Dienstag, 29. März 2016

Sandalenfilme (Teil II): 300.


300

300 USA 2007 116 min.

Regie: Zack Snyder

Buch: Zack Snyder, Kurt Johnstad, Michael B. Gordon; nach der Comic-Vorlage von Frank Miller und Lynn Varley

DarstellerInnen: Gerard Butler (Leonidas), David Wenham (Dilios, Erzähler), Lena Headey (Gorgo); Dominic West (Theron), Vincent Regan (Hauptmann Artemis), Andrew Tiernan (Ephialtes), Rodrigo Santoro (Xerxes), Michael Fassbender (Stelios) u.v.m.   

 
 

Schon die Reagan-Jahre haben einst ihre bluttriefenden Filmikonen hervorgebracht, muskel- und waffenbepackte Einzelkämpfertypen, eher ohne Diplom aus Harvard oder Princeton, auch ohne Aston Martin und Smoking, die ihre Version des Kalten Krieges handgreiflich auslebten – und dafür heute eher belächelt denn bewundert werden. Die 2000er Jahre aber brachten eine seltsame Welle von groß aufgemachten Historienschinken hervor, die nur vordergründig an Ridley Scotts Sandalenfilmwiederbelebungsversuch Gladiator (2000) anknüpften. Werken wie Troja (Wolfgang Petersen, 2004), Alexander (Oliver Stone, 2004) oder auch Königreich der Himmel (Ridley Scott, 2005) war vor allem – bei unterschiedlichsten Ausprägungen – eines gemein: hier kämpfte der Westen gegen den Osten. Den Nahen Osten, könnte man sogar sagen.

300 möchte man nicht den Höhepunkt dieses Subgenres nennen – sofern man wenigstens etwas Respekt vor den Regisseuren der anderen Filme hat. Doch auch Tiefpunkt trifft es nicht, denn dieser Streifen verinnerlicht alle Symptome des noch zu Erläuternden, womöglich ist darum der Begriff Kulminationspunkt noch der beste Kompromiss. Die Welle hat schließlich auch nicht mehr lange weiterexistiert, was in diesem Fall das wenig bedauerliche natürliche Schicksal von Wellen ist. 300 basiert auf einem – gleichnamigen – Comic aus dem Jahre 1999 des für Verfilmungen recht beliebten Frank Miller (Zeichnungen: Lynn Varley), einem Autor, der sich zur Aufgabe gemacht zu haben scheint, noch die pessimistischstem Befürchtungen der Herren Adorno und Horkheimer, die diese in ihrer Dialektik der Aufklärung über Comics hegten, zu bestätigen. Waren die doch der Meinung, die gezeichneten Geschichten dienten insbesondere dazu, schon die Jugend langsam an die Selbstverständlichkeit von Gewalt heranzuziehen. In Millers Comics läuft das Blut in Strömen, beziehungsweise spritzt umher, daran hat er unleugbar irgendein nicht näher durchschaubares Vergnügen, welches er nicht einmal mit irgendeinem Pseudoargument verklausuliert. Was bietet sich also besser an als die Geschichte eines deutlich überschaubaren Massakers aus der Historie? Noch dazu eines, wo die als „die Guten“ Angesehenen sich opfervoll hinmetzeln lassen.

Die Schlacht der persischen Übermacht gegen eine kleine spartanische Truppe bei den Thermopylen ist Mythos im doppelten Sinn: noch heute präsent als aufopferungsvolle Tat für einen höheren Sinn – die Rettung Griechenlands – spricht der Althistoriker Ernst Baltrusch dagegen nüchtern und relativierend von einem Kampf, der nicht kriegsentscheidend, wohl aber legendenbildend war. Eine Legende, die vor allem einen Nutznießer hatte: Sparta. Besiegt wurden die Perser durch gemeinsame Aktionen der griechischen Völker, aber diese wiederum unterlagen bald selbst der Hegemonie der durchmilitarisierten Herrschaft Spartas. Und selbst ein besiegter und intelligenter Geschichtsschreiber wie Thukydides lässt gelegentliche Bewunderung für diese Form von Autorität durchscheinen. Die Bewunderung dieses Vorbilds – und Vorgängers – wuchs aber gerade unter den Antidemokraten des 19. und 20.Jahrhunderts und hat offensichtlich wenig von ihrer Faszination auch im 21. verloren. Baltrusch urteilt – hier später noch ausführlicher zu Behandelndes – vorwegnehmend: Diese freie griechische Stadt lebte nach dem Grundsatz: Der einzelne ist nichts, das Vaterland, die Stadt ist alles. Erziehung, Wirtschaft, Kultur, Religion fügten sich in die Idee des Staates ein – Sparta war der erste totalitäre Staat der Weltgeschichte und damit Vorbild auch für moderne Vertreter dieser Gattung.

