Mittwoch, 11. April 2018

Mit Fräulein Annika unterwegs...zu den Goldbacher Heidenhöhlen.

 


Geheimnisvolle Höhlen, ungelöste Rätsel, ein tragisches Ende, das Ganze eingebettet in eine wunderschöne Landschaft am Seeufer. Was wie der Plot für einen guten Unterhaltungsroman klingt, ist die Geschichte der Heidenhöhlen, früher Heidenlöcher genannt, am Bodensee, genauer am Überlinger See zwischen eben dieser Stadt und dem Nachbarort Sipplingen. Grund genug für uns, sich dorthin aufzumachen, geleitet von der uns eigenen natürlichen Neugier. Wer jemals diesen kurzen Abschnitt mit dem Auto oder der Bahn gefahren ist – letzteres besonders hübsch, da man direkt am Wasser entlang, gewissermaßen über den Strand, gleitet, übrigens das einzige mal auf der den ganzen See umrundenden Bahntrassen – dem fallen die bizarren Felsformationen auf, die sich hier sehr steil hochschwingen, sehr schnell vom Wasserniveau auf gut 400 Metern sich teils bis auf über 600 Meter. Das hier zutage tretende Gestein ist die für den Bodensee typische Molasse, was ein bisschen nach Knetmasse klingt, womit man gar nicht so falsch liegt, handelt es sich doch um zusammengepressten Matsch des einst hier vor sich hin plätschernden Urmeers – lange vor dem Bodensee und etwas größer den gesamten heutigen Alpenraum bedeckend – der sich später verhärtet hat zu Sandstein. Allerdings ist verhärtet leicht übertrieben, manch andere Gestein könnte darüber nur lachen, wenn es lachen könnte, denn die Molasse ist vergleichsweise weich. Übrigens: im Gegensatz zum Ufer gegenüber – dem Bodanrück – setzt sich der Fels unter Wasser nicht in die Tiefe fort, so imposant die durchfurchten Steilwände oberhalb aussehen, so sanft gleiten sie unterhalb der Wellen hinein in den See – und verstecken dort zumeist die nicht sichtbaren Überreste von Pfahlbauten.

Die Molassefelsen zwischen Sipplingen und Überlingen - mit einem der Heidenlöcher.

In früheren Zeiten wirkten diese Felsen um einiges beeindruckender, denn sie reichten bis an das Wasser heran, eine Straße zwischen Sipplingen und Überlingen gab es nicht bis Mitte des 19. Jahrhunderts, wer von hier nach dort – so wie wir – und zurück wollte, musste sich mit einem schmalen und nicht ungefährlichen Trampelpfad auf einem Teilstück begnügen, der noch dazu bei Hochwasser unpassierbar wurde oder über das Hinterland den offiziellen Fahrweg nutzen, mitsamt Auf- und Abstieg. Das war natürlich ein Problem, insbesondere für die selbstbewusste Reichsstadt Überlingen, aber man hatte für Transporte immerhin auch den See direkt vor der Haustür. Gleichwohl wollte man sich später mit der umständlichen Situation nicht mehr abfinden – mit bösen Folgen, wie noch zu berichten sein wird. Wer heute auf dieser Strecke entlang läuft, kann sich dies kaum mehr vorstellen, zwar geht es hinter Sipplingen noch über Wiesen unterhalb der Molassefelsen vorbei, doch dann sehr lange und unangenehm direkt an der nun vorhandenen Uferstraße, der vielbefahrenen B31, mit der Garantie auf viel Auspuffgase für die Lungenzüge. Fräulein Annika ist da feinstaubmäßig mal wieder fein raus.

