Wolfgang Schreyer: Unabwendbar.
Hauptmann Wendt, beschäftigt bei der Kriminalpolizei, steht vor einem Umbruch: Seine Frau hat ihn verlassen, er hat sich in den Norden versetzen lassen, mit Anfang Vierzig muss er sein Leben neu organisieren. Die Arbeit verführt ebenfalls nicht zu Enthusiasmus, unspektakulär und eigentlich unterhalb seiner kriminalistischen Fähigkeiten muss sich Wendt mit einer bereits länger zurückliegenden Einbruchsserie in Datschen von wohlhabenderen Sommertouristen an der Küste beschäftigen. Doch die Suche ist wenig ergiebig, ein klares Muster ist nicht erkennbar, von der Beute ist nichts aufgetaucht, weitere Vorfälle sind unterblieben. Wendt reist wieder ab, mehr als ein Bericht fällt nicht ab vom Besuch an der Ostsee, sieht man ab von der kurzen Begegnung mit der jungen Jenny, die ihn auf provokante Weise anzieht. Doch neue Einbrüche geschehen, schließlich wird bei der Flucht der Diebe sogar ein Mann verletzt, der später stirbt. Die Behörden reagieren nun mit großem Aufwand, doch Wendt kommt dabei Dingen auf die Spur, die ihm nicht gefallen können: Jenny scheint in die Angelegenheit verwickelt zu sein. Wendt gerät in Loyalitätskonflikte, denn ihre Beziehung hat sich mittlerweile intensiviert. Das ist fast etwas übertrieben, Wendt bleibt immer der Kriminaloffizier, man zweifelt nie, dass er eher Jenny als seine Überzeugung opfern würde. Mit der Zeit kann man seine Ex-Frau durchaus verstehen, weniger dagegen, warum Jenny den auch im Privaten geradezu inquisitorischen Wendt nicht den Laufpass gibt. Ungewollt (oder sehr subtil?) hat Schreyer (1927-2017) hier den verbissenen DDR-Beamten dargestellt, der sogar im Privaten seine Mitmenschen quält, was das Ende des Romans nicht unbedingt glaubhafter macht.
Frank Newman: Barbara.
Kulturgeschichtlich ist bereits das Vorwort interessant: Der Herausgeber berichtet darin von der Zeit, die es überhaupt ermöglichte, dass ein Roman wie Frank Newmans „Barbara“ erscheinen konnte – das Ende der 1960er Jahre – und wird ergänzt durch einen Zusatz des deutschen Verlegers, der zermürbt von zahlreichen juristischen Auseinandersetzungen, darauf hinweist, dass die deutsche Ausgabe von 1981 nur um 20 Seiten gekürzt ihren Weg zum Publikum finden darf. Das gesellschaftliche Klima hatte sich bereits wieder geändert. Nun, ganz verwunderlich ist die Zensur nicht – „Barbara“ ist ein offen pornographischer Roman mit wenig Zurückhaltung, es geht auch sogleich auf der ersten Seite in medias res. An und für sich könnte man sofort wieder auf Ecos an früherer Stelle einmal erwähntes Identifikationsmerkmal von Pornographie zurückgreifen, nämlich, dass die sexuellen Handlungen nur durch eine mehr oder fingierte, oberflächliche Handlung verbunden werden, die stets lediglich als Überleitung zur nächsten Stellung zu dienen hat. Ganz so einfach ist es in Newmans Roman nicht. Tatsächlich liegt diesem eine sehr zeittypische Ideologie zugrunde, nämlich der Befreiung der Menschen durch Sexualität. Die gesellschaftlichen Schranken sollen durch Tabubrüche beseitigt werden – und wie dies geht, führt Newman nun anhand einer Clique von anfangs nicht miteinander bekannten Küstenbesuchern vor. Die Gruppe unter Anleitung des erfahrenen Max nimmt sich vor, möglichst viele Menschen durch Sex in allen Formen zu befreien, sie aus ihrer Erstarrung zu lösen. Ob einen dieses Konzept überzeugt, sei dahingestellt, der politische Hintergrund wird manchmal etwas arg plakativ und unmotiviert eingeflochten, manche der (nicht zensierten) Sexualpraktiken werden wir als grenzwertig empfinden (Inzest, allerdings freiwillig von den Jugendlichen ausgehend) und dass Max und dann seine Anhänger quasi ununterbrochene Potenzwunder sind, ist dann auch eher literarische Phantasie. Gleichwohl ist Newman ein eher seltener Fall von fast ernsthafter Pornographie, der zumindest eine dahinterstehende Idee aufweisen kann und der auch sprachlich nicht wie sonst im Genre üblich, mit der Zeit seine Leser:innen ermüdet. In mancher Episode, etwa wenn einer der Anhänger Max‘ eine junge Mittelschichtsmutter verführt und er ihre erotischen Phantasien als aufgesetzt erst entlarvt und dann ihre eigentlichen Wünsche aufzeigt, wird das Anliegen Newmans durchaus gelungen umgesetzt und nachvollziehbar.