An der Jahrtausendschwelle macht sich nun jemand die Mühe, eine weitere Interpretation des Geschichtsmythos zu liefern. Frank Miller mit seinem Comic 300. Eine Interpretation, wohl gemerkt, keine Geschichtsaufbereitung für Historiker, orientiert zwar an der historischen Überlieferung, aber nicht kritisierbar für eventuelle Abweichungen von den derzeitigen historischen wissenschaftlichen Erkenntnissen, schließlich handelt es sich um ein – wie auch immer zu wertendes –  Kunstwerk. Der Vorwurf der Geschichtsklitterung ist ein gefährliches Spiel in solchen Fällen, andererseits kann es natürlich nicht ausbleiben, auf die Auslassung oder Hinzufügung bestimmter – allgemein bekannter – Überlieferungen hinzuweisen, denn Akzentuierung und Auslassung sind bereits künstlerische Verfahren. Ein einfaches Beispiel: die Verfassung des spartanischen Staates beinhaltete eine Doppelkönigsherrschaft, die eine gegenseitige Kontrolle ermöglichte, aber auch ein Ausfallen der Führung verhindern sollte, wenn einer der beiden im Kampf fiel, noch dazu war deren Macht durch bestimmte andere Institutionen teils eingeschränkt, etwa auf religiösem Gebiet. Im Comic und im Film gibt es nur einen König – Leonidas – die einschränkenden Elemente sind noch rudimentär vorhanden, der Rat und die Ephoren, werden von ihm aber ignoriert. Die Konzentration auf eine maßgebliche Führungsfigur ist ein stilistisches Mittel, die das Erzählen erleichtert, gleichzeitig evoziert sie aber ein noch viel stärker autoritäres Bild als ohnehin. Gewollt oder ungewollt – wer diese Vereinfachung vornimmt, muss sich ihrer Wirkung bewusst sein (und man darf davon ausgehen, dass dies der Fall ist). Noch dazu, da Leonidas eine ‚reine’ Figur bleibt – während seine innenpolitischen Gegner (von seinen außenpolitischen gar nicht zu sprechen) sich als korrupt und verräterisch herausstellen werden.

Einführend schildern Film und Comic in Lagerfeuergeschichten die Vorzüge der spartanischen Erziehung, illustriert vom Erzähler an der Jugend des Königs Leonidas: setze im Winter halbnackte zehnjährige Kinder aus, damit sie vom Wolf gefressen werden oder auch nicht. Wer das übersteht, hat sich bewährt und darf später mit diesem Spielchen weitermachen, nur nicht mit Wölfen, sondern Menschen. Leonidas übersteht diesen Männlichkeitsmythos keineswegs überraschend bravourös, im Film darf er sich vorher noch – rein erziehungspsychologisch natürlich – von seinen Lehrern durchprügeln lassen, dafür aber immerhin mit dem groteskesten Wolf seit Joe Dantes The Howling herumschlagen; wozu einerseits zu sagen wäre, dass Snyders Film alle Tiere bis hin zur – Verzeihung – Albernheit computeranimiert verzerrt, ihm dafür aber andererseits die sympathische ironische Haltung Dantes gegenüber seinem eigenen Werk völlig abgeht. Snyder lässt nicht erkennen, dass er die Herausstellung von Krieg als Lebensziel bereits für Kinder und äußerste Brutalität als Erziehungsmittel auch nur im Ansatz hinterfragt, indem er sie etwa ironisiert, stattdessen wird bei ihm der Ausbildung zu finest (!) soldiers noch zusätzlich extra Platz eingeräumt, der Kampf mit dem Wolf durch Chöre heroisierend untermalt. Man darf es in dieser Logik für angemessen halten, dass Verhätschelung zukünftigen Schlachtviehs nicht angebracht ist: Sparta needs sons, von Töchtern ist weder im Comic noch im Film je die Rede, diese existieren bestenfalls – wie auch in dieser Bemerkung Leonidas’ – als zur Fortpflanzung notwendige Existenzen für die nächste Generation von Kriegern.

Der Feind im Innern, ein klassisches Schema, ist ein beliebter Popanz, der von Regierungen, die am Abbau demokratischer Prinzipien interessiert sind, gerne aufgeblasen wird – aufgeblasen, da er oft eine reale Grundlage haben kann, die jedoch überproportional in eine Angstmaschinerie umgesetzt wird. Das machen auch und gerade demokratische Herrscher, die Beispiele aus jüngster Zeit sind überreichlich. Die logischen Konsequenzen solcher falscher Relationen wirken ähnlich einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, die Einschränkung von Rechten erhöht für gewöhnlich das Potential zu innerem Widerstand (der, darüber braucht man sich keine Illusionen zu machen, wiederum nur von einer kleinen Gruppe getragen wird). Trotzdem ist der äußere Feind naturgemäß ein viel besser Kitt für die eigene Gemeinschaft, für Beschwörungen von Zusammenhalt, zur Unterdrückung von abweichenden Meinungen als zersetzend angesichts der Gefahr, zu Aufrüstung und Primat des Militärischen. Berechtigter historischer Einwand: Xerxes und die Perser waren kein imaginierter Feind, sondern eine konkrete Bedrohung für Sparta und Griechenland. Unzweifelhaft. Zweifelhafter dagegen sind schon die angeblichen Alternativen: das „freie“ Sparta – dazu später noch mehr – und der Völkerunterdrücker Xerxes. Sparta war eine unabhängige, sich selbst verwaltende Gemeinde in Griechenland, daher der Ausdruck „frei“ (der sie also von tributpflichtigen Städten unterschied). Mit einer freien (offenen) Gesellschaft in modernen Sinn hat dies nichts zu tun (das würde man als halbwegs historisch bewanderter Zeitgenosse wohl auch kaum vermuten, doch Buch und Film versuchen hier eine – noch zu zeigende – Umdeutung). Xerxes unterdrückt ganze Völker, die Spartaner unterdrücken Nachbarstädte – und die überwiegende Mehrheit der eigenen Bevölkerung, was Miller und Snyder überhaupt nicht erwähnen. Während die Perser die unterworfenen Völker integrieren – wenn auch nur durch imperialistischen Zwang – ist die Gesellschaft Spartas extrem xenophob nach außen und in der grotesken Situation, dass die Eliten der Stadt ständig in Angst leben vor der eigenen Bevölkerung. Was die kontrafaktische Frage erlaubt, ob vielleicht nicht ein Gutteil der von Sparta Beherrschten lieber unter dem Perser Xerxes als dem kleineren Übel gelebt hätte; um ihre ‚Freiheit’ war es nämlich nicht sehr gut bestellt.

