Dienstag, 30. Juli 2019

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (11) - Marcel Proust: In Swanns Welt.


Marcel Proust: In Swanns Welt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. st 2671

Fast etwas spät taucht er in dieser Reihe auf, der Roman – besser: das Romanwerk – das James Joyces Ulysses im Urteil der Expert*innen sicher am ehesten den Rang als der bedeutendste des 20. Jahrhunderts streitig macht, falls es denn einen Wettstreit gäbe. Unzweifelhaft ist der hohe Rang, der eminente Einfluss und das einzigartig Monumentale von Marcel Prousts (1871-1922) Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, dessen ersten Band Suhrkamp unter dem Titel In Swanns Welt herausbrachte. In der beliebten Erster-Satz-Kategorie ist Prousts Recherche anders als Ulysses, Kafkas Prozess oder etwa auch Goethes Werther reichlich unspektakulär und wohl auch deshalb – schon des fehlenden Wiedererkennungswertes unter Nichtexperten wegen – selten zitiert: Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen (9). Natürlich ist auch dieser für Proustsche Verhältnisse äußerst lakonische Einstieg anspielungsreich und wirft nach genauerem Hinschauen bereits einige Fragen auf, die geradezu symptomatisch sind. Abgesehen davon, dass bereits das Schlüsselwort Zeit auftritt, handelt es sich offenkundig um eine Rückschau auf einen Moment der Veränderung – ab erwähntem Punkt wurde eine Gewohnheit durchbrochen, es entstand ein neuer Zeitraum, an dem etwas nicht mehr so war wie vorher. Es ist das titelgebende Thema in nuce.

Die Grammatik kündigt die Rückschau an, doch sogleich wird in den folgenden Sätzen deren Unzuverlässigkeit eingeräumt – oder vor ihr gewarnt. Die Erinnerungen sind wie der Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen, eine wenig greifbare Übergangsphase an beiden Enden: fließen in das Traumgeschehen des Schlafes während jener Periode letzte Eindrücke des Tages – und der Lektüre – hinein, so umgekehrt in den Prozess des Aufwachens die unvernünftigen, aber von der Vernunft akzeptierten Vorgaukeleien des Schlafes, wie nach der Seelenwanderung die Gedanken einer früheren Existenz (9). Es ist nicht der erste Satz, es ist die Madeleine-Episode, die heute allgemein mit Prousts Roman in Verbindung gebracht wird, jene Sekunde nun, als dieser mit Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt (63). Wahrscheinlich die berühmteste Sekunde der Weltliteratur. Der Ich-Erzähler analysiert selbst, diese Substanz war vielmehr nicht in mir, ich war sie selbst (64), es ist ganz offenbar, dass die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm – dem Geschmack des Kuchens und des Tees – ist, sondern in mir (64). Es ist eine in ihm hochsteigende Erinnerung, die im Moment des unterbewussten Aufgreifens schon wieder zu verblassen droht, die er dann zwar doch noch erfassen und identifizieren kann – eine Madeleine, die er einst von seiner Tante während seiner Kindertage in Combray geschenkt bekam – die jedoch als dieser Augenschein eines Glückes (64) nicht mehr wiederholbar sein wird, natürlich ohnehin nicht als realer Ablauf, aber auch nicht als jenes sinnlich auftauchende Überwältigungsgefühl.

Gleichwohl ist dieses Erlebnis Auslöser und Anlass der Erzählung, eben jener Suche nach der verlorenen Zeit. Ein, wie schon angedeutet, zwiespältiges, von allerlei und ständigen  Unsicherheiten begleitetes Unterfangen. Unsere fragwürdige Fähigkeit zum Erinnern ist ein wiederkehrender Topos des gesamten Romanprojektes: Aber da alles, was ich mir davon hätte ins Gedächtnis rufen können, mir dann nur durch bewusstes, durch intellektuelles Erinnern gekommen wäre und da die auf diese Weise vermittelte Kunde von der Vergangenheit ihr Wesen nicht erfasst, hätte ich niemals Lust gehabt, an das übrige Combray zu denken (62), es ist nicht das sogenannte semantische Gedächtnis, das nüchterne, objektive, chronikalische – Daten sind, anders als Orte, selten genannt in der Recherche –, es ist das episodische, biographische, mit Gefühlen verbundene Erinnern, auf dessen Suche sich der Ich-Erzähler begibt. Die Schwierigkeiten sind zahlreich. Momente sind flüchtig, gegenwartslos, schon in der Antizipation bereits vorbei, so dass der Augenblick, da ich sie heraufkommen und dann im Gang mit der Doppeltür das leichte Rascheln ihres Gartenkleides aus blauem Musselin mit kleinen strohgeflochtenen Quasten hörte, für mich ein schmerzlicher Augenblick war. Er kündigte schon den nächsten an, der auf ihn folgen sollte, wo sie mich verlassen haben und wieder unten sein würde (22). Die Wahrnehmung ist subjektiv, von den anderen so geformt, dass sie ins eigene Bewusstsein – und damit auch in das Gedächtnis – eingeht, unsere Persönlichkeit innerhalb der Gesellschaft ist eine geistige Schöpfung der andern (29), eine Schlüsselbeobachtung in dem von Proust beschriebenen Umgang des Bürgertums und Adels miteinander, einer bis ins Privatleben extrem auf Konventionen, Status und buchstäblichem Vor-Urteil aufgebauten Biotop, wo der Anschein mehr zählt als die reale Person, die mit einem Anfangsverdikt belegt wird, an dem starr gegen jede objektive Umstände festgehalten wird.