Enge Felsengänge in Goldbach
 enthalten die höhlenartigen Felsenkeller.
Selbst wer keinerlei Vorbildung hat, erkennt hier in den Felsen einige auffallende Löcher. Wären Fräulein Annika und ich hier vor gut 200 Jahren marschiert – auf dem Trampelpfad – wir hätten blind sein müssen, um sie zu übersehen. Und wir wären schon damals wahrscheinlich ohnehin nur wegen dieser Höhlen hierher gekommen. Was von diesen noch zu sehen ist, hat allerdings nichts mehr mit dem Glanz früherer Tage zu tun. Die sogenannten Heidenhöhlen oder Heidenlöcher auf dem Abschnitt zwischen Brünnensbach und Goldbach faszinierten die Besucher schon seit langem und gehörten zu den in jeglicher Hinsicht ersten und obersten Zielen des Bodenseetourismus seit der Romantik Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Molasse ist ein zu weiches Gestein, um natürliche Höhlenbildung zu erlauben, aber gerade deshalb bestens geeignet für künstliche Hohlräume. Die Heidenhöhlen und ihre um den See immer wieder auftauchenden Pendants sind somit von Menschen geschaffene Räume, deren genaues Alter und Zweck unbekannt sind – und teilweise sehr verschieden sein dürften. Daher auch ihr leicht irreführender Name, konnte sich unsere Vorfahren doch nicht erklären und erinnern, wer diese Höhlen hoch über dem Ufer – aus Sicherheitsgründen vor bösen Buben und dem Hochwasser – angelegt hatte. Also machte man die „Heiden“ verantwortlich, Menschen vor Einführung des Christentums, womit man hier vor allem die Römer meinte. Tatsächlich dürften die Goldbacher Heidenhöhlen aus dem Hochmittelalter stammen, kunstgeschichtliche Details verweisen auf die Zeit vom Übergang der Romanik zur Frühgotik, in etwa um 1200. Was natürlich nicht heißt, dass zu diesem Zeitpunkt nicht einfach nur Umgestaltungen oder Erweiterungen vorgenommen worden sein könnten. Ebenso unklar ist, wozu die schwer zugänglichen Behausungen gedient haben könnten. Vorzustellen hat manch sich keine globig unbeholfen in den Fels gehauenen Felsräume, sondern klar strukturierte Gebilde mit Zwischenwänden, die wiederum Fenster enthielten, mit Nischen, Bänken, Verzierungen, Türen und Fensterläden. Relativ eindeutig wurde einer der Räume als Kapelle genutzt, beigefügt vermutlich eine Eremitenwohnung, was buchstäblich nahe liegt – und per Definition liebt es so ein Einsiedler ja eher einsam. Noch dazu ist diese Kombination – entlegene Kapelle mit Eremit – um den Bodensee weit verbreitet gewesen (und in seltenen Fällen sogar noch immer existent). Wer jedoch in den anderen Höhlenwohnungen hauste und ob sie wirklich dauerhaft genutzt wurden, bleibt ein Rätsel und vermutlich eines der ewig ungelösten im Zusammenhang mit den Heidenhöhlen.

Unheimlich wirken die "Fenster"
der Höhlenkeller im Dorf Goldbach.
Die Bodenseenebel lichten sich etwas im späten 18. Jahrhundert. Damals lebten vor Ort nachweislich seit längerem noch immer Eremiten, hinzukommend hatte die Reichsstadt Überlingen dorthin – weit vor ihren festen Stadtmauern – ein Armenhaus ausgelagert, das wohl zusätzlich die Heidenhöhlen als Unterkünfte nutzte. Doch dies hatte sich wohl soweit verselbständigt, dass der Rat der Stadt auf zahlreiche Beschwerden über in den Höhlen hausendes Gesindel reagierte und diese räumen und teils zumauern ließ. Womit der Niedergang der Heidenhöhlen begann – trotz des zu dieser Zeit langsam einsetzenden Interesses durch die ersten romantisch veranlagten Touristen. Es gab ein weiteres Felsgebäude westlich vor den Heidenhöhlen, dem folglich Fräulein Annika und unsereins, da wir ja von Sipplingen herkommen, als erstes begegneten müssen: die Katharinenkapelle (nicht zu verwechseln mit der Felskapelle in den Heidenhöhlen selbst). Sie war ein in den Fels geschlagener Höhlendurchgang am Trampelpfad, der sich zu einem kleinen Wallfahrtsort entwickelte, innen geschmückt mit Bildern und Votivtafeln – von denen eine einzige im Überlinger Museum überlebt hat. Den Ort dieser einstigen Kapelle – auch sie einst ein absolutes Muss für die ersten Bodenseebesucher – erkennen wir auch heute noch leicht, obwohl von der Felskirche nichts übrig geblieben ist. Doch als erinnernden Ersatz hat man einen Hohlraum in den Felsen gebohrt. Mehr als die Bewunderung aus der kurzen Distanz haben Fräulein Annika und ich allerdings nicht gewagt, denn um bis zu dem Gitter der Höhle zu kommen, müsste man das davor wuchernde Gesträuch überwinden, was nicht ganz so gefährlich ist, wie die leider ebenfalls davor liegende Bundesstraße. Da es in der neuen Höhle laut Auskunft ohnehin nur Geröllbrocken zu sehen geben soll, haben wir uns entschlossen, dass der Preis einer dafür in Kauf genommenen möglichen Begegnung mit einem 24-Tonner etwas zu hoch ist.

