Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste.
Welche Art von Buch ist das genau? Wer auch immer sich am beliebten Spiel der Gattungen oder Genres beteiligen mag, wird sich mit Judith Schalanskys (geboren 1980) Text äußerst schwertun. Erzählungen, Reportagen, Essays? Ist es überhaupt ‚Literatur‘ und nicht eher ein Sachbuch? Nun, von allem ein bisschen. Schon die kurze Vorbemerkung zieht einen in Bann, eine Aufzählung, sprich ein „Verzeichnis einiger Verluste“, die scheinbar unwiederbringlich im doch immerhin an sich überschaubaren Zeitraum der Abfassung des Buches verloren gegangen sind, von Kunstwerken über Tierarten bis hin zu Bauwerken. Scheinbar, weil gleich darauf eine Seite mit – anderen – Dingen folgt, die oft unerwarteterweise (wieder) entdeckt wurden: verloren geglaubte Textfragmente, ausgestorben geglaubte Tiere und versunkene Schiffswracks. Das mag trösten, ausführlich widmet sich das Buch jedoch nur dem Verlorenem. Nach einer jeweils historischen Einordnung erfolgt schließlich eine Erzählung, die in mal enger, mal loser Weise mit dem verlorengegangen Objekt in Verbindung steht. Auch hier ist die Bandbreite groß: Vom Palast der Republik über einen Film von Murnau zum kaspischen Tiger oder antiken Texten Sapphos und des Religionsgründers Mani. Ob diese literarische Kombination von Sachtext mit Erzählung so gelungen ist, darüber kann man streiten. Zumindest lesen sich erstere mit mehr Spannung, die erzählerischen Teile sind eher durchwachsen, mal mehr, mal weniger gelungen, symptomatischerweise ist gerade der beste, der über Sappho, einem nüchternen Bericht am nähesten. Eine anregende Lektüre ist das Buch trotzdem – und wie stets bei Büchern von Judith Schalansky ist allein schon die von ihr selbst gestaltete Aufmachung buchstäblich sehenswert.
Bernhard Kellermann: Yester und Li.
Während der Weimarer Republik gehörte der gebürtige Fürther Bernhard Kellermann (1878 bis 1951) zu den gefragtesten Schriftstellern, seine Bücher waren Beststeller, heute ist er so gut wie vergessen, bestenfalls sein Erfolgsroman über ein gigantisches Bauprojekt, „Der Tunnel“, findet sich noch wiederaufgelegt. Dabei war schon sein Debüt, „Yester und Li“, die, wie der Untertitel sagt, „Geschichte einer Sehnsucht“, vielverheißend. Der Schriftsteller Ginstermann lebt nach exzessiver Jugend seit langem zurückgezogen, fast misanthrop, nur aus Gefälligkeit einem Künstlerfreund gegenüber besucht er eine Vernissage, wo er die Möglichkeit frühestmöglich wieder zu verschwinden ergreift, indem er zwei jungen Frauen die Begleitung nach Hause anbietet. Beide sind nett, aber die eine, Bianka, fordert seine Aufmerksamkeit heraus, fast gegen seinen Willen fühlt er sich von ihr angezogen. Doch sein Verhalten wird ihm, nachdem er sie längere Zeit nicht gesehen hat, selbst wieder fremd, hat er sich doch zudem als Frauenverächter stilisiert. Doch eine zufällige Wiederbegegnung bringt ihn und sein Bild von sich selbst wieder ins Wanken, insbesondere, da er Bianka mit einem ihr offenbar gut vertrauten Mann antrifft. Ginstermann wird immer unsicherer, er schwankt zwischen irrationaler Verehrung, die sich teilweise sogar von der echten Bianka abkoppelt und sich auf eine Büste von ihr und literarische Figuren überträgt und echter Sorge, als sie für längere Zeit krank wird. Doch auch das Verhältnis zu ihr und ihr Verhalten überhaupt bleiben ambivalent, sieht sie in ihm nur den guten Freund – oder doch mehr? Zwar wird das Zutrauen immer größer, doch auf den gemeinsamen Spaziergängen ist es eher ein Umkreisen, Bianka weicht allen eindeutigen Signalen stets aus. Ein Zusammenkommen scheint aufgrund der unterschiedlichen Verhältnisse ohnehin unmöglich, Bianka ist aus bestem Hause, Ginstermann nur Teil des Kulturprekariats. Und dann kommt ihre Ankündigung, dass die Familie die Stadt Richtung Ausland verlassen wird – für immer. Der Abschied rückt stetig näher, auch wenn Ginstermann dies scheinbar erfolgreich verdrängen kann. Ein letztes Treffen wird anberaumt. Kellermann deutet hier seine Kunst bereits an, die an sich ja eher banale Geschichte ist der Neusachlichkeit – im Jahr 1904! – bereits näher als der Neuromantik oder Dekadenz jener Tage, die Schilderung der Annäherung der beiden ist sprachlich schön, aber auch psychologisch durchdacht, einfach ein klassisches, zutiefst menschliches Leseerlebnis – mit einem überraschenden Ende.