Damit halten sich Film und Comic natürlich nicht auf. Dort ist der Perser mit seiner gigantischen Armee aus tausend Völkern, wie es immer heißt, der undifferenzierte Feind schlechthin. In der Charakterisierung von Gegnern sind alle an einem Krieg Beteiligten stets wenig einfallsreich: wichtig ist die Abwertung, um das Gewissen der eigenen Kämpfer von vorneherein zu erleichtern. Darum setzt man den Feind auf die niedrigere Stufe des Tieres herab: ständig ist vom enemy als beast die Rede. Das ist klassisch. Ähnlich die Zuschreibung gewisser dämonischer Eigenschaften des Feindes, die weniger auf seine Fähigkeiten abzielen, sondern ähnlich der Vertierung den Aspekt der Nicht-Menschlichkeit erhöhen – aber auch das eigene Prestige, sich gegen eigentlich überirdisch unbesiegbare Dämonen durchzusetzen (oder als vorweggenomme Entschuldigung für eine Niederlage). Deshalb bezeichnet Leonidas die Perser auch als würdige Gegner für einen beautiful death – allerdings weniger den persischen Soldaten an sich (der kaum etwas von spartanischer Würde vorzuweisen hat), sondern eher die ungleich verteilte schiere Masse. Der Film überdreht – wie gehabt – diese buchstäbliche Dämonisierung ein weiteres Mal ins Albern-Groteske, indem er die persischen Soldaten tatsächlich ‚entmenschlicht’, hinter den Masken der Immortals verbergen sich Gestalten aus dem Horrorfilmrepertoire, dazu kämpfen in den Reihen der riesigen Armee Freak-Gestalten in Form meterhoher Muskelberge oder Henkersknechte mit Messerarmen. Auch hier also wieder Ab-Normes auf rein körperlicher Ebene.

Auch die Diffamierung des Feindes als effeminiert ist ein klassischer Topos (der z.B. wenig ins Bild vom würdigen Gegner passt). Die Perser – vor allem ihre Boten – sind goldkettenbehängt, geschminkt, gepierct und tragen bunte Klamotten. Die Überhöhung des Ganzen ist Xerxes selbst, dessen körperliche Größe (mit der er dann auch wirklich an einen Popanz erinnert) und im Film zusätzlich durch seine grotesk tiefe Stimme völlig mit seinem weibischen Auftreten kontrastiert. Im Vergleich mit dem durchtrainierten makellosen Muskelmann Leonidas, dessen einziger Schmuck seine Narben (und das Amulett seiner Frau) sind, ist Xerxes mit seinen akkurat gestylten Augenbrauen nicht mehr als eine Witzfigur. Leonidas legitimiert sich schon durch sein Aussehen und Auftreten – nie verliert er die Contenance – als wahre Führerfigur, Xerxes ist ein Herrscher, dessen Macht lediglich auf Gewalt und Angst basiert, wie ihm der Spartaner (der wissen muss, wovon er spricht), des öfteren vorhält. Xerxes kämpft auch nicht selbst, geschweige denn, dass er mit seinen Mannen lagert; er gibt sich lieber Orgien im Fürstenzelt hin.

Es gibt ein Charakteristikum der Perser, dass nicht traditionell, sondern symptomatisch für Entstehung von Comic und Film ist – weshalb der Film es auch wesentlich deutlicher herausstellt. Tierisch, dämonisch, effeminiert, das sind, wie gesagt, klassische Zuschreibungen, um einen Feind zu diffamieren. Dies zu kombinieren ist auch nicht unbedingt originell, all das wieder aufzugreifen und neu in Szene zu setzen lässt schon tief blicken, doch die vierte Kategorie verrät noch mehr über zugrunde liegende Motivation: die Perser sehen nicht wirklich aus wie antike Perser. Damit sind naturgemäß nicht die grotesken Einzelfiguren gemeint, auch nicht die fehlende historische Akkuratesse von Waffen und Uniformen, sondern die ganz einfache Darstellung der persischen Soldaten, die wenig haben von antiken Personen aus dieser Region. Ihr Aussehen ist vor allem fremdartig – und dann doch wieder nicht: das Heer des Xerxes scheint zu bestehen aus Arabern, Tuareg, mittelalterlichen Sarazenen, männlichen Burkaträgerinnen (man sehe sich die Szene an, in der die Boten in den Brunnen stürzen), Indochinesen und afrikanischen Voodoopriestern. Wie es letztere beide Völkerschaften in Xerxes’ Heer geschafft haben, soll jemand anderes untersuchen, der Trend ist klar: besser könnte man den neuen Ost-West-Kontrast kaum darstellen; einziger Fehler des Ganzen, noch sind die vereinigten Völker keine Muslime (immerhin aber sehen sie schon so aus). Aber sie sind jetzt schon Vertreter einer world of mysticism and tyranny, wie der Erzähler am Ende des Films noch einmal erinnert und nur gut, dass die weißen Muskelmänner aus Griechenland sie gerade noch einmal aufgehalten haben. Dass gerade Sparta auf genau dem gleichen Prinzip basiert – egal. Dass die Perser ein religiös sehr tolerantes Volk gewesen sind, wie jeder brave christliche Bibelleser wissen könnte – Schwamm drüber.