Kurz darauf, auf dem eigentlichen Abschnitt der Goldbacher Heidenhöhlen, müsste nun die erste – westliche – Abteilung der Höhlen auftauchen, doch sind diese noch mehr verschwunden als die Katharinenkapelle. Nur von einem Plan kennen wir ihre etwas seltsamen Grundrisse. Beides, Kapelle und westliche Höhlen, wurde beim Bau der Uferstraße anno 1846/47 komplett gesprengt, dazu gleich mehr. Was wir anschließend noch sehr vereinzelt als Öffnungen oben im Fels sehen können, sind die spärlichen Überreste der östlichen Abteilung. Diese Räume sind etwas besser dokumentiert, sie waren auch strukturierter angelegt – hier fand sich unter anderem die Felskapelle mit den frühgotischen Merkmalen, zum Beispiel Relieffriesen – und hatten größtenteils Kreuzgratgewölbe. Schon die halb legale, halb illegale Nutzung als Armenhäuser dürfte ihnen massiv geschadet haben, wie gesagt, Molasse ist ein sehr weiches Gestein, man kann leicht darin herumritzen. Dies taten dann zudem die Touristen, die sich einst auf gleiche Art verewigten, wie es 200 Jahre später „Tobi & Luisa 2017“ noch immer zu tun pflegen. Manch Bodenseeliebhaber von nah und fern protestierte zwar gegen das Vorhaben des neuen badischen Staates, das enorm teure, weil aufwändige Projekt einer Uferstraße von Ludwigshafen nach Überlingen nach langer Diskussion endlich durchzuführen. Doch die ökonomischen Interessen überwogen und so fielen 1846/47, wie erwähnt, die Katharinenkapelle und die westlichen Höhlen völlig, die östlichen teilweise dem Straßenbau zum Opfer. Die böse Ironie der Geschichte ist, dass die Fahrten nun zwar bequemer waren, dies wirtschaftlich aber der Stadt Überlingen, die so sehr darauf gedrängt hatte, gar nichts brachte, denn inzwischen hatte die Eisenbahn den Güterverkehr übernommen – und an diese ließ sich Überlingen aufgrund seiner Lage noch schwerer schwer anschließen. Man konzentrierte sich immer mehr auf den Tourismus – hatte nun aber eine der Hauptattraktionen kurzerhand wegsprengen lassen. Daran änderte auch der dann doch noch erfolgte Bahnbau nichts mehr – der störte zwar die verbliebenen Heidenhöhlen nicht, da er, wie erwähnt, direkt am Rand des Sees verlief – kam aber erst um 1900, viel zu spät für einen industriellen Aufschwung (zum Glück, muss man sagen, so blieb Überlingen eine wunderschöne mittelalterliche Stadt, nur halt leider ohne Heidenhöhlen
 