Isaac B. Singer: Leidenschaften.
„Geschichten aus der alten und neuen Welt“ verspricht der Untertitel den Leser:innen des zumeist jiddisch und englisch schreibenden, aus Polen stammenden Literaturnobelpreisträgers Isaac B. Singer (1904 bis 1991). Die alte Welt ist die der jüdische Bewohner Osteuropas, deren Kultur durch die brutalen Pogrome in Russland und Rumänien der Zeit vor und um den Ersten Weltkrieg, vor allem jedoch natürlich durch die Vernichtungsmaschinerie der deutschen Nazis komplett ausgelöscht wurde. Die neue Welt ist die der in die Vereinigten Staaten geflüchteten, wo sie sich oft etablieren konnten, gesellschaftlich aufsteigen, aber ihre Herkunft und ihre Traumata sich weder verleugnen noch ignorieren lassen. Die Erzählungen leben von diesen Kontrasten einer fast archaischen Dorfwelt, bestimmt von Diskussionen der Rabbiner, armen, aber oft streng frommen Juden, schon damals Feindseligkeiten ausgesetzt, aber zugleich mit eigenem Stolz ausgestattet, der sich seiner weit zurückreichenden Tradition bewusst ist. Dem gegenüber stehen die Entflohenen oder schon lange Ausgewanderten, die längst Teil der modernen Lebenswelt sind, oft gut betucht sind, die aber selten glücklich wirken, die ihre Spleens und Eigentümlichkeiten mit sich herumtragen. Dazwischen Geschichten von Schriftstellern und deren Erlebnissen auf Reisen oder mit ihren Leser:innen. Den Mittelpunkt bilden stets die zwischenmenschlichen Begegnungen, sei es in irgendwelchen kleinen polnischen Dörfchen, auf südamerikanischen Lesetouren oder in teuren Hochhauswohnungen New Yorks. Und manchmal sind diese Aufeinandertreffen auch ein bisschen unheimlich. Singer war ein begnadeter, schnörkelloser Erzähler, der weder zu Mystifikation neigt – oder diese sehr nüchtern zu schildern weiß – der nicht larmoyant über die Verluste trauert, selbst wenn das verständlich wäre, sondern mit einem subtilen Humor die Schrecken, die oft hinter den Leben seiner Protagonist:innen stehen, fast noch eindringlicher macht, da sie in den Alltag integriert werden mussten – sei es aktuell, weil die Bedrohung noch existiert, sei es im Nachhinein, da man kaum erträgliches Leid erfahren hat. Wie gesagt, ein begnadeter Erzähler.
Paul Nizan: La conspiration.