Der Feind aus dem Nahen Osten ist also nicht nur vertiert, dämonisch, weibisch und dann auch noch eine Art prämuslimischer Anhänger einer undurchschaubaren Religion, er ist, nicht zu vergessen, überwiegend auch noch körperlich ab-norm, trotzdem lasziv und promisk – wie das Feldlager des Xerxes unterstreicht – und kurioserweise auch ‚tyrannisch’. Da Leser und Zuschauer über die Hintergründe des spartanischen Staates nichts vermittelt wird, erscheint dies dem Unbedarften auch einsichtig, wie das nun einmal ist bei einseitigen Zuschreibungen. Doch auch rein inhärent müsste man sich fragen, ob der Aspekt des Brutalen, der zur Tyrannei gehört, ein Privileg der Perser sein soll. Zugestanden, es ist schwierig, Nuancen auszumachen in einem Werk – es gilt für beide Medien – das in Brutalitäten schwelgt. Der Film bringt es dabei allerdings fertig, das Töten von Menschen als ästhetische Tanzchoreographie darzustellen – was dann durch die Unterlegung mit elektronischen Gitarrenriffs allerdings ungewollt noch lächerlicher wirkt als ohnehin. Eine genauere Betrachtung zeigt recht schnell, dass die Spartaner an Grausamkeit nicht nur mit den Perser mithalten können, sondern sie diese bei weitem übertreffen. Dank der vorhandenen Masse scheint Xerxes, offenkundig ein antiker Mao, ein Menschenleben wenig wert. Doch gilt dies für Leonidas nicht weniger, auch wenn er gerade keine Masse zur Verfügung hat. Mitleid mit dem oder Respekt für (ja angeblich würdigen) Gegner ist von ihm nicht zu erwarten, aber diesen Vorwurf müssen sich vermutlich viele Militärs aller Ränge gefallen lassen. Leonidas hat aber auch kein Mitleid mit seinen eigenen Untergebenen.

Ihre krude Philosophie verkünden Comic und Film in erstaunlicher Offenheit. Leonidas bedauert grüblerisch, dass er seine Leute in den sicheren Tod führt – ein Anflug von Selbstzweifel? Keineswegs, his only regret ist that he has only so few to sacrifice (Hervorhebung im Original). Das Zitat wiederholt im gleichen Wortlaut auch der Film. Unverkennbar ist es wichtig. Dass der Spartaner ab Geburt als zukünftiges menschliches Schlacht-Vieh betrachtet wird und eigentlich kein Lebensziel, sondern nur ein Todesziel (beautiful death) hat, wurde schon mehrfach betont. Die höchste Form ist das Opfer, an individuellem Leben ist niemand interessiert. Dann darf man allerdings die nicht ganz unberechtigte Frage stellen: wofür? Hinter dem Phrasen-Blabla vom Vaterland und der freien Stadt kann für den eigenen zumindest mit halbwegs Denkvermögen ausgestatteten nichts stecken als eine abstrakte Aporie: da der Mensch seinen höchsten Wert nur als Opfer bestätigen kann, wird er dieses Opfer suchen – wie auch seine Söhne und so fort. Wer nicht als Opfer endet, ist folglich eine eher minderwertige Figur. Bleibt insgesamt eine Gesellschaft aus ständigen Märtyrern und zurückbleibenden Zweitrangigen. Solch ein absurdes System ist weder tragfähig noch wünschenswert – aber geradezu ein Prototyp totalitären Denkens. Wenn sich das deutsche Volk als das schwächere erwiesen hat...

Kurzum: ein Menschenleben ist keinen Pfifferling wert – sicher, auch der Film möchte nicht auf das beliebte Diktatorenmotiv vom kleinen Kind, das die an die Front ziehenden Spartaner in die Arme schließen, verzichten, aber ansonsten reiht sich eine Floskel aus dem Wörterbuch des zynischen Menschenverächters an die andere: trained...bred...born...to do: töten. No prisoners. No mercy. A good start. – Spartans never retreat! Spartans never surrender! Und die Worte des Captains nach dem Tod seines Sohnes: Heart? I have filled my heart with hate. Worauf Leonidas lakonisch antwortet: Good. Und erneut sind sich Comic und Film in der Betonung einer Szene besonders einig; selten dürften in populären Medien als positiv dargestellte Helden solch einen Gipfelpunkt an Zynismus erreicht haben wie Leonidas und sein Captain, die nach einem der zahlreichen Gemetzel einen angenehmen Plausch führen inmitten der am Boden liegenden Gegner. Der König isst dabei genüsslich einen Apfel, der Truppenführer sticht so nebenher die Perser ab, die noch Lebenszeichen von sich geben. Man würde dies, sich einen negativen Protagonisten vorstellend, für übelste Propaganda halten, doch hier sind es die Helden, für die das Handwerk des Tötens eine Art Freizeitbeschäftigung geworden ist. Um so schlimmer, dass sie dies offenkundig sogar auch noch bemerken, den Leonidas goutiert diese Arbeit auch noch mit dem Bonmot: there’s no reason we can’t be civil, is there? Mit dieser ‚witzigen’ Bemerkung ist der geistige Tiefpunkt in einem an Tiefpunkten gewiss nicht armen Machwerk dann auch endgültig erreicht.

