Ein
kleiner Rückblick über die Lektüren des Monats Oktober, der Übersichtlichkeit
halber beschränkt auf die fiktionale Literatur.
Anais
Nin: Ein Spion im Haus der Liebe.
Die
einstige Grande Dame der amerikanischen Literatur (1903-1977), die in Europa
und den USA zuhause war, ist vor allem bekannt für ihre Tagebücher und den
erotischen Klassiker „Das Delta der Venus“. Der kurze Roman entstammt ihren
literarischen Anfängen und ist doch sehr charakteristisch: eine Frau nimmt sich
das Recht auf Liebhaber, ohne ihrem Ehemann untreu sein zu wollen. Damals
skandalös, hat das Buch mit dem ebenso symptomatischen wie genialen Titel, der
den Beobachterstatus mit der Vorgaukelei verbindet, eigentlich nichts von
seiner inhaltlichen Brisanz verloren: einerseits ist die Protagonistin
emanzipiert selbstbewusst, andererseits voll verzweifelter Unsicherheit.
Trotzdem wohl eher etwas für einen Leserkreis, der mit diesem Dilemma zu
kämpfen hat.
Marie
NDiaye: Selbstportrait in Grün.
Die
preisgekrönte französische Schriftstellerin (geb. 1967) berichtet in ihrem
Roman von 2005 aus der Sicht einer jungen Mutter in der französischen Provinz
von deren zunehmenden Begegnungen mit Frauen in Grün. Diese sind keineswegs
irgendwelche Unbekannte, sondern Freundinnen, Bekannte, die Mutter und
Schwestern, deren Farbenwechsel zugleich eine abrupte Wesensveränderung
anzeigt, die zumeist einen dauerhaften Abschied vorwegnimmt. Das Problem: nur
die Protagonistin nimmt dieses Changieren ins Grüne wahr, das Kleidung und
Augenfarbe betrifft. Nicht zu vergessen: das Buch heißt Selbstportrait in Grün – unterliegt die Erzählerin folglich dem
gleichen Phänomen? Ihr Bericht mit dem ironischen Unterton versucht eine
Distanz zu dem unheimlichen Geschehen zu schaffen, nicht zu Unrecht fürchtet
sie nämlich, dem Wahnsinn zu verfallen. Doch vielleicht ist dies längst schon
geschehen. Sehr raffinierter Roman, der die Wahrnehmungen der Erzählerin und
der Leserinnen und Leser in Frage stellt.
Arthur Koestler: Als Zeuge der Zeit.
Ein echtes Selbstportrait eines der international bekanntesten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, der einen der politisch einflussreichsten Romane dieses Jahrhunderts verfasst hat: „Sonnenfinsternis“, seine Abrechnung mit dem Stalinismus, die den Mythos des Kommunismus literarisch entzaubert hat wie später nur noch Solschenizyns „Archipel Gulag“. Dass Koestler (1905-1983) ein berichtenswertes Leben geführt hat, steht ebensowenig außer Frage wie sein journalistisch ausgebildetes Talent, die seine Autobiographie zum großen Lesevergnügen macht. Freundlicherweise schickt er als Vorwort gleich seine Skepsis gegenüber diesem Genre voraus, an die man sich unbedingt auch bei ihm halten sollte: nicht nur war er ein großer Stilist, sondern ein nicht geringerer Selbststilist. Wirkt er in vielem zwar kritisch sich selbst gegenüber, muss man gleichwohl wissen, dass Koestler in vielem ein fragwürdiger Zeitgenosse war, dem das Manipulieren seiner Mitmenschen selbst nicht allzu schwer fiel. Folgerichtig zitiert der Klappentext ein vermeintliches Bonmot Albert Einsteins: „Der liebe Gott weiß alles, Arthur Koestler weiß alles besser.“ Was nichts ändert an seinem oft mutigen Verhalten, seinem aufregenden Dasein in vielen Welten, Ideologien und Zeiten, wobei er weit mehr war als nur Zeuge, sondern oft inmitten des Geschehens. Ein Buch, das mehr verrät über das vergangene Jahrhundert als manch Geschichtsbuch.
Bernhard
Lassahn: Prima! Prima! Ein Beo im Eissalon.
Angelika
und Hubert werden zu Anna Gina und Umberto und eröffnen in der schwäbischen
Provinz eine kleine italienische Eisdiele. Doch leider hält sich der Erfolg in
Grenzen, bis Anna Gina auf die Idee kommt, zur Belebung des Geschäftes einen
sprechenden Beo anzuschaffen. Das hat, wie nicht anders zu erwarten,
unvorhersehbare Folgen – oder wie der Beo sagen würde: Probleme! Probleme!
Lassahns (geb. 1951) kurzer Jugendroman erschien in der legendären
Rotfuchs-Reihe und wurde von der noch legendäreren Amelie Glienke illustriert,
bestens bekannt durch ihre Zeichnungen des Kleinen Vampirs. Amüsant auch für
Erwachsene, auch wenn man’s wohl nur einmal liest.
