Dienstag, 30. Januar 2018

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (5) - Julio Cortázar: Rayuela. Himmel-und-Hölle.


Julio Cortázar: Rayuela. Himmel-und-Hölle. st 2579

 

Nicht von ungefähr erschien Julio Cortázars (1914-1984) Roman Rayuela, dem man im Deutschen zur Erläuterung den hier geläufigeren Namen der argentinischen Variante dieses Hinterhof- und Straßenspiels Himmel und Hölle beigefügt hat (wer das Spiel nicht kennt, siehe 253f), als erster südamerikanischer Text in der Reihe der Romane des Jahrhunderts. Mit dem bahnbrechenden Werk Cortázars, berühmt geworden durch seine die Realität auflösenden Erzählungen, von 1963 begann die große Zeit der lateinamerikanischen Literatur, was ihre Rezeption in der übrigen Welt anging. Zwar blieb Cortázar neben der Anerkennung der Kritiker und Kollegen selbst eher ein Autor für eine überschaubarere Lesergemeinde, doch sind die berühmten Schriftsteller*innen von Marquez über Allende bis Llosa ohne ihn nicht denkbar – wie sie selbst auch freimütig zugeben. In kurioser Rückkopplung führte dies dann 1981 aufgrund ihrer Erfolge endlich auch zur Übersetzung von Rayuela ins Deutsche.

Auf seine Weise ist dieses Buch viele Bücher (7) warnt mit biblischem Anklang gleich der Wegweiser zu Beginn und gibt hilfreiche Tipps zur Lesegestaltung mitsamt einer Kapitelreihung in Zahlen, denn einfach von Kapitel 1 zu 2 und 3 voranschreiten kann man, muss – und sollte – man aber nicht, schließlich hüpft man auch beim Himmel und Hölle nicht einfach nur geradeaus. Doch dazu kommen wir noch. Die Handlung des Romans ist schnell erzählt: Horacio Oliveira, ein junger Argentinier, den es in die Kreise einer Clique internationaler Bohemiens in Paris verschlagen hat, lebt dort mit Gesprächen in der Runde und seiner Geliebten Maga – der Zauberin – sowie ihrem Kind aus einer früheren Beziehung dahin. Hinter Horacios versnobter Gefühlskälte, die ihn die neugierige und offene, ihm aber intellektuell unterlegene Maga mies behandeln lässt, obwohl er sie abgöttisch liebt, verbirgt sich eine tiefe Melancholie, die ihn nie zur Ruhe kommen lässt, das Glück musste etwas anderes sein, etwas, das vielleicht trauriger war als dieser Frieden und diese Lust, etwas Einhornartiges, Inselhaftes, ein unaufhörliches Fallen in der Bewegungslosigkeit (27). Die Beziehungen zu seinen Freunden in Paris bleiben lose, er vergrault die Maga mit Eifersüchteleien und seinem Unverständnis gegenüber ihrer Trauer um ihren plötzlich verstorbenen Sohn. Eines Tages ist sie verschwunden und Horacios Suche nach ihr – eine Suche mehr – vergeblich.

Die Maga wird seine Obsession bleiben, auch als er – zweiter Teil des Romans – nach Südamerika zurückkehrt, er war sich klar darüber, dass die Rückreise in mehr als einem Sinn die Hinfahrt war (269). Horacio kommt bei seinem Freund Traveler unter, doch bleibt er in Außenseitergesellschaften: erst Bohemien und Ausländer in Paris, hilft er hier bei einem Zirkus aus, der sich später auflöst und stattdessen zum Personal einer Irrenanstalt wird. Doch Horacio ist auf dem besten Weg, vom Betreuer zum Insassen zu werden, sein Verhältnis zu Traveler trübt sich, nicht zuletzt, weil er in dessen Freundin Talita mehr und mehr die Maga wiederzuerkennen glaubt. Symptomatisch ein Dialog zwischen Traveler und Horacio, der auch das Verhältnis Erzähler/Autor-Leser*in gut beschreibt:

-          Na und? sagte Traveler. Warum muss ich deine Spielchen mitspielen, Bruder?

