Freitag, 24. November 2017

Das Zitat zum Freitag.


"Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muß den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat."
 
 
Erich Kästner (1899-1974) in seiner Rede zum 25.Jahrestag der Bücherverbrennung der Nazis - der er als einziger Schriftsteller, deren Texte dort ins Feuer geworfen wurden, als Zuschauer beigewohnt hatte.
Die Rede ist insgesamt sehr lesens- und bedenkenswert, wie der gesamte Band, in dem sie abgedruckt wurde:
 
Klaus Schöffling (Hg.): Dort, wo man Bücher verbrennt. Stimmen der Betroffenen. Frankfurt/Main: Suhrkamp: 1983.  

 

Dienstag, 7. November 2017

Lektüremonat Oktober 2017.


Ein kleiner Rückblick über die Lektüren des Monats Oktober, der Übersichtlichkeit halber beschränkt auf die fiktionale Literatur.


Anais Nin: Ein Spion im Haus der Liebe.

Die einstige Grande Dame der amerikanischen Literatur (1903-1977), die in Europa und den USA zuhause war, ist vor allem bekannt für ihre Tagebücher und den erotischen Klassiker „Das Delta der Venus“. Der kurze Roman entstammt ihren literarischen Anfängen und ist doch sehr charakteristisch: eine Frau nimmt sich das Recht auf Liebhaber, ohne ihrem Ehemann untreu sein zu wollen. Damals skandalös, hat das Buch mit dem ebenso symptomatischen wie genialen Titel, der den Beobachterstatus mit der Vorgaukelei verbindet, eigentlich nichts von seiner inhaltlichen Brisanz verloren: einerseits ist die Protagonistin emanzipiert selbstbewusst, andererseits voll verzweifelter Unsicherheit. Trotzdem wohl eher etwas für einen Leserkreis, der mit diesem Dilemma zu kämpfen hat. 

Marie NDiaye: Selbstportrait in Grün.

Die preisgekrönte französische Schriftstellerin (geb. 1967) berichtet in ihrem Roman von 2005 aus der Sicht einer jungen Mutter in der französischen Provinz von deren zunehmenden Begegnungen mit Frauen in Grün. Diese sind keineswegs irgendwelche Unbekannte, sondern Freundinnen, Bekannte, die Mutter und Schwestern, deren Farbenwechsel zugleich eine abrupte Wesensveränderung anzeigt, die zumeist einen dauerhaften Abschied vorwegnimmt. Das Problem: nur die Protagonistin nimmt dieses Changieren ins Grüne wahr, das Kleidung und Augenfarbe betrifft. Nicht zu vergessen: das Buch heißt Selbstportrait in Grün – unterliegt die Erzählerin folglich dem gleichen Phänomen? Ihr Bericht mit dem ironischen Unterton versucht eine Distanz zu dem unheimlichen Geschehen zu schaffen, nicht zu Unrecht fürchtet sie nämlich, dem Wahnsinn zu verfallen. Doch vielleicht ist dies längst schon geschehen. Sehr raffinierter Roman, der die Wahrnehmungen der Erzählerin und der Leserinnen und Leser in Frage stellt.

Arthur Koestler: Als Zeuge der Zeit. 