Die schon erwähnte Idee vom ‚freien’ Sparta meint, wie schon angeführt, nichts anderes als eine sich selbst verwaltende Stadt. Diese historische Definition ist aber natürlich für den zeitgenössischen Konsumenten nicht die präsente – und wird von Film und Buch auch nicht als solche gewollt. Der Freiheitsbegriff wird hier anachronistisch modern interpretiert und nicht nur mit den zeitgenössischen Implikationen versehen, sondern diese werden mehrfach auch explizit formuliert. Am besten fasst dies die Rede der Königsgattin vor dem Rat zusammen; die Unterstützung des Krieges – man achte hier bereits auf den Zweck ihrer Rede! – diene der Durchsetzung folgender Prinzipien: Preservation of Liberty, Justice, Law and Order, Reason und Hope, außerdem der Abwendung von rubble and chaos. Bis auf Hoffnung und – mit Abstrichen – Reason, sind dies politische Forderungen. Auch im Comic wird Spartas Einsatz gern mit the world’s only hope for reason and justice gerechtfertigt – hier ist man auch wieder bei der suggerierten Rettung des Abendlandes. An anderer Stelle schwingen sich die Spartaner zum einzigen Verteidiger der republics of Greece auf, the only free men the world has ever known. Historisch kann die freie Stadt Sparta keinem einzigen Punkt dieser edlen Liste genüge tun, doch gerade die militaristisch-totalitäre Gesellschaft zum Bannerträger von liberty und reason zu erheben ist keine eigenwillige, sondern nur noch lächerliche Interpretation. Schon in den demokratischen Gemeinden war es um die vermeintliche Freiheit vieler ihrer Bürger nicht sehr gut bestellt, aber warum die Monarchie Sparta, was ja Film und Buch nicht leugnen, sich gerade sorgen sollte um die Republiken, das verstehe, wer will – vor allem da beide auch keinen Hehl machen aus der Verachtung der Spartiaten für Athen und für ihre verbündeten Bürgerarmeen. Jedoch ist Sinn und Zweck der unhaltbaren Charakterisierung Spartas als Verteidiger der Freiheit und damit auch Sanktionierung für die gerechte Grausamkeit mehr als offenkundig. Die Rede von Leonidas’ Frau klingt nämlich alles andere als historisch, überzeugt werden soll nicht der Rat Spartas, sondern der Zuschauer.

Sparta selbst und insbesondere die Schlacht bei den Thermopylen diente, worauf schon aufmerksam gemacht wurde, gern als Vorbild für allerlei dubiose Zwecke. Der wohl hierzulande bekannteste ist die Gleichsetzung dieser Schlacht mit den Geschehnissen bei Stalingrad 1943 in einer Rede Hermann Görings an die Deutschen und insbesondere die eingeschlossene Armee. Die Ansprache war auch in Stalingrad zu hören und wurde dort als „Leichenrede“ aufgenommen. Göring, der versprochen hatte, Stalingrad aus der Luft zu versorgen, scheute sich nicht, dieses militärische Desaster, bei dem auf deutscher Seite über 200000 Soldaten ums Leben kamen und 90000 in Gefangenschaft gingen, mit dem Kampf von Leonidas und seinen dreihundert Spartanern gegen die Übermacht des Perserkönigs Xerxes zu vergleichen und mit dem Kampf der Nibelungen – so der Historiker Peter Reichel. Über die Abwegigkeit der Zusammenstellung dieser beiden (oder drei, noch dazu ist die katastrophale letzte Nibelungenschlacht eine pure Fiktion) muss man weiter kein Wort verlieren, allenfalls die blutig bezahlte Ironie der Geschichte, dass die Thermopylenepisode – nach Baltruschs oben genannter Aussage – nicht kriegsentscheidend war in einem Krieg, den die dort Unterlegenen noch gewannen, während Stalingrad endgültig kriegsentscheidend war in einem Krieg, denn die dort Unterlegenen verloren. Das dürfte kaum Görings Motivation gewesen sein.
 

