Ein Roman von
Rainald Goetz, erhältlich in jeder halbwegs gut sortierten
Bahnhofsbuchhandlung, jahrzehntelang schien sich dies auszuschließen – knapp
dreißig Jahre nach seinem Debüt Irre
(1983) war es dann doch so weit, mit Johann
Holtrop gelang ihm der unerwartete und relative Bestseller, allseits gelobt
als Dokument des Zeitgeistes – was schon absurd genug ist, da sich Goetz immer
mit seiner sehr eigenen Kommentierung des Zeitgeistes beschäftigt hat. Einzige
Konzession an eine größere Leserschaft seitens des Autors ist allerdings ein
etwas konventioneller Realismus – gleichbedeutend mit einem Verzicht auf die
ständigen Gedankensprünge und Bewusstseinsströme seiner sonstigen Werke – nicht
jedoch die Aufgabe eines unverhohlen subjektiven Standpunkts. Ergo muss der
Erfolg des Buches daher rühren, dass Goetz’ Standpunkt derjenige ist, den –
derzeit – auch viele Leserinnen und Leser einnehmen.
Wovon handelt
dieser laut Untertitel doppeldeutige Abriss
der Gesellschaft also? Diese so legitime wie banale Frage ist entweder kurz
oder gar nicht zu beantworten. Die drei Abschnitte des Romans berichten aus dem
Leben des Konzernchefs Johann Holtrop: erst die Ausübung seiner Macht an der
Spitze eines Medienkonglomerats, dann sein plötzliches Scheitern und am Ende im
Dauerlauf seinen endgültigen Abstieg. Was er da genau tut, wie es zu all den
Dingen, die ihm widerfahren, kommt, wie er sich an der Spitze halten kann und
warum er plötzlich abstürzt – ein Rätsel. Selbst eine akribisch-analytische
Lektüre würde nicht schlauer machen. Womöglich würde mancher hierdurch
frustrierte Leser dies der Inkompetenz des Autors ankreiden, läge damit jedoch
völlig daneben.
Goetz bedient
sich einer Methode, die schon H.G.Wells in seinem Klassiker The Time Machine gekonnt angewandt hat.
Eben jene Zeitmaschine genauestens und mit Heraushebung von Details
beschreibend, täuscht Wells raffiniert darüber hinweg, dass er eigentlich gar
keine nachvollziehbare Schilderung des gesamten Gerätes liefert. Wie auch?
Schließlich existiert die Zeitmaschine nicht. Entsprechend verfährt auch Goetz.
Er beschreibt akribisch zahlreiche Vorgänge, Transaktionen, Verschwörungen und
Theorien des Geschäftslebens, ohne dass sich ein klares und nachvollziehbares
Gesamtbild ergibt. Fügt man die zahlreichen Episoden zusammen, bleiben sie in
der Luft hängen. Wie auch nicht? Schließlich existiert hinter all dem
Vordergründigen schlicht und einfach nichts. Autor und Leser sind gleich
ratlos, wie jeder Laie – und Goetz’ Roman nach selbst die vermeintlichen
„Insider“ – angesichts der Vorgänge in einer real nichts produzierenden
Wirtschaft.
Der Protagonist
jedenfalls hat selbst nie wirklich den Durchblick – bei nichts. Ihn leitet
einige Zeit der Instinkt und zynische Skrupellosigkeit. Letztere besitzen
allerdings alle seine Geschäftspartner und Kollegen, ersterer ist etwas, das
sich naturgemäß nicht konservieren lässt. Irgendwann dreht sich der Wind,
Holtrop bekommt dies nicht mit – was ihm nicht vorzuwerfen ist, da es hierfür
keinen ausmachbaren Grund gibt – und aus der Präzisionsmaschine wird ein Absteiger, der am Ende so aus dem Tritt
gerät, dass er versehentlich Selbstmord begeht; nur konsequent in einer Welt,
in der jede absurde Folge eintreten kann.