Ein echtes Selbstportrait eines der international bekanntesten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, der einen der politisch einflussreichsten Romane dieses Jahrhunderts verfasst hat: „Sonnenfinsternis“, seine Abrechnung mit dem Stalinismus, die den Mythos des Kommunismus literarisch entzaubert hat wie später nur noch Solschenizyns „Archipel Gulag“. Dass Koestler (1905-1983) ein berichtenswertes Leben geführt hat, steht ebensowenig außer Frage wie sein journalistisch ausgebildetes Talent, die seine Autobiographie zum großen Lesevergnügen macht. Freundlicherweise schickt er als Vorwort gleich seine Skepsis gegenüber diesem Genre voraus, an die man sich unbedingt auch bei ihm halten sollte: nicht nur war er ein großer Stilist, sondern ein nicht geringerer Selbststilist. Wirkt er in vielem zwar kritisch sich selbst gegenüber, muss man gleichwohl wissen, dass Koestler in vielem ein fragwürdiger Zeitgenosse war, dem das Manipulieren seiner Mitmenschen selbst nicht allzu schwer fiel. Folgerichtig zitiert der Klappentext ein vermeintliches Bonmot Albert Einsteins: „Der liebe Gott weiß alles, Arthur Koestler weiß alles besser.“ Was nichts ändert an seinem oft mutigen Verhalten, seinem aufregenden Dasein in vielen Welten, Ideologien und Zeiten, wobei er weit mehr war als nur Zeuge, sondern oft inmitten des Geschehens. Ein Buch, das mehr verrät über das vergangene Jahrhundert als manch Geschichtsbuch.

Bernhard Lassahn: Prima! Prima! Ein Beo im Eissalon.

Angelika und Hubert werden zu Anna Gina und Umberto und eröffnen in der schwäbischen Provinz eine kleine italienische Eisdiele. Doch leider hält sich der Erfolg in Grenzen, bis Anna Gina auf die Idee kommt, zur Belebung des Geschäftes einen sprechenden Beo anzuschaffen. Das hat, wie nicht anders zu erwarten, unvorhersehbare Folgen – oder wie der Beo sagen würde: Probleme! Probleme! Lassahns (geb. 1951) kurzer Jugendroman erschien in der legendären Rotfuchs-Reihe und wurde von der noch legendäreren Amelie Glienke illustriert, bestens bekannt durch ihre Zeichnungen des Kleinen Vampirs. Amüsant auch für Erwachsene, auch wenn man’s wohl nur einmal liest.

Anatol Feid: Keine Angst, Maria! Eine wahre Geschichte aus Santiago de Chile.

Und noch ein Buch aus der Rotfuchs-Reihe. Die Erzählung repräsentiert den aufklärerischen Anspruch der Reihe und berichtet von einem Vorfall aus der chilenischen Diktatur der Achtziger Jahre. Der Autor, Anatol Feid (geb. 1942), katholischer Priester mit befreiungstheologischem Hintergrund, berichtet vom Alltag in den Elendsvierteln ohne schwarz-weißen Betroffenheitskitsch. Am Beispiel des erschossenen Bruders der zehnjährigen Maria, eines Kleinkriminellen aus Not, zeigt Feid, dass Armut nicht nur unsolidarisch und korrumpierbar macht, sondern gerade dies von der Diktatur zur Erhaltung ihrer Macht perfide ausgenutzt wird. Eine Methode, die an ihre Grenze gerät, sobald die Slumbewohner zusammenhalten – wofür manche von ihnen allerdings mit dem einzigen bezahlen, was sie noch besitzen: ihrem Leben.  

Louis Malle: Au revoir, les enfants.

Frankreich war Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, passend dazu die Lektüre im Original des französischen Regie-Altmeisters Louis Malle (1932-1995). Das zur Erzählung aufbereitete Drehbuch des Films von 1987 berichtet eine autobiographische Episode aus der Kindheit Malles: im Klosterinternat zur Zeit Vichy-Frankreichs kommen drei neue Schüler an, der Protagonist freundet sich nach einigem Abtasten mit dem verschlossenen Ankömmling Bonnet an. Er wittert ein Geheimnis hinter dem introvertierten Jungen, nicht zu Unrecht, wie sich am Ende herausstellt. Bonnet und die beiden anderen Kinder sind Juden, die von den in der Resistance engagierten Patres versteckt gehalten werden. Durch einen Verrat jedoch kommt es zu einem tragischen Tod der Kinder und des Klostervorstehers. Auf seine stille zurückhaltende Art nichts weniger als ein Meisterwerk.
 
Eugene O’Neill: Long Day’s Journey into Night.