Eine andere Propagandistin des Dritten Reiches wurde von einigen Kritikern des Filmes des öfteren genannt, wenn es um die Ästhetik von 300 ging: Leni Riefenstahl. Inwiefern dies berechtigt ist, soll hier nicht eingehender diskutiert werden, am augenfälligsten ist es, wenn man den Vorwurf gelten lässt, wohl in der Darstellung der männlichen Körper – natürlich nur der Spartaner. Doch die Reduktion des Menschen auf seine unversehrte Körperlichkeit – die jeweils nur der eigenen Gruppe zugesprochen wird – ist eher ein klassischer und sehr allgemeiner Topos autoritären Denkens egal welcher Couleur. Es fällt natürlich schwer, hier keinen Zusammenhang zu sehen zwischen der grundsätzlichen Abhängigkeit von Form und Inhalt, d.h. die ästhetische Wiedergabe reflektiert nur die inhaltlichen Grundlagen – und im Fall von 300 geschieht dies sehr unverblümt. Vielleicht rührt daher die Gemeinsamkeit mit Riefenstahl. Wesentlich erstaunlicher – aber dann doch auch wieder nicht – ist die komplette Ignoranz gegenüber einer durch die Historie eigentlich desavouierten Ikonographie; von der man bestenfalls noch hoffen kann, das sie einfach nur gedankenlos ist. Der Film übernimmt aus dem Comic die Bilder einer von den Spartanern aufgebauten Mauer, die anfangs teils, später überwiegend aus den Leichen ihrer Gegner aufgerichtet wird. Dass dies von den Soldaten mit einer rein handwerklichen Akkuratheit und unter Begleitung süffisanter Kommentare bewerkstelligt wird – während die Grausamkeit dieser Idee sogar die Perser erschreckt – gehört zum üblichen zynischen Grundtenor von Film und Buch. Dass weder Autor noch Regisseur die Ähnlichkeit dieses Leichenhaufens mit den Bilder von Massengräbern oder KZ-Aufnahmen registrieren – eine absichtliche Parallele will man ihnen nicht unterstellen, schließlich handelt es sich hier um eine Tat der „Guten“ – ist vermutlich eines der entlarvendsten Symptome beider Medien.

Was den Punkt der zur Schau gestellten Körperlichkeit angeht, wurde in vielen Rezensionen kolportiert, der Film erfreue sich großer Beliebtheit bei homosexuellen Männern. Inwiefern dies eine phantasievolle Unterstellung ist oder ob tatsächlich genug Homosexuelle bereit waren, sich auf diese oberflächliche Art zu vergnügen, sei dahingestellt, in jedem Fall setzt es eine sehr unreflektierte Gleichsetzung von halb oder ganz nackter Fitnessstudiomuskelprotz wirkt attraktiv auf schwule Männer voraus. Jedem aufmerksamen Zuschauer wird kaum entgehen, dass der Film (dieser insbesondere, der Comic nur nebenher) in seinen zahlreichen Kategorisierungen auch das Homosexuelle auf die Seite des Ab-Normen stellt. Nicht nur ist die einzige Sexszene heterosexuell und natürlich inner-spartanisch, in dem lasziven und promisken Feldlager des Xerxes gibt es dagegen erotisches Kuddelmuddel, in dem sich – auch ein Stereotyp von Männerphantasien – wohlgeformte Frauen küssen und streicheln. Doch schon dieser Anstrich von Gleichgeschlechtlichkeit wird in der für den Film typischen Weise diffamiert: die Gesichter der Frauen sind von einem hässlichen Ausschlag zerfressen, wie sich auf den zweiten Blick zeigt. Abweichende Sexualität wird eben durch Deformation bestraft – das galt schon für die Ephoren, was nur unterstreicht, das ein weiteres Mal eine völlig absurde Gleichsetzung vorgenommen wird: in die Reihe des Ab-Normen fallen nach solch einfach strukturiertem Weltbild gleichzeitig Inzucht und Homosexualität. Wem dies trotzdem noch zu subtil erscheinen mag, der kann es auch ganz offen haben; Leonidas macht schon zu Beginn des Filmes keinen Hehl aus seiner Verachtung für die athenischen boy-lovers. Das ist natürlich spartanisch konsequent, da eine Gesellschaft, deren Hauptzweck die stete Produktion einer Kriegerkaste ist, sexuelle Normabweichungen nicht tolerieren kann.

