Montag, 20. Dezember 2021

Lektüremonat November 2021.



Benjamin Lebert: Mitternachtsweg.

Der durch „Crazy“ einst in sehr jungem Alter bekannt gewordene Schriftsteller Benjamin Lebert (geboren 1982) hat auch nach diesem frühen Erfolg weiter fleißig geschrieben und Romane veröffentlicht, die allerdings nicht mehr allzu große Aufmerksamkeit erregten, wohl vor allem deshalb, weil das Sensationelle des Erstlings, das natürlich vor allem in der Jugend des Autors lag, sich auf natürlichem biologischen Weg abnutzte. An der Qualität der Texte kann es nämlich nicht liegen, abgesehen davon, dass man bei einem etablierten Schriftsteller wahrscheinlich strengere Maßstäbe anlegt als bei einem pubertären Debütanten. Lebert jedenfalls versteht sein früh geübtes Handwerk und zieht einen ziemlich schnell hinein in seine Geschichte von einem Reporter, der von einem Freizeitjournalisten erst Beiträge über mysteriöse Ereignisse für seine Lokalzeitung zugesandt bekommt, die guten Anklang beim Publikum finden, bis der noch recht junge Autor sich entschließt, die Serie plötzlich abzubrechen. Seinem Ansprechpartner bei der Zeitung hinterlässt er ein letztes ausführliches Manuskript, das vom Friedhof der unbekannten Toten, die das Meer anspült, auf Sylt berichtet, und einer geheimnisvollen Frau, die er bei den Recherchen getroffen hat. Diese verwickelt ihn in frühere Geschehnisse auf der Insel, bei der jemand während der aufziehenden Flut zu Tode kam. Aber wer? Je genauer nachgefragt wird, desto unklarer werden die Erzählungen. Und welche Gefahr geht von dieser verführerischen Frau aus, die angeblich ein Café auf Sylt betreibt? Die Geschichten innerhalb der Geschichten verstricken und verweben sich immer mehr, der Bann der Frau, die womöglich längst nicht mehr lebt, entfaltet seine Wirkung über verschiedene Jahrzehnte – und über verschiedene Menschen. Ziemlich clever konstruiert und zugleich spannend, ist das Buch Beweis genug, dass es sich lohnt, die anderen Romane Leberts zu entdecken.

 

Ian McEwan: Abbitte.


Der erste Teil von McEwans (geboren 1948) berühmten Roman scheint ein eher typisches Beispiel für ein britisches Gesellschaftsdrama zu sein. Man bewegt sich in gehobenen Kreisen auf einem Landgut, es gibt allerlei familiäre Komplikationen und Verwicklungen, die Ehe ist nur noch Fassade, die Scheidungskinder der Verwandtschaft sind zu Gast, der Sohn des Hauses kommt zu Besuch, die ältere Tochter wird sich langsam über ihre Gefühlslage betreffs des Sohnes einer Angestellten im Klaren, der als Halbweise so etwas wie ein zusätzliches Ziehkind ist, und die jüngste, Briony, erweist sich als Kind mit überbordender Fantasie, das sich der Schriftstellerei widmet. Doch dann macht sie gelegentliche Beobachtungen, die ihre Aufmerksamkeit ablenken von ihrem geplanten Theaterstück und ihr naives, von Gefühlen geleitetes Vermögen, sich Geschichten auszudenken, führt zu fatalen Fehlschlüssen, die dafür sorgen, dass die Familie binnen Kürze völlig auseinanderbricht. Nur mit Ausschnitten gefüttert, in manchen Dingen noch unwissend, aber auch bedingt durch momentanen Zorn beschuldigt sie den jungen Ziehsohn Robbie, ihre Cousine vergewaltigt zu haben. Soweit der erste Abschnitt, der, wie gesagt, eher klassisch daherkommt, für McEwans Verhältnisse sogar fast bieder und gelegentlich in den Briony-Abschnitten etwas zäh. Ganz anders Teil Zwei: Robbie, verurteilt, hat sich nach Ausbruch des Krieges freiwillig zur Armee gemeldet, um so die Strafe zu verkürzen. Nun irrt er mit zwei Kriegskameraden durch Belgien, abgetrennt von ihrem Heeresteil, auf der Flucht vor der heranrückenden Armee der Deutschen. Die Alliierten sind vorerst geschlagen und drängen in Scharen Richtung Dünkirchen, umgeben von Tod und Gewalt, ständig bedroht von Flugangriffen. Robbie hat nur ein Ziel: Überleben. Und das ist schwer genug. Traumatische Erlebnisse pflastern seine Flucht, die womöglich sinnlos ist. Nun, da der Leser für den ohnehin unschuldigen Robbie eingenommen ist, dessen Leid nur durch die naive Briony verursacht und inzwischen ins Unermessliche gesteigert ist, wechselt die Perspektive im dritten Teil eben zu dieser. Längst eine junge Frau, hat sie sich wie ihre ältere Schwester, mit der sie keinen Kontakt mehr hat, weil diese Robbie treu geblieben ist, freiwillig zur Ausbildung als Krankenschwester gemeldet. Anfangs hat die Lehrzeit nur die sozusagen üblichen Härten, bis schließlich die Evakuierten vom Festland in den Londoner Hospitälern eintreffen. Auch Briony durchlebt eine Hölle, ist damit ihre Abbitte geleistet? Doch selbst geplagt von ihrer Schuld, der sie sich längst bewusst ist – sie kennt auch den tatsächlichen Vergewaltiger ihrer Cousine – möchte sie wenigstens auch die konkrete Änderung vornehmen, ihre Aussage von einst öffentlich revidieren, um im Nachhinein Robbie, falls er noch lebt, von der Schuld freizusprechen. Sie sucht den Kontakt mit ihrer Schwester, aber die zeigt sich kalt. Eine Änderung der Verurteilung Robbies ist schwieriger als gedacht, wenn nicht unmöglich, sowohl im rein juristischen als auch im zwischenmenschlichen Sinn. Nach der langen Exposition des ersten Teiles wird der Roman zum fulminanten Leseerlebnis um die große Frage der Schuld. Der kurze Epilog wartet dann noch mit einer Pointe auf, die dem Ganzen, nachdem der Text fast versöhnlich zu enden schien, eine zusätzliche bittere Note verleiht.