Die Mutter: eine verkappte Nonne, die nach dem Tod ihres zweiten Kindes aus Schuldgefühlen einen verspäteten dritten Sohn gebiert und durch einen ärztlichen Kunstfehler morphiumsüchtig wird. Der Vater: ein Schauspieler, der statt mit den geliebten Shakespearestücken durch rührselige Dramen zu Geld kommt, das ihn wiederum zu krankhaftem Geiz verleitet. Der ältere Sohn: ein erfolgloser Schauspieler und Säufer, der seinen jüngeren Bruder ebenso liebt, wie er ihn aus Neidgefühlen verachtet. Der jüngere Sohn: perspektivlos dahinlebend, wird bei ihm Tuberkulose diagnostiziert, Ausgang ungewiss. Typische konstruierte Situation eines Dramatikers? Weit gefehlt. O’Neills (1888-1953) langes Theaterstück von 1940 ist eine genaue Abbildung seiner eigenen Familie – er ist der jüngere Sohn – die er mit dem symbolhaften Titel auf die Bühne brachte;  mit Sperrvermerkt für die ersten 25 Jahre nach seinem Tod. Für LiebhaberInnen von Familienselbstzerfleischungen.
 

Marguerite Duras: Aurelia Steiner.

Noch eine Drehbuchadaption aus der Feder einer französischen Ikone, doch in ganz anderer Form. Marguerite Duras (1914-1996) erzählt das Schicksal der beiden Frauen namens Aurelia Steiner – Mutter und Tochter – in drei kurzen Berichten aus poetischen Versatzstücken. Zwei der avantgardistischen Stücke wurden verfilmt, was vermutlich so nur im Frankreich jener Jahre möglich war. Aurelia Steiner bringt im KZ mit 18 Jahren eine Tochter zur Welt: die andere Aurelia Steiner. Die kann ihr Schicksal und das ihrer Mutter, die die Geburt nicht überlebt, nur aufarbeiten, indem sie zu schreiben beginnt. Bewegende, aber nur schwer zugängliche Umsetzung eines kaum zu begreifenden Schicksals. 

André Georgi: Tribunal.

Thriller aus dem Hause Suhrkamp. Jasna Brandic ist Ermittlerin für das Den Haager Kriegsverbrechertribunal, das sich gerade um die Aufarbeitung des Bosnienkrieges bemüht. Leider kommt ihr der der mühsam aufgefundene Kronzeuge bei einem Attentat kurz vor seiner Aussage abhanden. Jasna selbst überlebt und bekommt eine zweite Chance, den berüchtigten Anführer der „Wölfe“ dank eines weiteren aussagewilligen Mitkämpfers doch noch zu überführen. Ihre Suche vor Ort in Serbien offenbart einiges mehr als ihr lieb sein kann. Mittelspannendes Genrewerk Georgis (geb. 1965) mit sanftem politischen Anspruch, teilweise überbrutal. 

Anna Katharina Hahn: Das Kleid meiner Mutter.

Vor gut zehn Jahren noch ein Geheimtipp, ist Anna Katharina Hahn (geb. 1970) inzwischen eine etablierte und zurecht hochangesehene Autorin. Was wie eine Zeitdiagnose beginnt, die das Leben der von Arbeitslosigkeit betroffenen spanischen Jugend – insbesondere der akademischen – nach der Finanzkrise schildert, wird zu einem verschachtelten Roman über die Geheimnisse der eigenen Eltern – die gleichzeitig sterben und sich in schrumpfende Puppen verwandeln –, einen mysteriösen deutschen Schriftsteller, Verwandlungen und das Verschwinden der Grenzen zwischen Realität und (Wunsch)Phantasie. Klingt kompliziert, ist aber sehr gut lesbar und nimmt mit jeder Seite an Fahrt auf. 

Franz Innerhofer: der Emporkömmling.