Und dann ist da naturgemäß das Hauptproblem des Erinnerns: die Vergänglichkeit und damit Unwiederbringlichkeit des Erinnerten. Heute waren sie alle dem Erdboden gleichgemacht, das Gras wuchs (223) über ihnen und auch in mir sind viele Dinge zerstört, von denen ich geglaubt habe, sie würden ewig währen, und andere sind entstanden, die neue Freuden und Leiden heraufbeschworen haben, von denen ich damals noch nichts wissen konnte, so wie mir heute die damaligen schwer zu begreifen sind (53). Das Anhaften der Gefühle bedingt auch, das mit diesen jene Erinnerungsstücke wechseln oder von ihnen je nach momentaner Stimmung überdeckt und umgewandelt werden, sich dadurch dem rationalen Zugang verweigern, bei einem physischen Schmerz kann das Denken, gerade weil er unabhängig davon ist, verweilen, kann feststellen, dass er nachgelassen, dass er für eine Sekunde vollkommen aufgehört habe. Jenen Schmerz aber, den er empfand, schuf das Denken jedes Mal neu, wenn er sich damit befasste (365). Diesem schmerzhaften, tiefen Erinnern durch Grübeln stehen die kurzen, unverhofften Glücksmomente des Aufblitzens gegenüber, jene Momente, die wie eine Drogensehnsucht empfunden werden, so klang dicht neben mir der Name Gilberte auf, mir geschenkt wie ein Talisman, der mir vielleicht erlauben würde, eines Tages diejenige wiederzufinden, die er aus einem eben noch ganz ungewissen Bild zu einer wirklichen Person geschaffen habe (189f.). Doch auch hier ist sich der Erzähler bewusst, wie trügerisch gerade jene verklärenden Augenblicke sein können, durch die von meiner Phantasie willkürlich erfundenen Freuden (512).

Mit sanfter Ironie flicht Proust den Wunsch seines Protagonisten ein, jemand möge die Atmosphäre der Unterhaltungen der Erwachsenen seiner Kindertage aufgezeichnet haben, sie hätte das zentrale Thema eines Epenzyklus abgeben können, hätte einer von uns über wirkliches Erzählergenie verfügt (149). Nun, einer hat. Die drei Teile von In Swanns Welt, die Exposition der Kindheit in Combray, die beginnende und langsam wieder tragisch verdämmernde Liebe von Swann zu Odette de Crécy und des Erzählers eigenes Schwärmen für Swanns Tochter Gilberte, sind bekanntlich nur der Auftakt zu jenem Großvorhaben der Recherche. Auch wir als Leserinnen und Leser wissen, welcher Widersinn darin liegt, wenn man die Bilder der Erinnerung in der Wirklichkeit sucht, wo immer der Reiz ihnen fehlen muss, der im Gedächtnis wohnt und mit den Sinnen nicht wahrgenommen werden kann. Die Wirklichkeit, die ich einst kannte, existierte nicht mehr (564). Und doch ist ihr wohl kaum jemals jemand so nahe gekommen wie Proust, hat Gefühl und Erinnerung wieder so nahe gebracht wie er, sie so nachvollziehbar gemacht – meisterlich in der Schilderung von Swanns Liebe zu Odette – und vor allem sprachlich so unnachahmlich. Die Eleganz Proustscher Sätze, auch in der Übersetzung noch spürbar, sucht ihresgleichen, ist – unvergesslich.                
Vorgänger (Teil 10): Martin Walser - Halbzeit.                            


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