Hauptstadt Bonn lebend, eine Chronistin der
damaligen Zeitumstände – der in jene Monate fallende ‚Deutsche Herbst‘ wird nur
beiläufig erwähnt. Die Eintragungen beschäftigen sich hauptsächlich mit
Beziehungsproblemen, Versagensängsten bei der literarischen Arbeit und einem
bevorstehenden Umzug nach Tübingen, der ebenfalls Sorge bereitet. Man mag die
sexuelle Freiheit, die sich Heiderich nimmt, als Ausdruck eines emanzipierteren
Lebens und feministischer Stärke interpretieren, wäre sie nicht stets von ihren
hochtrabenden Verliebtheitsgefühlen begleitet, die eher an die Gefühlsschwankungen
unsicherer Teenager erinnern. Im Grunde ist man dankbar dafür, dass nur wenige
Monate beschrieben werden. Bei allem Respekt vor dem Mut zur Selbstentblößung
ist das Buch nur ein weiteres schreckliches Beispiel der noch viel
schrecklicheren Periode der ‚Inneren Subjektivität‘.
Greifbuch.
Ein
Greif kommt in dem Buch erstaunlicherweise gar nicht vor, am nächsten käme dem
noch die geflügelte Halbweltdame aus Angela Carters Erzählung „Fevvers“, doch
ist das antike Sagenwesen bekanntlich das Wappentier des altehrwürdigen
Klett-Cotta-Verlages, der diese Anthologie anno 1987 herausgab. Dementsprechend
ist das Spektrum des hier Versammelten ziemlich weit – eben alle Bereiche des
Verlagsprogramms repräsentierend. Von Gedichten Gottfried Benns über zahlreiche
Kurzgeschichten, Romanausschnitten, Erzählungen aus Europa und den USA über
gehobene Fantasy bis hin zu Sachbuchtexten. Über die Krux von Anthologien –
ihre oft, natürlich teils vom Geschmack abhängige – inhärente
Durchschnittlichkeit haben wir schon öfter aus gegebenem Anlass geschrieben,
weshalb diese Auswahl aufgrund ihrer quasi erschwerten Bedingungen – es fehlt
ein übergreifendes Themenfeld – angenehm positiv überrascht. Sicher, es gibt
den ein oder anderen Text, der einem weniger behagt, aber insgesamt ist eine
sehr gute, äußerst lesbare Sammlung von Texten entstanden, die tatsächlich
erstens den Verlag mit all seinen Facetten bestens vorstellt und zweitens Lust
auf weitere Lektüre macht. Der Anspruch des Untertitels „Lesen beflügelt“ wurde
folglich verwirklicht.
Catherine
Breillat: Pornocratie.
Im
Zusammenhang mit Virginie Despentes erwähnten wir kürzlich die Generation
französischer Schriftstellerinnen, die in den 1990er Jahren mit einer Welle
explizit obszöner Romane mit feministischer Ausrichtung für Aufregung sorgten.
Gegen Catherine Breillat (geboren 1948) wirkten
diese Autorinnen allerdings wie
Waisenmädchen beziehungsweise Waisennichten, denn die Regisseurin und
Schriftstellerin hatte lange Zeit und stilbildend dieses Thema weitaus
radikaler aufgegriffen, sie nahm – und nimmt – in ihren Filmen und Texten kein
Blatt vor den Mund und buchstäblich auch nicht vor die Geschlechtsteile. So
erwartungsgemäß auch ihrer Erzählung „Pornocratie“ einem Kammerspiel im
wahrsten Sinne des Wortes. Ein junges Mädchen am Übergang zur Frau sucht sich
in einer Homosexuellenbar einen jungen Mann heraus, dem sie Geld dafür bietet,
dass er einige Tage mit ihr in einem einsamen Landhaus am Meer verbringt. Seine
Aufgabe ist lediglich, ihren nackten Körper zu betrachten. Mithilfe dieser
experimentellen Kombination eines Mannes, der einerseits in der Blüte seiner
sexuellen Aktivität, andererseits aber an Frauen nicht interessiert ist und dem
jungen Mädchen, das einen begehrenswerten Körper besitzt, lotet Breillat das
Verhältnis von Mann und frau auf verschiedenen Ebenen aus. Die Anspielungen
sind zahlreich: von der Mythologie der Geschlechter – aber vor allem der
Geschlechtsteile –, psychologische, und psychoanalytische Motive und
biologische Grenzen, feministische Theorien. Abstoßung und Anziehung, auch die
Frage, wer hier wem mehr ausgeliefert ist, was ist reiner Trieb, was
Verführung, was Attraktion, was Liebe, all das verhandelt Breillat – in der ihr
eigenen ungeschminkten Sprache. Es gibt einen Satz im Text, der
charakteristisch ist für ihr Schaffen: „Cela n’est pas obscène puisque cela se
voit“. Naturgemäß – und anhand des Themas wenig überraschend – ist auch dieser
Text (von 2001) – wie fast alle Werke von Breillat umstritten, aber im besten
Sinne diskutabel. Er regt dazu an, über ihn nachzudenken. Und das macht ihn zu
einem guten Text.