Und so bleibt die grundlegende Frage, warum jemand gerade zu diesem Zeitpunkt diese Geschichte der Spartaner und mit ihr den Thermopylenmythos wieder ausgräbt – und in dieser Form umsetzt. Sprich heroisch, vorbildhaft, unironisch, zweckverdichtet auf bestimmte Elemente – warum nicht distanziert, dekonstruierend (was ja nicht weniger zeitgeistig wäre), skeptisch oder gar parodistisch gebrochen. Warum die Wiedergabe einer ambivalenzlosen Heldengeschichte, der noch dazu ein so langer historischer Rattenschwanz an propagandistischen Missbrauch anhängt, auf dessen Pfade man ohne zu zögern wieder einschwenkt. Millers Comic gibt das alles vor, schon 1998, Snyder setzt es in ein Medium um, das noch größere Resonanz verspricht – die der Film auch bekam, er war einer der erfolgreichsten des Jahres 2007. Allein das ist schon Beweis genug, dass er Strömungen des Zeitgeistes aufnahm. Der Comic hatte bereits Erfolg, dessen Gründe hinterfragt werden müssten, doch das Genre des Comics hat allgemein Platz für allerlei subkulturell Toleriertes; und nicht immer ist die Subkultur die Avantgarde progressiven Denkens. Millers Idee nahm wohl damals bereits die latenten Ängste eines abendländisch-nahöstlichen Großkonflikts auf, die ja längst nicht nur unter der Oberfläche kursierten; Samuel Huntingtons späterer Bestseller war längst geschrieben, islamistische Terroristen hatten ihre Zeichen bereits gesetzt. Snyder konnte dies für seine Verfilmung nach dem 11.September natürlich bestens nutzen – denn nun war diese drohende Auseinandersetzung keinesfalls mehr latent, sondern Alltag und Wirklichkeit. Oder wurde zumindest so wahrgenommen. Und diese Wahrnehmung verstärken Filme wie die genannten Sandalenschinken, in dem sie eine scheinbare historische Kausalität der Auseinandersetzung suggerierten (gewollt oder ungewollt). Wer nicht soweit zurückgehen mochte, den erinnerte Ridley Scott mit Black Hawk Down (2002) an die längst bekannt gewesenen Gefahren islamistischen Terrors, indem er das Trauma der Amerikaner 1993 in Mogadischu noch einmal sehr bildgewaltig in Szene setzte. Und wer wollte, konnte darin auch noch zusätzlich das Scheitern der zu ‚weichen’ Politik des demokratischen Amtsvorgängers Bill Clinton erkennen. Kein Wunder, dass Scott für seinen Film die Hilfe der US-Armee in Anspruch nehmen durfte. 300 aber ist der uneinholbare Exponent dieser Art von Filmen, er ist symptomatisch für die wirklich verwerflichen Versuche der Bush-Jahre, unter dem Vorwand äußerer (und auch innerer) Gefahr, Grundsätze der Demokratie, der Diplomatie und der Menschenrechte abzubauen und preiszugeben, indem er dafür eine populärästhetische Legitimation abliefert. Und dies in einer der ältesten modernen Demokratien, auf deren Standhaftigkeit man allerdings bauen kann, was viele antiamerikanische Bush-Bashing-Spezialisten offenkundig jedoch nicht verstanden hatten, die amerikanische Republik war immer fähig, ohne große Gefährdungen auch einen zündelnden Präsidenten zu verkraften. Trotzdem waren allein diese Versuche fatal und voraussehbar völlig kontraproduktiv. 300 spiegelt eine Spielerei mit – anders kann man es nicht ausdrücken – faschistoiden Gegenentwürfen wider, mit einer vermeintliche Rückbesinnung auf bestimmte autoritäre Tugenden, mit einer Reduktion auf ein leicht nachvollziehbares, da unkomplexes Kategorisierungsschema in Normen- und Ab-Normen, anders ausgedrückt Gut-und-Böse.

Vielleicht das auf seine Weise einleuchtendste und überführendste Zeugnis dieser Propagandalektion in reaktionärem Denken ist die Tatsache, dass Miller und Snyder sich gerade Sparta zum Vorbild gewählt haben – und eine Schlacht, die letztlich auch nur, da die ohnehin wenigen Verbündeten sich rechtzeitig davonmachen, von Spartiaten geschlagen wird. Hinzukommend ist es erschreckend, dass es gerade den so überzeugt demokratischen US-Amerikanern, noch dazu in mit ihnen so stark assoziierten Medien wie Comic und Spielfilm nicht aufgefallen ist, dass hier als Ideal diejenige totalitäre Gesellschaft hingestellt wurde, deren Ziel es war, Athen, die allererste abendländische Demokratie, zu zerstören. Was Sparta auch gelungen ist.   

Vorheriger Film: (1) Die letzte Legion.

Donnerstag, 17. März 2016

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (1) - James Joyce: Ulysses.


James Joyce: Ulysses. st 2551

Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen (7). Mit diesem recht unspektakulären ersten Satz aus James Joyces (1882-1941) Ulysses begann der Suhrkamp-Verlag 1996 seine Reihe der Romane des Jahrhunderts, der wohl ästhetisch schönsten Taschenbuchedition um die Jahrtausendwende. Die Wahl gerade dieses Werkes als Auftakt kann kaum überraschen, es dürfte allenfalls noch ein einziges Buch geben, das Ulysses den Titel als bedeutendsten Roman des 20. Jahrhunderts streitig machen könnte, Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Nun könnte allenfalls noch eingewandt werden, ob es allzu klug sei, sein Pulver gewissermaßen gleich zu Beginn zu verschießen, doch ging es dem Verlag nicht um eine Rangordnung oder gar einen Wettbewerb, sondern vielmehr um ein weltweites Panoptikum der Romanliteratur des vergangenen Jahrhunderts.