Innerhofer (1944-2002) schockte den Literaturbetrieb einst mit seinem heute legendären Anti-Heimatroman „Schöne Tage“ (1974), in dem er mit hartem Realismus und gewaltiger Sprachkraft das Leben eines geschundenen unehelichen Kindes als missbrauchter Knecht schilderte – ein Buch, das noch immer Pflichtlektüre sein sollte für alle Landliebe-Abonnenten und Dirndl-Fetischisten. Mit „Schattseite“ und „Die großen Wörter“ setzte Innerhofer seinen autobiographischen Emanzipationsbericht fort. Teil 4, „Der Emporkömmling“, schwankt dabei zwischen Scheitern und Erfolg. Der Protagonist hat die Uni vorzeitig verlassen, um wieder mit der Hand zu arbeiten, muss jedoch feststellen, dass er damit weder zu den einen – den Arbeitern – noch zu den anderen – den Akademikern – gehört. Am Ende warten auf ihn die Entlassung aus dem Betrieb und erste Ehrungen für seine Literaturversuche. Ausgang offen. 

Kathryn and Ross Petras (ed.): Very Bad Poetry.

Nein, es geht nicht um die Zeitungsannoncenverseschmiede à la „Kaum zu glauben, aber wahr: Heini wird heut 75 Jahr‘“. Die Anthologie „Very Bad Poetry“ sammelt VertreterInnen der Dichtkunst, die wesentlich ambitionierter und teils sogar erstaunlich erfolgreich waren. Falsche Metaphern, hilfloser Satzbau, nichtreimende Reime, dahinholperndes Versmaß, lächerliche Inhalte, Pathos, Schwulst und all die anderen Stolpersteine zurecht verkannter Genies reihen sich zur Verzweiflung selbst der gnädigsten Musen hier auf. Der Band versammelt Beispiele aus dem englischsprachigen Raum, doch die berühmteste Dichterin kruder Poesie deutscher Zunge, der „schlesische Schwan“ Friederike Kempter, stünde ihren KollegInnen in nichts nach. Zwei Gedichte aus dem Buch sind hier zu finden. 

Bruce Chatwin/Paul Theroux: Wiedersehen mit Patagonien.

Der englische (Chatwin, 1940-1989) und der us-amerikanische Reiseschriftsteller (Theroux, geb. 1941) berichten in einem Zwiegespräch über ihre persönlichen und familiären Erfahrungen, über historische Entdeckungsfahrten und zahlreiche Legenden der geheimnisvollen Landschaft an der Südspitze des amerikanischen Kontinents, einer Gegend, die vor allem durch ihre Leere bestach und dadurch immer wieder Abenteurer und zwielichtige Gestalten anlockte, aber auch von Armut und dem Aussterben der Ureinwohner geprägt ist. Viel zu kurzes Buch der beiden begnadeten Erzähler. 

Djuna Barnes: Saturnalien.

Erzählungen der etwas älteren Zeitgenossin von Anais Nin, die dieser nicht unbedingt auf literarischem Gebiet, aber in der Lebensführung an Exzentrität noch um einiges überlegen war. Barnes (1892-1982) Kurzgeschichten spiegeln ihre Weltgewandtheit wider, sowohl was die Geographie als auch die Einfühlung in verschiedene Stände an geht; ihr Spektrum reicht von alteuropäischen Adligen bis zu unterdrückten schwarzen Dienstboten im us-amerikanischen Süden. Dem zugrunde liegt zudem ein oft subtiler Feminismus, der sich auch in ihrer Biographie wiederfindet. 

Manès Sperber: Sein letztes Jahr.

Das kleine Bändchen versammelt Texte aus dem letzten Lebensjahr des österreichischen Schriftstellers (1905-1984), der in Frankreich lebte, aber auf Deutsch publizierte und dessen Biographie gewisse Parallelen mit Arthur Koestler aufweist. Enthält einen Bericht seiner Frau Jenka Sperber, Siegfried Lenz‘ Laudatio zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1983 und Sperbers Dankesrede, die damals für ziemliche Kontroversen sorgte sowie ein Interview mit dem gelernten Psychologen Manès Sperber, einem – abtrünnigen – Schüler Alfred Adlers. Hommage an eine große Persönlichkeit, an die zu erinnern sich lohnt.