Paul Nizan (1905 bis 1940) führt in Deutschland noch immer ein Schattendasein, obwohl vor allem seine essayistischen Werke in den 1970er Jahren auch hierzulande in gutzugänglichen Großverlagen aufgelegt wurden. Möglich machte dies die Inspirationssuche der 68er, bot Nizan, ein Freund Sartres, doch eine Verbindung zwischen nicht-dogmatischem Marxismus – er war aufgrund Stalins Politik aus der KP ausgetreten – und existentialistischem Einfluss, zudem war Nizan bei Dünkirchen als Opfer des deutschen Überfalls auf Frankreich gefallen. Sein früher Tod trug aber gleichzeitig auch mit zu seinem frühen Vergessen bei, wenn er auch bis dahin bereits sehr produktiv gewesen ist. Neben seinen heute fast bekannteren Essays hatte er drei Romane verfasst, die sich mit autobiographischen Anleihen den Dilemmata dessen, was man später Engagement nannte, beschäftigten. In „La Conspiration“ sind es durch ihre gesellschaftliche Herkunft privilegierte Jugendliche, die zwar die besten französischen Schulen und Universitäten besuchen können, das Klima in ihren Familien, aber auch im französischen Staat am Ende der 1920er Jahre nicht mehr ertragen wollen. Ihre Suche nach Auswegen, nach der Möglichkeit zur Tat, führen jedoch unweigerlich in Katastrophen. Während die Gründung einer Zeitschrift für einige wenige Gesinnungsgenossen zwar durchaus erfolgreich anläuft, aber sonst über ihren Kreis hinaus keinerlei Wirkung zeigt, verabreden sie sich zur titelgebenden Verschwörung. Ein Bekannter, der seinen Wehrdienst ableistet, soll Militärgeheimnisse in Erfahrung bringen und aus der Kaserne schmuggeln. Das Vorgehen ist dilettantisch: Nicht nur, weil der Soldat schon nach kurzer Zeit erwischt wird – er kann sich aber rausreden –, sondern vor allem, da die Jungen mit den tatsächlich erbeuteten Plänen nichts anzufangen wissen. Alles bleibt in der Schwebe, da der führende Kopf der Gruppe das Interesse verliert, beziehungsweise es von einer Verliebtheit verdrängt wird. Die Angebetete, die auch auf seine Avancen eingeht, ist allerdings die Frau seines älteren Bruders. Auch dieser Ausbruchsversuch aus der Lethargie scheitert, erst im innerfamiliären – und äußerlich vertuschten – Skandal, dann durch einen wiederum eher beiläufig glückenden Selbstmordversuch. Der dritte unternommene Versuch, sich dem Ennui zu entziehen ist die Unterordnung unter das große Ganze, der Eintritt in die kommunistische Partei, doch auch hier wird die Sehnsucht nach – schneller, spürbarer – Veränderung nicht erfüllt: In einem Akt der Frustration wird das Neumitglied, der einzige aus der Gruppe, der aus kleineren Verhältnissen stammt und deshalb noch mehr nach Akzeptanz strebt, zum Verräter. Nizan spielt also verschiedene Varianten des Aufbegehrens durch, die aber an den Verhältnissen sowie den Ansprüchen der Gruppenmitglieder scheitern. Seine Kunst besteht darin, dass er dies auf erzählerisch nachvollziehbare, gut lesbare Weise tut, so dass ein großartiger Roman entstanden ist.
Julia Franck: Rücken an Rücken.