            Und da steht Ulysses zweifelsohne an vorderster Stelle, wofür sich zahlreiche Gründe finden ließen, von denen nur einer hier ausführlicher genannt werden soll: obwohl bereits 1922, also noch im ersten Viertel des Jahrhunderts erschienen, ist Joyces Meisterwerk das Buch, das die Strömungen der vorhergehenden Jahrzehnten aufnimmt, durch das sie als Nadelöhr oder an ihm vorbei als Torwächter hindurch müssen und aus dem danach zahlreiche neue Strömungen hervorgehen werden. Als Romanschreiber muss man sich vom Ulysses erst wieder erholen, sonst findet man keine eigene Stimme, so charakterisiert Salman Rushdie den Einfluss diesen einen Buches. Dass Joyce zahlreiche Stile seiner Vorgänger aufnimmt, zumeist in parodistischer Form, er die ganze Literaturgeschichte in Pastiches durchwandert, ist bekannt – dass er zahlreiche Nachfolger geprägt hat und damit selbst Literaturgeschichte geschrieben, ist offensichtlich. Da er einen gelinden anhaltenden Schmerz in seinen Fußsohlen verspürte, streckte er den Fuß nach einer Seite aus und betrachtete die durch Fußdruck im Lauf seiner wiederholten Gänge in mehreren verschiedenen Richtungen entstandenen Falten, Protuberanzen und vorspringenden Punkte, entknotete dann, vorgebeugt, die Senkelknoten, enthakte und löste die Senkel, zog jeden seiner beiden Stiefel zum zweitenmal aus, löste die zum Teil durchfeuchtete rechte Socke, durch deren Spitze wieder der Nagel der großen Zehe gedrungen war, hob den rechten Fuß und zog, nachdem er einen purpurnen elastischen Sockenhalter davon abgehakt hatte, seine rechte Socke aus, stellte den unbekleideten rechten Fuß auf die Kante der Sitzfläche seines Stuhls, fasste den vorstehenden Teil des großen Zehennagels und riß ihn sanft ab, hob den abgerissenen Teil an seine Nüstern und inhalierte den Duft des Lebendigen, warf dann das abgerissene Nagelfragment mit Befriedigung fort (878) – akribisch-präzise Beschreibung à la nouveau roman vierzig Jahre vor Alain Robbe-Grillet und Nathalie Sarraute. Nur ein Beispiel von vielen möglichen.

            Dabei ist der Plot der Handlung fast schon mehr als banal: geschildert wird der Tag vom Aufstehen bis zum Zubettgehen des Dubliner Annoncenwerbers Leopold Bloom. Jener 16. Juni 1904 (310) ist heute der legendäre „Bloomsday“, doch spielt sich an ihm wenig Ereignisreiches ab, Bloom verbringt viel Zeit mit Freunden und Kollegen, auf der Arbeit, aber vor allem auch in Kneipen und anrüchigen Gegenden. Gewiss, er nimmt an einer Beerdigung teil und indirekt an einer Geburt, doch beide Male sind hiervon nur Randfiguren seines persönlichen Umfeldes betroffen – es sind also, obwohl hier die großen Themen Tod und Geburt angeschnitten werden, keine einschneidenden und etwa mit großen emotionalen Umbrüchen verbundene Wendepunkte im Leben des Leopold Bloom. Anders steht es – vielleicht – um die Begegnung mit dem Mitprotagonisten Stephen Dedalus, einer der Figuren, deren Weg er kreuzt, oder auch im Verhältnis zu seiner Frau Molly, deren legendärer Schlussmonolog in Gedanken den 16.Juni 1904 für ihren Gatten dann eventuell doch noch zu einem Wendepunkt werden lassen könnte.

            Alltag also. Aber, wie Hermann Broch, auf den Joyce früh eine enorme Wirkung hatte,  sagte: ein Welt-Alltag. Damit ist nicht gemeint, dass Joyce in seinem Roman quasi das Weltgeschehen an diesem Juni 1904 auf eine umfassende Art, quasi in nuce, geschildert hat, oder wie später ein Georges Perec eine möglichst vollständig-akribische Schilderung genau dieses einen Tages versucht hat, sondern dass sich den Lesern der Alltag, der so banal erscheint, durch das Können Joyces wie eine neue Welt erschließt. Die Sprache soll nicht dazu dienen, einen Gegenstand zu fixieren, sie soll ihn vielmehr für die Vorstellung entwerfen. Das aber bedeutet, dass der Gegenstand nicht aus einem einzigen Blickwinkel gesehen wird, sondern aus möglichst vielen. Durch die Vermehrung der Perspektiven werden zwar die Umrisse des Gegenstandes unschärfer, dafür beginnt er jedoch zu wachsen, analysiert Wolfgang Iser das Vorgehen des Schriftstellers Joyce. Die stilistische Vielfalt ist hierbei eine Herausforderung für jedweden Leser, aber auch den Übersetzer – derer sich Hans Wollschläger auf kongeniale angenommen hat, wobei er selbst zugibt, dass es ein endgültiges Resultat nicht geben kann und selbst die vorliegende Ausgabe ein Werk im Flusse ist und keineswegs abgeschlossen.
            Dazu passt den wiederum die Bemerkung eines Zeitgenossen Joyces, dessen großes Werk im gleichen Jahr erschienen ist, weshalb 1922 gerne als annus mirabilis (mindestens) der englischsprachigen Literatur bezeichnet wird: T.S. Eliot, Autor des Gedichtes The Waste Land, der schließlich Ulysses mit einem weiteren bedeutenden Ereignis der Zeit in Verbindung setzte: nachfolgende Schriftsteller werden die durch Joyce gewonnenen Erkenntnisse und Möglichkeiten so nutzen können wie the scientist who uses the discoveries of an Einstein. Damit schließt sich auch der Kreis zu der oben bereits angeführten Beobachtung Salman Rushdies, so wie ein begabter Physiker die Relativitätstheorie Einsteins kennen sollte, aber anschließend nicht einfach nur diese reproduzieren, so muss sich jeder Romanautor mit dem Werk Joyces auseinandersetzen und darüber hinausgehen – und von beidem hat nie jemand behauptet, dass dies einfach sei. Und nebenbei hat Joyce mit dem Ulysses seiner irischen Heimat einen im Roman geäußerten Wunsch gleich miterfüllt: unser National-Epos muß erst noch geschrieben werden (263).