Stephan
Thome: Grenzgang.
Seit
Andreas Maiers „Wäldchestag“ weißt die literarische Welt auch außerhalb
Hessens, dass dort sehr eigentümliche Feste gefeiert werden. Der „Grenzgang“
gehört auch dazu, eine auf vagen historischen Ereignissen basierende
Dreitagefeierlichkeit, die nur alle sieben Jahre in der Kreisstadt stattfindet
und aus einigen kuriosen Ritualen sowie den beiden sehr deutschen
Hauptaktivitäten Wandern und Saufen besteht. Für die Einheimischen sind es die
mit Abstand drei wichtigsten Tage im Jahr – für die man sich um zu vergebende
prestigeträchtige Ämter bemüht – für die in die Welt Aufgebrochenen Anlass zur
Heimkehr und für die Tourist*innen Möglichkeit zum Saufen und Wandern. Und für
Autor Stephan Thome (geboren 1972) in seinem Debut Vorgabe für eine
Siebenjahresstruktur, die ihn die Geschichte zweier Außenseiter der Stadt in
vielen Sprüngen erzählen lässt. Kerstin Werner, einst zur Heirat
hierhergezogen, längst geschieden, hat mit ihrem pubertierenden Sohn und ihrer
Einsamkeit zu kämpfen, Thomas Weidmann, gescheiterter Universitätsakademiker,
mit der Rückkehr in seinen Heimatort, wo er nun ein Dasein als alleinstehender
Gymnasiallehrer fristet. Beide Mittvierziger sind Gefangene ihrer –
großstädtischen – Vergangenheit, hier die kaputte Ehe, dort die geplatzten
Karriereträume. Und dazu kommen noch gar nicht so unwesentliche
Nebenschauplätze wie die demente Mutter Kerstins und eben der beide verbindende
Sohn Daniel, der andere Schüler mobbt. Immerhin freundet sich eine Nachbarin,
Karin Preiss, näher mit Kerstin an, doch rückt diese irgendwann mit einer aus
ihrer gefrusteten Ehe geborenem Idee heraus: sie möchte, nur aus Neugier, einen
Swingerclub bei Frankfurt besuchen, traut sich aber alleine nicht. Kerstin
lässt sich breitschlagen und geht mit. Das hat Folgen. Was geht uns das triste
Leben irgendwelcher mediokren Menschen kurz vor der Midlife Crisis in der
hessischen Provinz an? Eine berechtigte Frage – und es ist nicht so, dass sie
sich auf den über 450 Seiten des Romans nicht ab und zu aufdrängt. Doch Thome
ist ein begabter Erzähler, das erweist sich nicht nur in der erwähnten
Grundstruktur, sondern auch in seiner Fähigkeit, nicht alles erzählen zu müssen
– man erfährt nie genau, was an der Schule nun eigentlich vorgefallen ist –
aber vor allem in der Kunst, sich in das Innenleben seiner Figuren so
hineinzuversetzen, dass wir ihm mühelos und gerne folgen, auch wenn manches an
der Oberfläche – wie eigentlich das gesamte Fest – doch äußerst banal
erscheint. Wir erleben die Grenzgänge der verschiedenen Jahre aus der
Innensicht mit, die immer auch Grenzgänge sind für Entscheidungen, die
getroffen werden oder wurden. Grenzen werden überschritten, nie spektakulär,
aber jeweils mit Konsequenzen. Wahrscheinlich hätte man vor hundert Jahren
einen solchen Roman „ein Sittenbild aus der Provinz“ genannt.
Maria
Scherer: Silbertrompete.