Die Höhlen im Dorf Goldbach vermitteln
noch einen Eindruck von den einstigen Heidenlöchern.
Trotzdem machten Straße und Bahntrasse den letzten Heidenhöhlen auf lange Sicht den Garaus. Eine Besichtigung war weiterhin möglich, aber doch sehr beschwerlich. Treppchen und Geländer mussten angelegt werden, das Interesse war noch immer groß, immerhin war ja zum Beispiel die Felskapelle unbeschadet geblieben. Doch hatten diese Besucher den unschönen Nebeneffekt, dass sie buchstäblich in der Molasse ihre Spuren hinterließen. Umrisse und Innenausstattung der Heidenhöhlen litten und verformten sich, Stützmaßnahmen der Felsen mussten unternommen werden. Auf der anderen Seite waren Restaurierungsmaßnahmen sehr kostspielig und oft nur von begrenzter Auswirkung. 1960 dann die Katastrophe: die Kapelle stürze nach einem Sturmwetter in sich zusammen. Von den Behörden wurde beschlossen, die restlichen Heidenhöhlen abzusprengen. Nach vielen Jahrhunderten waren die einzigartigen Kulturdenkmäler bis auf spärlichste und nicht mehr zugängliche Überreste für immer verschwunden. Schlimm und unverzeihlich genug, hatte man sich vorher nicht einmal die Mühe gemacht, die Höhlen vor der Sprengung zu dokumentieren. Noch 1846 war man schlauer gewesen als 1960, wo man nicht einmal auf einen Photographen geschweige denn archäologische Expertise zurückgriff. Darin liegt vielleicht eine – deshalb trotzdem inakzeptable – Gedankenlosigkeit einer an Monumenten überreichlich gesegneten Kulturlandschaft.

An der Sylversterkapelle Goldbach.
Uns bleibt – buchstäblich – folglich nur, uns mit eben solchem Ersatz zu begnügen, der natürlich nicht als bloßer Trostpreis angesehen werden darf, an der Ignoranz gegenüber den Heidenhöhlen sind diese Denkmäler der Kulturgeschichte schließlich unschuldig und wir sind froh, das wenigstens sie erhalten geblieben sind. Wir laufen also noch die wenigen Meter weiter bis nach Goldbach, wo ein Kleinod auf uns wartet, das zwar ebenfalls unter der Uferstraße und der Bahn zu leiden hat – es wird vom Rest des Dorfes komplett abgeschnitten, aber diesen immerhin nicht weichen musste: gemeint ist die Sylvesterkapelle, eine der ältesten Kirchenbauten im gesamten Bodenseegebiet. Ignoriert man die quasi durch die linke Kirchenhälfte fahrenden Gleisen, die man vorher dank Mini-Bahnübergang zu übersteigen hat, liegt sie eigentlich ganz idyllisch am Ufer. Und dies seit über 1000 Jahren, im Kern ist sie noch romanisch, die Gotik hat leichte Veränderungen, etwa die Fenster mit Maßwerk hinzugefügt. Im Inneren finden sich Fresken, die man mit der Reichenauer Schule in Verbindung bringt, sie werden auf das 10. Jahrhundert datiert. Ob es da schon die Heidenhöhlen gab? – wir werden es vermutlich nie mehr erfahren. Aber ein ganz kleines bisschen Heidenhöhlenerfahrung können wir trotzdem dann noch machen, indem wir in das schmale, sich in einem Tal hinziehende Dorf Goldbach hineinlaufen. Rechts in der Ortsmitte tut sich zwischen den Häusern ein Felsspalt auf, in den man wie in eine Klamm hineingehen kann. Und hier finden sich zahlreiche in die weiche Molasse hineingegrabene Felsenkeller, die mit ihren Fenstern ein ganz klein wenig an die Heidenlöcher erinnern – auch es hier an Kunstfertigkeit im Inneren fehlt und man zudem bequem ebenerdig eintreten kann, beziehungsweise könnte, natürlich sind diese privaten Keller versperrt. Ganz enttäuscht ist Fräulein Annika von der gescheiterten Heidenhöhlenexpedition also am Ende – zum Glück – nicht. Und gar nicht allzu weit entfernt, im Dorf Zizenhausen bei Stockach, liegen ebenfalls sogenannte Heidenhöhlen. Deren Alter und Zweck ist nicht minder unbekannt. Aber sie sind intakt. Fräulein Annika ist für die nächste Forschungsreise schon bereit. 

Schmuckstück am Bodenseeufer: die Sylversterkapelle in Goldbach - eines der ältesten Kirchengebäude am See.
 

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