Mittwoch, 4. April 2018

Lektüremonat März 2018.

 

Fernand Pouillon: Singende Steine.

Pouillons (1912-1986) Roman ist ein ziemlich ungewöhnliches Buch. Der Autor, ein in Frankreich angesehener Architekt, schrieb es während einer langwierigen Untersuchungshaft aufgrund eines Finanzskandals, die letztlich mit seinem Freispruch endete. Diese Grundvoraussetzung ist unterschwellig im Text durchaus spürbar, auch wenn der Inhalt scheinbar ganz anderer Natur ist: in Tagebuchform berichtet der Zisterziensermönch und Baumeister Wilhelm von Balz von den schwierigen Anfängen der Errichtung einer neuen Abtei in einer unwirtlichen Gegend, wofür er zudem die sehr strengen Vorschriften der Zisterzienser mit den örtlichen Gegebenheiten, aber auch seiner künstlerischen Verwirklichung in Einklang bringen muss – abgesehen vom täglichen Kleinkram der Bauleitung. Pouillon schafft ein faszinierendes Buch, das weder an einer altertümelnden Sprache, noch zu vielen architektonischen Technizismen krankt, sondern einen klaren nüchternen Stil aufweist, der den Geist des Baues selbst gut charakterisiert. Sein Vorhaben, sich in einen Kollegen des 12. Jahrhunderts hineinzuversetzen, ist ihm gelungen – und wer das Ergebnis nicht nur lesen, sondern auch sehen möchte: das Kloster Thoronet in der Provence ist fast stilrein erhalten. 

Maarten ‘t Hart: Ein Schwarm Regenbrachvögel.

Und wieder mal ein Niederländer, der sich – zu Recht – auch bei uns großer Beliebtheit erfreut. Wie vermutlich schon mehrfach erwähnt, ist die zeitgenössische niederländische Literatur eine sehr facettenreiche mit vielen großartigen Autor*innen. Kein Wunder also, dass sie hier immer wieder auftauchen. ‘T Harts (geboren 1944) Roman ist eine ziemlich melancholische Rückschau – mit autobiographischen Elementen – eines einsamen jungen Mannes, der mit dreißig zwar bereits angesehener Biologieprofessor geworden ist, sich aber nie von den Vorgaben seiner isolierten Kindheit auf dem Land mit religiösen Eltern befreien kann, die ihn in Bruchstücken stets wieder einholt. Am sichtbarsten und schmerzlichsten zeigt sich dies in seiner Sehnsucht nach Frauen, denen er sich nie offenbart, weshalb sie ihm schließlich entschwinden. Zurück bleibt ein immer mehr vereinsamender Mensch. Traurige Geschichte, glänzend geschrieben – dank ‘T Harts freundlich-ironischer Erzählhaltung verfällt man deshalb zum Glück beim Lesen nicht gleich vollends der Depression. 

Isabel Allende: Fortunas Tochter.

Mit Fortunas Tochter wollte Isabel Allende (geboren 1942) nach langer Zwischenzeit an „Das Geisterhaus“, ihr fulminantes Debut, anknüpfen, der Roman versteht sich als Teil einer Trilogie über chilenische Frauen. Was hier nicht gänzlich zutrifft, ist die Protagonistin Eliza doch ein Waisenkind, das in der englischen Kolonie von Valparaíso aufwächst, auch spielt ein Großteil des Romans im Kalifornien des Goldrausches um 1849. Auch wenn Fortunas Tochter nicht an „Das Geisterhaus“ heranreicht – trotz der selbstbewussten weiblichen Hauptfigur Eliza ist diese sehr stark von den männlichen Charakteren abhängig, ganz anders noch als ihre Nachfahrinnen bzw. Vorgängerinnen aus dem Debut – hat Isabel Allende all ihre erzählerischen Fähigkeiten aufgeboten, um wieder allerlei skurrile Figuren, seltsame Bräuche und Spleens, überraschende Wendungen und umkämpfte Liebesgeschichten in spannender Manier aneinanderzureihen. Und so ist erneut ein literarischer Reißer entstanden, den man mit viel Freude verschlingt. 

Herbert Rosendorfer: Die Goldenen Heiligen oder Columbus entdeckt Europa.

