Dienstag, 16. Februar 2016

Über Palimpseste: vom Kloster Beuron bis Gérard Genette.

Das Wort "Palimpsest" leitet sich aus dem Griechischen ab, wobei die Etymologie nicht völlig eindeutig ist; sowohl gr. palim ‘wieder’, als auch gr. palin ‘zurück’ sind für den ersten Teil des Kompositums denkbar, gr. psestos ‘abgeschabt’ eindeutiger für den zweiten.

Pergament – ein wertvolles Material

Das Palimpsest ist also ein wiederbeschreibbares Schriftstück, welches durch Abschabung eines früheren Textes erneut nutzbar gemacht wurde. Selten handelt es sich hierbei um Papyros, sondern in den überwiegenden Fällen um Pergament, welches als Material wertvoller und widerstandsfähiger war. Der ursprüngliche Text wird durch „Waschen, Auslaugen mit Milch oder Reiben mit Bimsstein getilgt“ (so Jeanette Moser), da das Interesse an ihm verloren gegangen und Pergament für eine einmalige Nutzung zu kostbar ist.
Das Verfahren wurde bereits in der Antike angewandt, erreichte aber seinen Höhepunkt in der Konstitutionszeit des frühmittelalterlichen Christentums, also einer Epoche kulturellen Umbruchs (8./9. Jahrhundert), als man begann, vor allem spätantike Texte zu überschreiben (in der Mehrzahl heidnische Autoren auf Pergamenten des 4.-7. Jahrhunderts). Dabei waren auch mehrfache Überschreibungen nichts Außergewöhnliches.

Die Renaissance des verschwundenen Textes

Ab dem 17. Jahrhundert nahm das Interesse an den ursprünglichen Texten wieder zu, die oftmals noch erkennbar, aber nicht mehr lesbar waren. Erst der naturwissenschaftliche Fortschritt zwei Jahrhunderte später erlaubte es, mit Hilfe chemischer Mittel die überschriebene Textschicht wieder sichtbar zu machen, allerdings nicht ohne das Pergament stark zu schädigen.

Innovative Mönche im Kloster Beuron retten die Texte

1912 wurde in der Benediktinererzabtei Beuron an der Donau das Deutsche Palimpsest-Institut unter Leitung von P. Alban Dold OSB gegründet, welches 1920 eine Methode der ultravioletten Bestrahlung erfand, die den vormals ausgelöschten Text wieder sichtbar macht, dabei jedoch das Pergament nicht angreift. Das Beuroner Institut hat seine Arbeit inzwischen aber eingestellt. Anzumerken ist die nicht unironische Note, dass die Beuroner Mönche viele Texte wieder lesbar gemacht haben, die von ihren Ordensvorgängern abgeschabt worden waren.

Vieles bleibt Fragment

Trotz der ausgereiften Methoden bleiben viele der Palimpsesttexte Fragmente, einerseits weil nur Teile der einzelnen Pergamente aufgefunden wurden, andererseits da diese selbst durch die Jahrhunderte hindurch Schaden genommen haben oder die Überschreibung nicht vollständig rückgängig gemacht werden kann.

Gérard Genette und das Palimpsest

Der englische Romantiker Thomas de Quincey hatte den Begriff des Palimpsestes als Metapher für das menschliche Gedächtnis wiederbelebt, doch geriet diese Idee selbst in Vergessenheit. Im Jahr 1982 wurde er vom französischen Erzähltheoretiker Gérard Genette jedoch erneut und konsequenzenreich in den kulturwissenschaftlichen Diskurs eingeführt. In seinem narratologischen Werk Palipmseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (frz. 1982, dt. erstmals 1993) dient das Bild des überschriebenen Pergaments als Metapher der Intertextualität.

Hypo- und Hypertext nach Genette

Ein vorhandener Text (Hypotext) wird ‘neu’ geschrieben, so dass ein Hypertext entsteht, der ohne seinen Vorgänger nicht denkbar wäre. Ein einfaches Beispiel stellt die Parodie dar, deren Reiz und Witz allein auf dem Wissen um den Hypotext besteht, aber natürlich auch die Wiederkehr eines Motivs wie in den zahlreichen Faustdichtungen oder der Wiederaufnahme antiker Stoffe und Mythen.
Dabei kann noch zwischen inhaltlichen und formalen Kriterien unterschieden werden: Der Titel von James Joyce Ulysses und die in der Erstausgabe gestrichenen Kapitelüberschriften weisen auf inhaltliche Anleihen hin, während er aber auch ein ganzes Kapitel als Streifzug durch die englische Literaturgeschichte enthält, die den Stil der Autoren nachahmt, d.h. ein so genanntes Pastiche an das andere reiht.

Gegen das Vergessen

Das Genette’sche Palimpsest ist also ebenfalls ein Werkzeug gegen das Vergessen, der Neubearbeitung eines Textes „kommt das spezifische Verdienst zu, die alten Werke ständig in einen neuen Sinnkreislauf einzuspeisen“ (Genette). Der Hypertext erinnert an seinen Vorgänger und macht im besten Falle dessen Wiederlektüre notwendig, wodurch dieser ebenfalls am (literarischen) Leben erhalten wird.

Karriere eines Begriffes – Palimpseste in der Kulturtheorie...

Genettes Palimpsestbegriff ist sehr eng gefasst, die Intertextualität beruht bei ihm auf der Wiederverwendung und Wiedererkennung, d.h. zwischen Hypo- und Hypertext besteht eine sehr starke Abhängigkeit und die beiden sind untrennbar miteinander verknüpft. Die strengen Maßstäbe, die Genette festgelegt hat, wurden jedoch in der Rezeption, vor allem mit dem Übergang in andere Kulturwissenschaften aufgeweicht - und dies nicht unbedingt zu ihrem Schaden. Dies kommt auch der metaphorischen Verwendung näher, da nicht vergessen werden darf, dass der überschriebene Text auf einem Pergament gerade eben keinerlei Bezug zu seinem Nachfolger hat, im Gegenteil die Auslöschung ja wegen des völligen Desinteresses an diesem vorgenommen wird, also ein Akt des Vergessens im Gegensatz zur Genette’schen Wiedererinnerung.

...und in anderen Wissenschaften

Die Erweiterung des Palimpsestbegriffs drängt die Wiederaufnahme eher in den Hintergrund und forciert das Wiedererkennen eines früheren Zustands, die Lektüre des überschriebenen Textes wird also relevanter. Beispiele aus den verschiedensten Disziplinen sind hier aufführbar, es seien zwei angeführt, die recht weit von den Kulturwissenschaft entfernt sind, um das Spektrum anzudeuten.
In der geologischen Forschung weist etwa das Vorhandensein von Moränen in Vorgebirgslandschaften auf eiszeitliche Überformungen hin, die Landschaft ist folglich als Palimpsest lesbar. Architektonische Neuverwendungen von Gebäuden erzeugen ebenfalls Palimpseste, profanierte Kirchen beispielweise verlieren zwar ihre inhaltliche Bestimmung, sind aber formal oftmals noch als solche erkennbar.

Literatur:

Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Suhrkamp: Frankfurt/ Main: 3.Auflage 2001.
Jeanette Moser: Das Palimpsest und seine Variationen (Intertextualität) in Martin Walsers Werk ‘Das Einhorn’. Konstanz: Magisterarbeit 1991.

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