O Du Fröhliche, Stille Nacht, Macht hoch die Tür oder O Tannenbaum, das Weihnachtslied ist ein Genre für sich und hat mit modernen Klassikern wie Last Christmas und Do they know it’s Christmas? auch Eingang in die Pop-Kultur und die ewige Radiowiederholungsschleife gefunden. Der religiöse Hintergrund hat dabei, grob gesprochen, einem Trend hin zu mehr Schmalz Platz gemacht. Beides scheint eher nicht vereinbar mit der widerspenstigen Resignation der Grunge-Generation der Neunziger Jahre – und doch finden sich einige wenige Beispiele auch im Indie-Rock, die sich im weitesten Sinne mit Weihnachten auseinandersetzen.
Pearl Jam: Deep (Ten, 1992)
Schon auf ihrem legendären Debütalbum Ten gab Eddie Vedder in Deep ein Verständnis von Weihnachten vor, dass typisch sein dürfte für die Skepsis der Grunge-Kinder, der religiöse Kontext ist nur noch ironisch: young virgin from heaven visiting, eine Episode die so sicher nicht in der Weihnachtsgeschichte überliefert ist, sondern eher der Fantasie eines jungen Mannes entspricht. Doch bedeutender und prägnanter ist Vedders Wortschöpfung christmas clean love, die das Geheuchelte und Verlogene des zeitgenössischen Weihnachtskitsches auf großartig treffende Weise einfängt – und Verbindung bringt mit Leuten, die Gefühle nur noch hinter solchen Lamettaglanzfassaden ausleben können, alles andere als Deep.
Pearl Jam: Let Me Sleep (Lost Dogs, 2003)
Pearl Jam beschenkt seine Fans jedes Jahr mit einer Fan-CD, auf der auch dieses Lied enthalten war, bereits im Jahr 1991, vielleicht das einzige echte Weihnachtslied in diesem Überblick. Denn hier wird die Sehnsucht nach Weihnachten beschwören, aus der Perspektive eines Kindes in einer unglücklichen Familie, dass seine Hoffnung auf die versöhnende Wirkung dieses Festes setzt. Vergeblich, wie man annehmen kann. „It felt beautiful and melancholy“, so Mike McReady rückblickend im Booklet über Lost Dogs.
Veruca Salt: Celebrate You (American Thighs, 1994)
Tröstlicher geht es auch bei den Damen von Veruca Salt nicht zu. In Celebrate You wird ähnlich wie bei Eddie Vedder das Verlogene des Festes, der Celebration, beschworen: I wait for Christmas to begin to see the cracking faces. Auch hier entlarvt sich die Familie als heruntergekommene gutbürgerliche Fassade, die sich jedoch auch über Weihnachten nicht mehr aufrecht erhalten lässt. Übrigens wird dies durchaus bedauert, die Sehnsucht nach dem Zusammenhalt – wenigstens – in jeder Familie ist noch immer vorhanden (wie schon Let Me Sleep gezeigt hat).
Veruca Salt: Comes and Goes (IV, 2006)
In der veränderten Besetzung der 2000er Jahre spielten Veruca Salt noch einmal auf das gleiche Thema an, wenn es in Comes and Goes heißt: Certain Christmasses bring me to my knees. Auch hier ist es die Familie, die durch den gekünstelten Weihnachtskitt, der unweigerlich abbröckelt, die dahinter liegende Zerstörung erst eigentlich offenbart. Und wiederum scheint dahinter der Wunsch zu stecken, dass dem nicht so wäre.
Seven Mary Three: Devil Boy (American Standard, 1995)
Wer schon den Namen der Gottesmutter im Bandnamen führt, scheint prädestiniert dazu, das Religiöse wieder in das Genre zurückzuholen, wobei Devil Boy dann allerdings doch eher wieder unweihnachtlich klingt. Und doch: hier treten ganze Ordensarmeen auf, Jesuiten, Kapuziner, Augustinermönche, nur zu einem Zweck, um den verlorenen Sohn, eben den Devil Boy auf den rechten Pfad zurückzuführen. Dieser aber slept through easter yesterday, right through christmas just the same, auf die Erlösung will er nach 2000 Jahren nicht mehr warten. Er hofft nur noch eines: auf die Rückkehr seiner Freundin, I’d give away eternity, if you would come back to me.
Heather Nova: Blue Black (Oyster, 1994)
You made me a victim in your christmas kitchen – so singt die bermudanische Songwriterin Heather Nova und beschreibt damit in wenigen diskreten Worten den vielleicht stärksten Kontrast zwischen dem versöhnenden Anspruch des säkularisierten Weihnachtsfests und dem, was dahinter zu finden ist: Blue Black – der englische Ausdruck für „jemanden grün und blau schlagen“ – handelt vom Missbrauch eines jungen Mädchens und dessen darauf folgendem Trauma. Das Lied selbst klingt trotzig, nach wieder gewonnener Stärke, doch bleibt in der Schwebe, ob dies nicht eher ein Selbstappell des Mädchens ist, der darauf hinweist, wie tief der Schock noch sitzt.
Tocotronic: 17 (K.O.O.K., 1999)
Zum Abschluss noch ein deutscher Beitrag. Das nicht gerade kurze Stück 17, dessen Titel nur den Rang in der Reihenfolge des Albums verrät, hat viel instrumentale Ausschmückung, aber wenig Text. Den braucht es auch nicht, die wenigen Zeilen genügen, um ein Gefühl zu beschreiben, dass viele Menschen an Weihnachten befallen mag: Einsamkeit. Und hier ist es nicht die metaphorische Vereinzelung als Außenseiter der Familie, sondern die konkrete desjenigen, der das Fest allein verbringen muss. Und so entwickelt er eine ganz andere Sehnsucht: nach dem Tod. Am Fest der Geburt des Erlösers...
Traurige Weihnachten in Seattle und Umgebung
Der Befund überrascht nicht: Das Weihnachten der alternativen Rocker ist kein schönes und alles andere als Trost im trauten Kreis der Familie – auch wenn das unterschwellig gewünscht werden mag, was die Enttäuschung naturgemäß nur vergrößert. Auswege bieten sich nicht – wie auch? Wer der Familie entgeht, flieht nur in die Einsamkeit. Kein Wunder, dass diese Generation resigniert hat, kein Wunder, dass sie sehnsüchtig eher zurückblickt als nach vorne.
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Traditionelles zu Advent und Weihnachten gibt es hier:
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