 


George Bernard Shaw: Pygmalion.

Shaws (1856-1950) wohl beliebtes – und neben „Mrs. Warren’s Profession“ auch bekanntestes – Stück hat es vermutlich zu dieser anhaltenden Popularität gebracht, weil es noch am ehesten den typischen Vorstellungen einer Komödie entspricht, zumindest, was den Anfang angeht. Shaw selber nannte es, natürlich ironisch, eine Romanze in fünf Akten. Der mit den antiken Mythen vertraute Bildungsbürger weiß selbstverständlich, dass der Künstler Pygmalion eine Statue schuf, in die er sich verliebte und die ihm schließlich aus göttlicher Gnade zum Leben erweckt wurde. Vordergründig hat das Stück wenig mit diesem Mythos und schon gar nichts mit der heroischen Antike zu tun, spielt es doch im London der (damaligen) Gegenwart, im strömenden Regen, wo die Menschen nach einer Spätvorstellung auf ihre Kutschen warten. Die Stimmung ist dementsprechend eher schlecht, erst recht, als einerseits ein aufdringliches Blumenmädchen seine Ware loswerden möchte und gleichzeitig ein seltsamer Herr auftaucht, der alles über die zu Wartenden zu wissen scheint – womöglich ein Spitzel. Streit entbrennt, die Meinungen wogen ziemlich schnell hin und her, bis sich die Menge auflöst. Es ist die erste Begegnung zwischen der aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Liza und dem Sprachforscher Professor Higgins, der seine Mitmenschen an den kleinsten Dialektfärbungen nach ihrer Herkunft unterscheiden kann – es ist allerdings das einzige Interesse, dass er für diese aufbringt. Deshalb möchte er Liza auch, als sie bei ihm auftaucht, um Sprachstunden zu nehmen, die ihren gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichen sollen, gleich wieder loswerden. Doch dann lässt er sich auf eine Wette ein, er will die junge Frau in kurzer Zeit so umerziehen, dass niemand mehr in ihr das ehemalige Blumenmädchen aus der Unterschicht erkennen kann. Doch das Vorhaben erweist sich erst als sehr schwierig und dann als schiefgelaufen, denn Liza beherrscht zwar irgendwann perfekt Manieren und Sprachduktus der Oberschicht, hat aber darunter ihren aufmüpfigen, selbstbewussten Charakter nicht verloren. Und so wird ihr letztlich bewusst, dass Higgins in ihr nur ein Experiment sah. Dass Liza mit dem erreichten Ergebnis nach der durchgeführten Probe aufs Exempel nicht zufrieden ist, kann er nicht verstehen – und erst recht nicht, dass sie ihn nun verlassen möchte. Higgins alias Pygmalion war nur am perfekten Kunstwerk interessiert, nicht an der Persönlichkeit des von ihm geschaffenen Wesens, das eben mehr ist als nur eine formbare Statue. Shaw genialer Schachzug zum Schluss: Er lässt den Ausgang des Stückes offen.