Der Altmeister der literarischen Satire Rosendorfer (1934-2012) nimmt sich in seinem Roman aus den 1990er Jahren die New-Age-Welle vor, in gewohnt brillanter und sehr lustiger Manier. Doch das Buch hat viele unterschwellige Strömungen dystopischer Natur – denn die 1992 bei Paderborn landenden Außerirdischen sind keineswegs die von den Esoterikjünger*innen erhofften Erlöser, sondern nichts anderes als um das Heil der Menschen reichlich unbesorgte Besatzer. Sich die Erde untertan zu machen fällt ihnen allerdings nicht schwer, denn diese ist nach dem Zusammenbruch ohnehin quasi einfach nur am immer weiter zusammenbrechen, Religion und Rechtsstaat sind längst Esoterik und der Drogenmafia gewichen. Nach dem typischen rosendorferschen ersten Teil des Romans hat man manchmal den Eindruck, dass der Autor im Folgenden etwas über die Stränge schlägt, dahinter verbirgt sich jedoch – darauf macht der Titel nur zu deutlich aufmerksam – eine böse Kritik am Kolonialismus, aber auch am menschlichen Opportunismus, denn natürlich gibt es auch Personen, die mit den Besatzern kollaborieren und noch jede Untat verklären. Rosendorfer trägt, wie gesagt, manchmal dick auf, aber man verzeiht es ihm schnell angesichts der für ihn so charakteristischen Schilderungen der Alltagsabsurditäten und seiner skurrilen Einfälle – welchen Tribut fordern die Außerirdischen von den Menschen? Holländische Holzschuhe. Warum? Wir werden es nie erfahren. 

Marguerite Duras: Emily L.

Erneut ein kurzes Buch der französischen Schriftstellerin (1914-1996) und wie gewohnt ist es geprägt von hoher sprachlicher Kunst und nicht einfacher Zugänglichkeit. Die Szenerie ist einfach: in der Hafenkneipe eines kleinen französischen Ortes am Meer treffen ein sich trennendes Paar aufeinander, das zufällig Ohrenzeige eines anderen Paares wird – drei sehr unterschiedlich verlaufende Liebesgeschichten sind ineinander verschachtelt, alle von der Tragik menschlicher Beziehungen bestimmt. Duras‘ Romane und Erzählungen mit ihrer eigenwillige Umsetzung sind wahrscheinlich nicht jedermanns liebste Lektüre, aber auch in „Emily L.“ zeigt sie sich in Höchstform.  

Peter Shaffer: Five Finger Exercise/Shrivings/Equus.

Und gleich noch ein bereits Bekannter: Der Band versammelt – etwas willkürlich – drei Stücke des britischen Dramatiker Peter Shaffer (1926-2016), von denen „Equus“ schon besprochen wurde. „Five Finger Exercise“ (von 1958) ist ein typisches Familiendrama, in der ein aus Deutschland eingeladener Tutor, ein junger Mann, der vor seinen Nazieltern geflohen ist, Trost und Geborgenheit bei einer englischen Familie sucht, die alles andere zu bieten hat als genau dies. Der Hausherr ist ein Kaufmann und Materialist, seine Frau trauert ihrer Herkunft aus gebildetem französischem Milieu nach, die Tochter ist eine pubertäre Träumerin und der Sohn ein perspektivloser Student, der mit seinen künstlerischen Ambitionen, die vom Vater verachtet werden, nichts anzufangen weiß. Die Ankunft des Tutors bringt die Konflikte erst recht an die Oberfläche. Immer noch tolles Stück mit geschliffenen Dialogen. Mit „Shrivings“ war Shaffer selbst unzufrieden, weshalb er es später noch einmal umschrieb – diese Version von 1970 atmet noch mehr den Geist der Zeit. Ein zynischer Dichter, dessen Erfolge längst zurückliegen, besucht seinen Mentor in dessen zurückgezogenem Refugium, wo dieser sich für den radikalen Pazifismus engagiert. Vor Ort wohnen noch die Sekretärin der Organisation, eine junge Amerikanerin, und der von ihm entfremdete Sohn des Dichters. Letzterer versucht durch eine Wette den Philosophen davon zu überzeugen, dass sein Vorhaben einer friedlichen Existenz, der Nachsicht und Vergebung eine Lebenslüge ist, in dem er seinen Hinauswurf provozieren möchte. Somit setzt er alles daran, seine Wette zu gewinnen und beginnt sein Zerstörungswerk… Man könnte nicht behaupten, dass Shaffer in „Shrivings“ (überarbeitet oder nicht) auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft ist, zum Glück enthält der Band ja die beiden anderen Stücke.


Will Berthold: Der Krieg, der nie zu Ende ging.

Mal was ganz anderes: Der gebürtige Bamberger Will Berthold (1924-2000) war einer der auflagenstärksten Autoren der Bundesrepublik, sowohl als Sachbuchautor – hauptsächlich zu Themen des Zweiten Weltkriegs und der NS-Zeit – als auch für seine populären Romane, die sich zwischen Fiction und Faction ansiedelten. Ein typischer Bahnhofsbuchhandlungsautor. „Der Krieg, der nie zu Ende ging“ ist ein deutsch-deutscher Agententhriller aus dem Mauerbaujahr 1961, der im Titel genannte nie endenwollende Krieg ist dabei einerseits der Kalte, anderseits jedoch derjenige der alten Naziseilschaften, die in Ost und West noch immer ihre ganz eigene Zusammenarbeit pflegen. Kann man mal lesen… 

Judith Hermann: Alice.