Ida Jessen: Wie ein Mensch.
Ein dänisches Idyll: Christian, ein junger Arzt, übernimmt eine freigewordene Stelle in einer Gemeinschaftspraxis auf dem Land, auch seine Frau, Organistin, wird willkommen geheißen und ebenfalls gleich mit einem Arbeitsplatz versorgt, ein ehemaliges Forsthaus wird zur naturnahen Unterkunft, spontan ein Boot gekauft. Dass unklar bleibt, warum der Vorgänger so abrupt den Ort verließ, und dass auch der leicht kauzig-verträumte alternde Kollege darüber nicht so recht Auskunft geben will, stört da erst einmal kaum, auch nicht die Entdeckung, dass in den Akten weiblicher Patienten offenkundig bewusst Seiten entfernt wurden. Natürlich wäre Ida Jessen (geboren 1964) nicht Ida Jessen, wenn es bei diesem Skandinavienklischee bliebe und sie wäre nicht die brillante Schriftstellerin, die sie ist, wenn sie nicht ihre erzählerischen Mittel nutzen würde, um diese Fassade gekonnt einzureißen. Denn eine unerwartete Szene zwischen Christian und seiner Frau zeigt, dass deren Ehe längst am Ende ist. Seit der Totgeburt ihres Kindes ist man völlig entfremdet und lebt nebenher miteinander. Dieses Arrangement zerbricht ebenso abrupt wie Christian sein Leben insgesamt immer mehr entgleitet. Die Frauen seiner Umgebung betrachtet er überwiegend als Objekte der Begierde, will sich aber nicht dauerhaft auf sie einlassen. Dass er damit seinem Vorgänger immer ähnlicher wird, will er nicht wahrhaben, auch nicht als eines von dessen Opfern Hilfe bei ihm sucht und sich schließlich in seinem Haus umzubringen versucht – woraufhin Christians Ansehen im Dorf sich ins Negative dreht. Er hat keine Kontrolle mehr über seine Umgebung, zu schon früher erfolgten seltsamen Anrufen gesellen sich konkrete Bedrohungen, auf die er nur noch lethargisch reagiert. Wiederum erzählerisch hervorragend eingeflochten entpuppt sich Christians Schwester als die Erzählerin der Geschichte, die am Zustand ihres Bruders verzweifelt, aber auch hilflos bleibt. Einmal mehr bleibt uns nur, Ida Jessen für ihr subtiles Schreiben zu loben. Vieles bleibt ungesagt, wieder ist die Kunst der Andeutung perfekt eingesetzt, so auch im Schluss, der als Hoffnungsschimmer verstanden werden kann, aber nicht muss.
Alain Robbe-Grillet: Souvenirs du triangle d’or.
In einem lateinamerikanischen Land unternimmt die Polizei eine großangelegte Aktion gegen jugendliche Banden, die dort Dörfer überfallen, verwüsten und ausplündern, zugleich die jungen Mädchen gefangen nehmen und missbrauchen. Nach und nach durchkämmen die Sicherheitskräfte die Häuser, befreien die jungen Frauen und geben sie zu Untersuchungen an den Wissenschaftler Doktor Morgan weiter, der allerdings seine ganz eigenen Auffassungen von Forschung hat. Der Polizist, aus dessen Sicht wir diese Ereignisse erfahren, verliert selbst bald den Überblick, die Kontrolle und sogar seine Freiheit, ihm ist es nicht mehr möglich, zwischen tatsächlichem Geschehen und Fantasien zu unterscheiden, alle seine Wahrnehmungen scheinen zu verschwimmen. Ein klassischer Robbe-Grillet (1922-2008), in dem natürlich nichts so ist, wie er uns glauben machen will. Die typische falsche Exaktheit des nouveau roman, die in die Irre führt, ständig wiederkehrende Motive – das goldene Dreieck des Titels – unzuverlässige Erzähler, diverse sich überschneidende Ebenen. Für Liebhaber:innen dieses Genres ein Genuss, für alle anderen verwirrrende schwere Kost.