Man
sieht sich wieder beim Scheidungsanwalt. Andrea hat sich neu verliebt, aber der
Liebhaber ist weg, der Ehemann nun, nach einem letzten klärenden Gespräch,
auch. Den Beruf als Journalistin ist sie – freiwillig – ebenfalls los. Nun ist
sie einerseits von allem frei, aber auch orientierungs- und bald mittellos,
einen Plan, was sie mit ihrer wiedergewonnenen Freiheit anfangen soll, hat sie
nicht. Und vielleicht ist sie gar nicht so frei wie gedacht. Jedenfalls reist
sie spontan von ihrem letzten Geld ab nach New York, überrascht von ihrem
eigenen Entschluss und von ihrer Unbesorgtheit der gesamten Situation
gegenüber. Dass sie sich in New York dann mit einem alten Bekannten streitet,
macht die Sache irgendwie auch nicht besser. Schließlich ist es ausgerechnet
ein Taxifahrer, der sie wachrüttelt, so dass sie fortan die Dinge wieder selbst
in die Hand nimmt. Sie ruft die Schwester ihres Ex-Liebhabers an, die ihr
verrät, dass auch dieser zufällig gerade in New York ist. Doch als sie ihn dann
überrascht, erfährt sie den Grund hierfür: sein bester Freund hat sich
erschossen. Während er zur Beerdigung geht, wartet Andrea auf ihn, derweil ruft
seine frau im Hotel – der titelgebenden ‚Silbertrompete‘ – an. Was ist von dem
Liebhaber zu halten? Er hat sich nicht scheiden lassen, war plötzlich verschwunden.
Und auch jetzt, nach einer Liebesnacht, scheint er sich erneut heimlich
davonstehlen zu wollen. Andrea versteckt die Zimmerschlüssel und sperrt sie somit
beide zum klärenden Gespräch ein. Der Roman der Schwedin Maria Scherer (geboren
1943) erfreut anfangs durch seinen unbekümmert frechen Ton, der sich jedoch
leider mit dem Auftauchen des Liebhabers verliert. Ab da gibt es dann lange
Dialoge über gegenseitige Verletzungen, psychologisierende Liebesschwüre und
allerlei Gefühlsbekenntnisse. Kurzum: Wir sind in den 1980er Jahren.
Leider.
Maxim
Gorki: Die Mutter.
Ehrungen
für Schriftsteller*innen gibt es – zum Glück – viele, aber nur nach den
wenigsten von ihnen wurde eine ganze Stadt benannt. Oder zumindest umbenannt –
und das auch nur zwischenzeitlich. So
wurde aus Nischni Nowgorod, der
Geburtsstadt des Autors und nun nicht gerade ein Dörfchen, von 1932 an Gorki,
bis man 1990 zum alten Namen zurückkehrte. Nun, dies sagt natürlich einiges
über den Stellenwert Maxim Gorkis (1868-1936) in der Sowjetunion aus und dieser
Ruhm begründete sich neben seinem Drama „Nachtasyl“ und seinem persönlichen
Engagement für die Revolution natürlich vor allem auf dem Roman „Die Mutter“. Der
Inhalt ist leicht zusammengefasst. Die Mutter, Witwe eines Säufers, erlebt die
Wandlung ihres Sohnes, eines Fabrikarbeiters, zum sozialistischen Vorkämpfer
und übernimmt selbst immer mehr Aufgaben in den Untergrundorganisationen des
kleinen kämpfenden Freundeskreises ihrer Umgebung, insbesondere, nachdem ihr
Sohn ins Gefängnis und dann in die Verbannung muss. Durch ihre Taten erwacht in
ihr selbst immer mehr das Bewusstsein der vorhandenen Unterdrückung im
zaristischen Staat und die Notwendigkeit zum Handeln. Das Werk ist, natürlich,
eine literarische Propaganda reinsten Wassers, getrieben von einem hohen
Idealismus. Der sentimentalistisch-pathetische Tonfall ist heute nur noch
mühsam erträglich, im Nachwort wird Tolstoi zitiert, der Gorkis Werke „große
Gefühle, heroisch und unecht“ attestierte, ein Urteil, das man schwerlich
abstreiten dürfte. Und gleichwohl bleibt „Die Mutter“ ein Klassiker. Die
Explizitheit des Politischen in einem 1905 geschriebenen Roman war etwas Neues,
auch die Anklage der herrschenden Umstände war und ist ja nicht verkehrt, und
war damals nicht minder unerhört, weit über die sozialen Schilderungen des
Naturalismus hinausgehend, der sich mit wissenschaftlichen Diagnosen meist
begnügte. Eine einfache, recht naive und gläubige, eigentlich längst
resignierte Frau aus einfachsten Verhältnissen als Protagonistin zu wählen, war
wohl Gorkis raffiniertester Schachzug, besaß sie doch hohes
Identifikationspotential. Wenn selbst diese ungebildete Mutter – übrigens, obwohl
oft als ‚Alte‘ und ‚Mütterchen‘ angesprochen, erst gut vierzig Jahre alt, wie
einmal nebenbei erwähnt wird – zur Erkenntnis und schließlich zum selbstlosen
Aufbegehren gebracht werden kann, dann ist dies jedem möglich. Auch dem
Mütterchen Russland. So wurde Gorki zum Ideal des sowjetischen Schriftstellers.