 

Édouard Louis: Im Herzen der Gewalt.


Nachts auf dem Nachhauseweg wird Édouard von einem jungen Mann angesprochen, der ihm mit seiner aufdringlichen Art gleichzeitig fasziniert, aber auch auf die Nerven geht. Er wimmelt ihn nur halbherzig ab und nimmt ihn dann doch hoch mit in seine Wohnung. Dort entspannt sich die Situation, die beiden unterhalten sich, haben Sex, bis Édouard merkt, dass Reda, sein Gast, ihn beklaut hat. Wieder schwankt er, wie er damit umgehen soll, es übergehen, ihn zur Rede stellen, ihn unauffällig loswerden. Da zieht Reda eine Waffe, wird gewalttätig, vergewaltigt Édouard. Letztlich kann dieser ihn rauswerfen, bevor noch mehr passiert. Traumatisiert beseitigt er alle Spuren von Redas Anwesenheit, geht, wieder unwillig, auf Rat von Freunden zur Polizei, obwohl dies sinnlos erscheint. Er gerät in die Mühlen der kriminalistischen Bürokratie, flieht dann zu seiner Schwester aus der Stadt. Louis‘ (geboren 1992) autobiographisches Buch – aber als Roman gekennzeichnet – ist nichts für ein entspanntes Mal- eben-Nebenher-Lesen. Nicht wegen der darin geschilderten Gewalt, die ist eher dezent beschrieben, sondern wegen deren Folgen. Édouard durchläuft zahlreiche Prozesse, die niemanden schonen, ihn nicht, den Täter nicht, aber auch diejenigen nicht, die ihm helfen wollen, Freunde und Freundinnen, Familie und natürlich die Professionellen, die Polizei. Die Selbstreflexionen sind dabei oft widersprüchlich, Abneigung gegen die Helfer, Verständnis für den Täter, sogar bis hin zur Täter-Opfer-Umkehrung, also der Suche nach der Schuld bei sich selbst – kein seltenes Phänomen unter Traumatisierten. Louis gelingt diese Radikalität vor allem durch einen literarischen Kniff, in dem er die Geschichte von seiner Schwester erzählen lässt – zu der er kein sonderlich gutes Verhältnis hat – und sie dabei heimlich belauscht. Er ist also in der Situation, das, was ihm selbst geschehen ist, von sich abzuspalten, als Bericht aus zweiter Hand kommentieren zu können, dabei gleichzeitig Vorurteile bei seiner Schwester, bei der Polizei und wiederum auch bei sich erkennen und Falsches korrigieren zu können. Der Text ist ein Versuch, es wird niemandem gelingen, solch ein Erlebnis nachvollziehbar zu schildern, selbst denen nicht, die Ähnliches erlebt haben. Aber der Versuch ist es wert, gelesen zu werden, um Verstehen bis zu einem gewissen Grad wenigstens zu ermöglichen. Und dafür ist es nötig, sich solchen Texten auszusetzen. 

 

Ivy Compton-Burnett: The Last and the First.