Thomas Glavinic: Das Leben der Wünsche.
Ein etwas schmuddeliger Typ spricht Jonas unverhofft an, weiß so ziemlich alles über dessen Leben, auch von seiner außerehelichen Affäre, möchte ihn damit aber nicht etwa erpressen, sondern offeriert ihm drei Wünsche. Jonas nimmt das Ganze natürlich nicht ernst, um den Mann abzuwimmeln, wählt er den altbekannten Trick, nur einen Wunsch zu haben, nämlich, dass sich alle seine Wünsche fortan erfüllen mögen. Mit dem Rat, Jonas möge sehr genau darauf achten, was er sich wünsche, verzieht sich das seltsame Gegenüber. Jonas testet zwar schließlich seine angeblich neue Fähigkeit, aber wenig überraschend haben seine Testwünsche nach schnellem Reichtum etc. keine Auswirkung. Im Gegenteil, sein anstrengendes Leben in einer Werbeagentur, mit hyperaktiven Kindern und der schwierigen Koordinierung von Familie und Affäre geht weiter. Bis nach und nach immer mehr Katastrophen Jonas‘ Leben kreuzen, sowohl passiv – er wird Zeuge von Verkehrsunfällen und Verbrechen – als auch im Privatleben, als seine Frau plötzlich stirbt. Noch dazu wird er immer wieder von Erlebnissen außerkörperlicher Art heimgesucht, wenn ihn die Schlaflosigkeit plagt. Der altbekannten Idee von der Wunscherfüllung fügt Thomas Glavinic (geboren 1972) die Variante hinzu, dass es hier die unbewussten Wünsche sind, die in Erfüllung gehen – ohne dass der Protagonist dies zu begreifen scheint. Seine Schaulust an Katastrophen führt zu immer mehr Unglücken um ihn herum, sein Dilemma, sich nicht zwischen seiner Familie und Freundin entscheiden zu können, löst sich durch den Tod seiner Frau, die Sehnsucht nach Reichtum durch Steigen seiner Aktienkurse. Trotzdem zündet der Roman nicht. Für den Charakter Jonas‘ kann man sich nur schwer erwärmen, die durchgeknallte Atmosphäre in der Agentur und die nicht zu bändigenden Kinder sind Klischeeabzüge, das esoterische Element wenig überzeugend. Auch die betont nüchterne Einführung des Wünscheanbieters dürfte eher auf die Unlust an einer Motivation als auf eine tiefgründige Umkehrung des Magischen als Alltäglichem zurückgehen. Kurzum: Man verspürt sehr schnell den Wunsch, der Roman möge zu Ende gehen.
Peter O. Chotjewitz: Der dreißigjährige Friede.
…ist der Friede der unmittelbaren Nachkriegszeit in der Bundesrepublik. Man profitiert vom Schwarzmarkt, man baut sich etwas auf, heiratet, setzt Kinder in die Welt. So auch die Eltern von Jürgen Schütrumpf, Jahrgang 1949, dessen Vater sich seinen kleinen Klempner-Handwerksbetrieb aufbaut und damit zu bescheidenem Wohlstand kommt. Alles ist von der bekannten durchschnittlichen Banalität: Das Familienleben, der – sehr kleine – Freundeskreis, das Einkommen, die Wünsche (Ansehen und Urlaub), die Vorstellungen. Der Vater ist der Patriarch, die Mutter nimmt es hin, die Kinder, zwei Söhne, Jürgen davon der ältere, zeichnen sich durch nichts Besonderes aus, außer durch ihre Unterschiedlichkeit. Jürgen wird vor allem beherrscht von sexuellem Drang und gewissen künstlerischen Neigungen, er besitzt allerdings bestenfalls Talent zum Größenwahn. Als der Vater schwer krank wird, geht es nicht nur mit dem Betreib bergab, auch die Mutter emanzipiert sich immer mehr vom hinfälligen Hausherrn. Jürgen bekommt zwar durch Beziehungen einen Job in einer Fabrik, dort wird allerdings sein politisches Bewusstsein geweckt – wird sind mittlerweile in den 1970ern – allerdings eher aus privaten Liebesmotiven als aus tatsächlicher Durchdringung der Verhältnisse. In einer Mischung aus Zorn und Suche nach Anerkennung bereitet er ein Attentat vor. Chotjewitz (1934-2010) markiert zwar in einem Nachtrag sein Buch als authentisches Zeugnis, lässt aber letztlich offen, wie nah er an realen Geschehnissen geblieben ist. Es geht ihm vielmehr um die Schilderung des Unaußergewöhnlichen, Jürgens Lebenslauf ist exemplarisch, auch in seiner falschen Konsequenz. Gerade dies und der trockene Berichtstil machen den Reiz dieses Buches aus.