Das sympathische an Judith Hermanns (geboren 1970) Schreiben ist, dass sie im Durchschnitt nur alle fünf Jahre ein neues Werk veröffentlicht, was kein vergiftetes Lob sein soll, sondern Bewunderung dafür, dass sie sich dem Druck nach ihrem über alle Maßen erfolgreichen ersten Erzählungsband „Sommerhaus, später“ entzogen und sich die Zeit genommen hat, ein neues eigenständiges Buch zu veröffentlichen – und dies seitdem beibehalten hat. Ihr prägnanter Kurzsatzstil und ihre Vorliebe für Kurzgeschichten prägt auch „Alice“, obwohl es hier eine verbindende – die titelgebende – Protagonistin gibt, die alle Geschichten miteinander verknüpft; erst in der letzten Erzählung führen weitere denn auch weitere Stränge zusammen. Mutig auch das übergreifende Thema: das Sterben. In Variationen widmet sich Hermann diesem äußerst schwierigen Motiv, ohne in die Untiefen der Betroffenheit zu geraten. Schließlich handelt es sich um ein Thema, dass die Generation von Alice eigentlich nur peripher betrifft, beziehungsweise zu betreffen scheint, in ihrem Alter liegt es vermeintlich, was den Umgang mit dem langsam, plötzlich, nah oder fern eintretenden Tod keinesfalls leichter macht. Absolut lesenswert! 

Cees Nooteboom: Roter Regen. Leichte Geschichten.

Ein Band mit zahlreichen kurzen (fast immer) autobiographischen Erzählungen aus der Feder des niederländischen – schon wieder! – Großmeisters Cees Nooteboom (geboren 1933). Leichte Geschichten sind es, weil Nooteboom hier sozusagen unbeschwert Episoden aus seinen Erfahrungen als Reiseschriftsteller als Ergänzungen zu seinen eigentlichen Reportagen – aber auch zu seinen Romanen – berichtet, über seine Nachbarn auf Menorca, über seine Kochversuche, über Krankheiten, Haustiere und Gartenkunst. Und leichte Geschichten sind es auch, weil sie sich wunderbar lesen lassen. Nooteboom eben.  


V.S. Naipaul: The Mimic Men.

Und noch ein Autor von Reisereportagen und Romanen, nur ein Jahr jünger als Nooteboom: der Literaturnobelpreisträger (2001) V.S. Naipaul, geboren 1932 auf Trinidad und Tobago. „The Mimic Men“ lässt einen bereits mit vierzig Jahren gescheiterten Politiker eines karibischen Inselstaates auf seine Londoner Studienzeit in ärmlichen Verhältnissen, seine Rückkehr auf die heimatliche Insel und die dortigen Konflikte der Familie – sein Vater verlässt diese, um eine Sekte zu gründen – seine kurze Karriere als Politiker und seine unglückliche, mit Scheidung endende Ehe zurückblicken, Umstände, die ihn wieder nach London zurückzwingen, nun als Exil. Klingt interessant? Ist es aber nicht. Unglaublich dröger Roman, quälend zäh zu lesen. 

Otto Knopf: An geheimnisvollen Orten.

Band mit Erzählungen des oberfränkischen Heimatforschers Otto Knopf (1926-2005) in erwartbar traditionellem Stil, mehr oder minder geschickt das zeitgenössische Leben im Frankenwald mit Sagenmotiven der Region verbindend. Durchaus mit eigenem Reiz, sind die Geschichten im Großen und Ganzen eher etwas für Liebhaber*innen der ostoberfränkischen Heimat. Zu lesen am besten bei Kachelofenfeuer in langen Winternächten. 

Henry Mackenzie: The Man of Feeling.

In der Einleitung des Romans wird eine Aussage von 1788 zitiert: „A Rousseau will ever be esteemed in France – a Goethe in Germany – and a Fielding and a Mackenzie will be admired whilst the English language is understood.“ Der Autor des Vorworts, Brian Vickers, nennt diese Prophezeiung mit freundlichem britischen Understatement „unlucky“. Gleichwohl war das Buch des Schotten Mackenzie (1745-1831) ein von Leser*innen und Kolleg*innen gleichermaßen geschätzter seinerzeitiger Bestseller und ist unzweifelhaft ein Klassiker der englischsprachigen Literatur. Dass er sich heute – und schon einige Jahrzehnte nach Erscheinen – anders als Rousseau, Goethe und Fielding nicht mehr der großen Gunst des Publikums erfreute, lag eher an der allgemeinen Abwendung vom Genre des sogenannten „sentimentalen Romans“, dessen Hauptexponenten Samuel Richardsons „Pamela“ und eben Mackenzie darstellten – und das schon bald zur Parodie herausforderte, unter anderem der genannte Fielding veröffentlichte einen Roman namens „Shamela“. Warum, wird jedem heutigen Leser und jeder heutigen Leserin schnell klar: es wird unendlich viel geweint auf diesen Seiten, kein Wunder, erfährt der Protagonist Harley seine „sentimentale Erziehung“ doch durch die Begegnung mit allerlei Personen, denen unschuldig übelst mitgespielt wurde. Und so können er und seine Leidensgenoss*innen sich menschlich bewähren und wir die Taschentücher auspacken.                                        

  
 

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