Wie immer hat
Goetz überhaupt keine Lust, so zu tun, als würde er objektiv beschreiben. Schon
auf der ersten Seite wird durch die Charakterisierung des Unternehmens klar,
wie wenig er von dieser ökonomisch geprägten Kultur hält, so kaputt wie Deutschland in diesen Jahren, so hysterisch kalt und
verblödet [...] wie die Macher, die
hier ihre Schreibtische hatten, sich die Welt vorstellten, weil sie selber so
waren, gesteuert von Gier, der Gier, sich dauernd einen Vorteil zu verschaffen.
Dieser Beschreibung der Jahre 1998 bis 2010 stimmen inzwischen viele zu, viele,
denen dies – im Gegensatz zu Goetz – vorher nicht auffiel. Dieser war schon
immer polemisch, nun könnten sich zahlreiche seiner Sätze auch in diversen
Manifesten finden; nur nicht in dieser Schönheit. Herausgestellt sei lediglich
ein Beispiel von vielen für Goetz’ Beherrschung der Sprache – darum ist dies
auch Literatur und kein Pamphlet: „Gott
sei mit denen, die ihn brauchen“, sagte Binz, „und so auch mit mir. Das war
Binz’ Schnellnovene an den Gott der Frankfurter Börse. Präziser – und auch
lustiger – kann man ethische Pervertierung kaum zusammenfassen; dass solch eine
sich selbst widersprechende Schnellnovene
zu nichts führt, ist so klar wie tröstlich.
Goetz nutzt auch
das alberne Idiom der Wirtschaftseliten, krude Anglizismen, Platitüden mit Sehnsucht nach Tiefgang, ebenso
unverständliche wie inhaltsleere Wissenschaftlichkeitsanmutung,
geht darüber sogar noch eine Ebene hinaus. In der Literaturwissenschaft gibt es
den Begriff des Fiktionsvertrages, das heißt der stillen Übereinkunft zwischen
Autor und Leser, das Geschriebene nicht für die Beschreibung des empirisch
Realen zu halten. Weniger kompliziert ausgedrückt, wer Johann Holtrop im Telefonverzeichnis sucht oder den Firmensitz Krölpa vergeblich googelt, ist offenbar
ungeeignet, Fiktion und Fakten zu unterscheiden. Auch Goetz schließt naturgemäß
diesen Fiktionsvertrag, nimmt dies jedoch noch buchstäblicher. An nicht gerade
auffälliger Stelle findet sich nämlich eine sehr, sehr kleingedruckte Schutzschrift noch vor Beginn des Romans
und sie ist für den Leser ähnlich kryptisch wie manche Vertragsklausel: Natürlich basiert dieser Roman auf der
Realität des Lebens auch wirklicher Menschen. Aber es ist ein Roman, Fiktion,
fiktiv in jeder Figur, alles hier Erzählte auch: Werk der Literatur. Dies
entspricht einer alten Literaturtradition, ist zugleich tatsächlich Schutz vor
einer allzu plumpen Lesart als Schlüsselroman; dass in die Figuren des Buches
Personen der Zeitgeschichte – manche mit ihren echten Namen – eingeflossen
sind, dürfte auch dem oberflächlichsten Querleser bald auffallen. Der
Stolperstein dieser Anweisung liegt ohnehin in dem unscheinbaren Wort auch –
auch: Werk der Literatur.
Also: nicht nur. Doch erschöpft sich dies nicht in der rein literarischen
Verschiebung echter Biographien, sondern verweist auf die Beschreibung des
Zustandes. Leider – immerhin handelt es sich um den Zustand unserer
Gesellschaft, wie ihn Goetz sieht. Man möchte ihm gern immer mal wieder
widersprechen, lässt es nach längerem Nachdenken jedoch besser sein. Kurzum: Johann Holtrop ist ein Roman, der anders
ist als der Protagonist, der ihm den Titel verleiht, nämlich: klug.
Siehe auch: http://bene-a-rebours.blogspot.de/2014/12/rainald-goetz-kontrolliert-ein-anderer.html
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