Man bekommt, was man von Ivy Compton-Burnett (1884 bis 1969) erwarten kann: Einen Roman, der von Dialogen dominiert wird mit dem üblichen „X-and-X“ Titel, in dessen Mittelpunkt verwickelte, zumeist repressive Familienverhältnisse stehen. Dies ist also auch in diesem, ihrem letzten und unvollendeten Roman der Fall, wobei dieser für ihre Verhältnisse vergleichsweise viel Beschreibungen enthält – in charakteristischeren Werken sind fast ausschließlich Dialoge zu finden. Naturgemäß sind diese wie erwähnt auch hier vorherrschend und in der üblichen scharfen, oft ironischen, hin und wieder absurden Art abgefasst, etwa wenn explizit aneinander vorbeigeredet wird. Die Familie steht hier unter der strengen Kontrolle der Herrin des Hauses, und setzt sich aus deren eigenen Kindern und denen ihres Mannes aus erster Ehe zusammen, von denen eine der Töchter, Hermia, sich dem herrschenden Regiment entziehen möchte, in dem sie – unstandesgemäß – als Lehrerin in einer kleinen Privatschule anheuert. Ihr anstehender Auszug sorgt für heftige Kontroversen – noch dazu misslingt das Vorhaben: Nach nur wenigen Monaten kommt sie gescheitert zurück. Doch ein Verehrer aus der Nachbarschaft, der sie nur flüchtig auf einer Veranstaltung kennengelernt, ihr aber kurz darauf schriftlich einen Heiratsantrag gemacht hat, stirbt unerwartet und hat noch viel unerwarteterweise ihr sein Vermögen vermacht obwohl sie seinen Antrag seinerzeit abgelehnt hatte. Da die Familie inzwischen in finanzielle Nöte geraten ist, steigt Hermia zur Retterin auf, die Macht ihrer Stiefmutter ist gebrochen. Der Reiz Compton-Burnetts liegt natürlich immer in der subtilen Psychologie der Dialoge, den unterschwelligen Botschaften und Machtspielen, die unter der diplomatisch-höflichen Sprache des Viktorianismus verkleidet sind und der Kunst, Charaktere fast nur durch Dialoge zu erschaffen. Da der Roman nicht mehr von ihr überarbeitet werden konnte, ist dies in „The Last and the First“ nur bedingt gelungen, für die Fans der Schriftstellerin war die Veröffentlichung des Manuskripts sicherlich ein Glück, ansonsten zählt er – in dieser Form – nicht zu ihren besten. 

 

George Saiko: Die Erzählungen.

Erzählerisch liegt zwischen den wenigen frühen Geschichten des österreichischen Schriftstellers George Saiko (1892 bis 1962) und den späteren ein deutlicher Bruch und dies kann in mehrfacher Hinsicht nicht überraschen. Das liegt nicht nur an der ungleichen Mengenverteilung – nur zwei aus der Frühzeit sind bekannt –, sondern auch den exakt fünfzig Jahren, die zwischen den ersten beiden und den späteren Texten vergangen sind. So entstanden die ersten noch vor dem Ersten Weltkrieg, die zweite Phase erfolgte jedoch erst nach dem Zweiten in den 1950er Jahren, dafür aber mit hoher Produktivität. Was sich in all der Zeit nicht geändert hat, ist das psychologische Interesse Saikos. Vielleicht weil sie noch traditioneller geschrieben ist und ein eher klassisches Thema behandelt, ist gerade die erste Erzählung „Das letzte Ziel“ besonders fesselnd: Der knöcherne und korrekte k.u.k.-Beamte Schneider wird befördert, eine an sich alltägliche Sache, die jedoch sein Leben völlig umkrempelt. Hätte er mit dem nun erhöhten Lohn nicht eine Familie gründen können, als dies noch sein Wunsch war? Und ist es vielleicht gar nicht zu spät? Aber es ekelt ihn vor seiner gealterten Frau. Das erste Kind war gestorben und damals waren beide froh darum, es passte nicht in die Lebensplanung, hätte ein Dasein in Armut bedeutet. Jetzt scheint die Chance zur Revision gekommen. Schneider wird immer mehr besessen von dem Gedanken, seine Frau könnte schwanger sein, er wird wunderlich, nachlässig im Amt, seine frühzeitige Pensionierung droht. Nur seine Frau und ihre Schwangerschaft, die er überall schon angedeutet hat, können ihn noch retten. Er bereitet alles vor – und es kommt zur Katastrophe. In den Geschichten der Nachkriegszeit reduziert Saiko solche Obsessionen immer mehr hin zu Andeutungen. Die Vorgänge im Innern bleiben oft unausgesprochen, die Texte sind voller Lücken, ohne bruchstückhaft zu wirken. Doch wird es den Leser:innen überlassen, das Geschehen und seine Motivationen zu ergründen, ein nicht immer einfaches, zumeist sogar anstrengendes Unterfangen, weil dies beim Lesevergnügen akribische Aufmerksamkeit erfordert und es darum nicht unbedingt zur entspannten Lektüre für ruhige Stunden macht. Dafür sind allerdings auch die Themen nicht geeignet, meist sind es subtil ausgetragene Beziehungskonflikte, dazu mehr und mehr auch die Verbrechen der Truppen während des Krieges. Vermutlich hat auch die anspruchsvolle Erzählweise dazu geführt, dass Saiko einerseits erst spät größere Anerkennung erfuhr und heute größtenteils wieder nur noch eingefleischten Kenner:innen der österreichischen Literatur ein Begriff ist. 

                                                                                                                                                                        

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