Die Kinder bereiten akribisch das Haus auf die Rückkehr der Mutter vor: alles, wirklich alles, wird geputzt, gewienert, poliert, gewaschen, geordnet und gespült. Ein Essen wird liebevoll vorbereitet, der Tisch gedeckt, mit Blumen dekoriert. Doch was folgt, sind weder Lob noch Dankbarkeit, sondern Ignoranz, Vorwürfe und Kritik. Die alleinerziehende Mutter Käthe, Bildhauerin, hat generell wenig übrig für ihren Nachwuchs, die beiden Älteren, Ella und Thomas, leben mit im Haus, die beiden Jüngeren, ein Zwillingspaar werden ins Heim oder zu Pflegeeltern abgegeben. Für Käthe zählen nur sie selbst, ihre Kunst und der Aufbau des Sozialismus, ihre Kinder sind Beiwerk, der intelligente Thomas dient ab und zu als Modell, verachtet aber den real existierenden Ulbricht-Sozialismus, der ihm seine Wunschkarriere verwehrt und durch den Mauerbau den Staat zum Großgefängnis umbaut. Ella schwankt zwischen Rebellion und Flucht in die Krankheit, doch beide hängen geradezu hündisch an ihrer Mutter, trotz der ihnen gegenüber gezeigten offensiven Kälte. So richtig motiviert wird dies nicht, einerseits kommt es immer wieder zu Streit, sei es aus persönlichen oder politischen Motiven, auch versuchen sich die beiden immer wieder, gemeinsam oder einzeln, dem Einfluss der Mutter zu entziehen, andererseits sind sie jeweils immer wieder bereit, sich geradezu zu demütigen, sinnloserweise, da jeder Liebesbeweis, wie schon der Beginn gezeigt hatte, auf keinerlei Erwiderung stößt. Woher also diese unendliche Treue zur Mutter kommen soll, die letztlich nur Katastrophen heraufbeschwören wird, bleibt unklar. Diese masochistische Unterwürfigkeit macht die Kinder nicht unbedingt sympathisch, doch lässt sich mit ihnen immer noch mehr mitfühlen als mit der verbohrten Käthe, einer holzschnittartigen Figur, deren an sich ebenfalls schwieriges Schicksal aufgrund der groben Zeichnung und ihrer in so gut wie jeder Situation Vorhersehbarkeit kein Mitgefühl erweckt. Ähnlich karikaturhaft bleibt auch der politische Hintergrund, Käthe verklärt naiv den Aufbau des Sozialismus, Thomas führt hilflos folgenlose Tiraden auf, ein Untermieter von der Stasi ist ein Überbösewicht, der Ella vergewaltigt. Man folgt dem auch sprachlich hin und wieder entgleisenden Roman Francks (geboren 1970) lange Zeit nur ungern, bis die Liebesgeschichte Thomas zur Krankenschwester Marie beginnt, hier tut sich eine tatsächlich schöne, fast sanfte Erzählung auf und man wünschte sich, der ganze grob geschnitzte Vorlauf wäre einfach weggelassen worden und Julia Franck hätte sich auf diesen Teil der Erzählung konzentriert. Hier fällt das ganze Adenauerhafte weg und man wird in den Bann der Tragik gezogen. Selbst Käthe hat dann am Ende plötzlich ihren sympathischen Moment. Viel verschwendetes Potential, aber das Potential ist in diesem Teil mehr als spürbar.
Frank-Wolf Matthies: Unbewohnter Raum mit Möbeln.
Frank-Wolf Matthies (geboren 1951) gehörte zu den oppositionellen und vom Staat drangsalierten – er hatte mehrere Haftstrafen wegen vermeintlicher politischer Vergehen abzusitzen – Schriftstellern der DDR, 1981 reiste er nach West-Berlin aus. Kurz zuvor war – in der legendären Reihe „das neue buch“ des Rowohlt-Verlages – sein kurzer Prosaband „Unbewohnter Raum mit Möbeln“ erschienen, sprich zu einer Zeit, da er noch im Arbeiter- und Bauernstaat weilte. Der Text verweigert die Konventionen des dort gewünschten Schreibens und nutzt Mittel, die eher an den französischen nouveau roman erinnern, sehr akribische, stark perspektivische und sich teils wiederholende Beschreibungen. Inhaltlich handelt es sich um Alltagsabläufe, die allerdings Einschränkungen und einer gewissen Paranoia zu unterliegen scheinen. Letztlich fehlt den Erzählungen jedoch die Virtuosität der französischen Werke, das Ganze liest sich doch reichlich sperrig, unter der Anstrengung der Entzifferung geht der Blick auf den Inhalt irgendwann verloren.