Lena Christ: Die Rumplhanni.
Kriegsbeginn im Dorf Öd bei Bad Aibling. Die jungen Männer des Ortes werden zur Armee eingezogen, ihr Aufbruch steht direkt bevor. Die Rumplhanni ist hierdurch gezwungen, ihren Plan, den Sohn des Bauern, auf dessen Hof sie als Magd arbeitet, noch schnell ein Eheversprechen abzuringen, unverhofft früh umzusetzen. Schwer fällt ihr dies nicht, sie ist nicht nur schlauer als ihr Liebhaber, sondern noch dazu viel raffinierter, vor allem weiß sie um ihre weiblichen Reize, die sie ohnehin jeweils sehr geschickt bei den Männern einzusetzen weiß. Zugleich ist ihr aber klar, dass sie als Dienstbotin an sich keine reelle Chance auf den Hoferben und damit eine bessere Zukunft mit gesellschaftlichem Aufstieg hat – weshalb sie zu einem zusätzlichen Druckmittel greift und dem jungen Mann eine Schwangerschaft vorgaukelt. Daraufhin gibt ihr dieser tatsächlich ein Heiratsversprechen und überredet dazu auch seinen Vater. Kurz darauf zieht er in den Krieg. Der Bauer jedoch drückt sich vor dem klärenden Gespräch mit seiner Frau, die der sehr selbstbewussten Hanni ohnehin nicht sehr gewogen ist. Mehrfach übt Hanni auf ihn Druck aus, doch der Hofherr weicht ihr vorerst aus, auch wenn er den Verführungskünsten der Magd nur mühsam widersteht. Als ihm aber Zweifel an der Schwangerschaft Hannis zu beschleichen beginnen, da sich diese körperlich nicht bemerkbar macht, setzt diese alles auf eine Karte und will dem Bauern eine schriftliche Bestätigung der Ehe abnötigen, während er angetrunken bei ihr in der Kammer ist. Doch im letzten Moment überwiegt die Angst des Bauern vor Übervorteilung – er liest das Dokument durch, dass den zukünftigen Eheleuten den Hof übertragt. Urplötzlich ernüchtert wirft er die Hanni vom Hof, ihr Plan ist komplett gescheitert. Sie sucht ihr Glück nun in der Stadt und nimmt den nächsten Zug nach München. Lena Christ (1881-1920) schuf naturalistische Heimatromane, die am Beginn einer kritischeren Sicht des Landlebens stehen. Der Umgang miteinander ist derb, Harmonie wird nicht vorgegaukelt, die Enge und Eifersüchteleien des Dorfes bestimmen den Alltag. ‚Bauernschlau’ ist hier nur eine, die Magd Hanni, die ihren Weg aus der Unterschicht mit allen Mitteln und großem Selbstbewusstsein verfolgt. Ihre Raffinesse und ihre Schlagfertigkeit führen letztlich über Umwege, auch dank eines gewissen naiven Mutes doch noch zum Erfolg – wenn auch nicht auf dem Land. Die Befreiung bringt die Stadt. Lena Christ hat mit der Rumplhanni eine zwar zwiespältige, aber doch gerade durch ihre Unverfrorenheit liebenswerte Protagonistin geschaffen, die sich in einer Männerwelt durchzusetzen weiß.
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