-          Die Spiele spielen sich von selber, du bist es, der ein Stöckchen dazwischensteckt, um das Rad anzuhalten.

-          Das Rad, das du gebaut hast, wenn wir schon davon reden wollen.

-          Ich glaube nicht, sagte Oliveira. Ich habe lediglich die Umstände heraufbeschworen, wie die Eingeweihten sagen. Man hätte das Spiel ehrlich spielen müssen. (292f)

Der zweite Teil – und mit ihm die Romanhandlung – endet ohne Abschluss. Es folgt der Abschnitt Von anderen Ufern voller Kapitel, die man getrost beiseite lassen kann (409), der Ergänzungen, Zitate, Zeitungsausschnitte und die sogenannten Morelliana, Aussagen des Dichters Morelli, eines alter egos Cortázars, aneinander reiht, natürlich ungeordnet, ein plastisch sich veränderndes Universum voll des wunderbaren Zufalls (429) oder anders: Mein Buch kann man so lesen, wie man Lust hat (628), so Morelli – wozu man allerdings die Leseanleitung zu Beginn hätte ignorieren müssen, ganz so einfach ist es nämlich wiederum nicht.

Natürlich ist es ein – siehe das Streitgespräch – extrem spielerischer Roman. Dies weniger in einem streng experimentellen Sinn, wie er nur gelegentlich, etwa in Kapitel 34 auftaucht, wo sich Horacios innerer Monolog zwischen die Zeilen eines Schundromans schiebt, sondern im Umgang mit der Form: Provozieren, sich einen Text zur Aufgabe machen, der schlampig gemacht ist, unverbunden, inkongruent, der bis ins letzte gegen die Kunst des Romans (obgleich nicht gegen den Roman) verstößt (455), ein Geheimnis bieten, das der Leser-Komplize suchen muss (457), so kommentiert sich das Verfahren ständig selbst im Text. Und dies nicht ohne Ironie, wie das wunderbare Schlüsselkapitel 23 belegt, indem Oliveira mehr oder weniger versehentlich das Klavierkonzert einer avantgardistischen Pianistin besucht, die mit ihren verfremdeten synkretistischen Dodekaphonikstücken alle ihre anfangs gut 200 Zuhörer nach und nach in die Flucht schlägt. Auch Horacio will gehen, bleibt aber aus Mitleid, begleitet die enttäuschte Künstlerin sogar nach Hause – gedankt wird es ihm nicht. Wir sind hoffentlich mehr als ein Leser oder eine Leserin, die aus Zufall zu einem Roman gegriffen haben, der höchste Ansprüche an uns stellt und den wir nur aus Mitleid mit dem Autor, der sich doch immerhin die Mühe gemacht hat, fast 650 Seiten zu Papier zu bringen, ratlos zu Ende liest – dafür könnten auch wir sicher keinen Dank erwarten. Doch Rayuela ist eben ein Spiel, dessen Regeln man akzeptieren oder während des Lesens neu ordnen muss, das aber vielleicht auch den Ehrgeiz herausfordert, den Drang, hinter das erwähnte Geheimnis zu kommen, das in dem Sog liegt, den der Roman recht schnell entfaltet – und der nicht wenig von seiner brillanten Sprache ausgeht. Es ist eben ein Text im Sinne Morellis: Was ihn zum Beispiel auf die Palme bringt, ist der Roman nach Art eines chinesischen Rollbilds. Ein Buch, das man von Anfang bis Ende liest, ein gehorsames Kind (506) oder mit den Worten Horacios, wer feste Verabredungen traf, gehört zu denen, die liniertes Papier verwenden, wenn sie einander schreiben, und die Zahnpastatube von unten drücken (15).    

Vorgänger: Hermann Hesse - Das Glasperlenspiel.    
 

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