Anatol Feid: Keine Angst, Maria! Eine wahre Geschichte aus Santiago de Chile.
Und
noch ein Buch aus der Rotfuchs-Reihe. Die Erzählung repräsentiert den
aufklärerischen Anspruch der Reihe und berichtet von einem Vorfall aus der
chilenischen Diktatur der Achtziger Jahre. Der Autor, Anatol Feid (geb. 1942),
katholischer Priester mit befreiungstheologischem Hintergrund, berichtet vom
Alltag in den Elendsvierteln ohne schwarz-weißen Betroffenheitskitsch. Am
Beispiel des erschossenen Bruders der zehnjährigen Maria, eines
Kleinkriminellen aus Not, zeigt Feid, dass Armut nicht nur unsolidarisch und
korrumpierbar macht, sondern gerade dies von der Diktatur zur Erhaltung ihrer
Macht perfide ausgenutzt wird. Eine Methode, die an ihre Grenze gerät, sobald
die Slumbewohner zusammenhalten – wofür manche von ihnen allerdings mit dem
einzigen bezahlen, was sie noch besitzen: ihrem Leben.
Louis
Malle: Au revoir, les enfants.
Frankreich
war Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, passend dazu die Lektüre
im Original des französischen Regie-Altmeisters Louis Malle (1932-1995). Das
zur Erzählung aufbereitete Drehbuch des Films von 1987 berichtet eine
autobiographische Episode aus der Kindheit Malles: im Klosterinternat zur Zeit
Vichy-Frankreichs kommen drei neue Schüler an, der Protagonist freundet sich
nach einigem Abtasten mit dem verschlossenen Ankömmling Bonnet an. Er wittert
ein Geheimnis hinter dem introvertierten Jungen, nicht zu Unrecht, wie sich am
Ende herausstellt. Bonnet und die beiden anderen Kinder sind Juden, die von den
in der Resistance engagierten Patres versteckt gehalten werden. Durch einen
Verrat jedoch kommt es zu einem tragischen Tod der Kinder und des
Klostervorstehers. Auf seine stille zurückhaltende Art nichts weniger als ein
Meisterwerk.
Eugene O’Neill: Long Day’s Journey into Night.
Die
Mutter: eine verkappte Nonne, die nach dem Tod ihres zweiten Kindes aus Schuldgefühlen
einen verspäteten dritten Sohn gebiert und durch einen ärztlichen Kunstfehler
morphiumsüchtig wird. Der Vater: ein Schauspieler, der statt mit den geliebten
Shakespearestücken durch rührselige Dramen zu Geld kommt, das ihn wiederum zu
krankhaftem Geiz verleitet. Der ältere Sohn: ein erfolgloser Schauspieler und
Säufer, der seinen jüngeren Bruder ebenso liebt, wie er ihn aus Neidgefühlen
verachtet. Der jüngere Sohn: perspektivlos dahinlebend, wird bei ihm
Tuberkulose diagnostiziert, Ausgang ungewiss. Typische konstruierte Situation
eines Dramatikers? Weit gefehlt. O’Neills (1888-1953) langes Theaterstück von
1940 ist eine genaue Abbildung seiner eigenen Familie – er ist der jüngere Sohn
– die er mit dem symbolhaften Titel auf die Bühne brachte; mit Sperrvermerkt für die ersten 25 Jahre nach
seinem Tod. Für LiebhaberInnen von Familienselbstzerfleischungen.
Marguerite
Duras: Aurelia Steiner.
Noch
eine Drehbuchadaption aus der Feder einer französischen Ikone, doch in ganz
anderer Form. Marguerite Duras (1914-1996) erzählt das Schicksal der beiden
Frauen namens Aurelia Steiner – Mutter und Tochter – in drei kurzen Berichten
aus poetischen Versatzstücken. Zwei der avantgardistischen Stücke wurden
verfilmt, was vermutlich so nur im Frankreich jener Jahre möglich war. Aurelia
Steiner bringt im KZ mit 18 Jahren eine Tochter zur Welt: die andere Aurelia
Steiner. Die kann ihr Schicksal und das ihrer Mutter, die die Geburt nicht
überlebt, nur aufarbeiten, indem sie zu schreiben beginnt. Bewegende, aber nur
schwer zugängliche Umsetzung eines kaum zu begreifenden Schicksals.
André
Georgi: Tribunal.
Thriller
aus dem Hause Suhrkamp. Jasna Brandic ist Ermittlerin für das Den Haager
Kriegsverbrechertribunal, das sich gerade um die Aufarbeitung des
Bosnienkrieges bemüht. Leider kommt ihr der der mühsam aufgefundene Kronzeuge
bei einem Attentat kurz vor seiner Aussage abhanden. Jasna selbst überlebt und bekommt
eine zweite Chance, den berüchtigten Anführer der „Wölfe“ dank eines weiteren
aussagewilligen Mitkämpfers doch noch zu überführen. Ihre Suche vor Ort in
Serbien offenbart einiges mehr als ihr lieb sein kann. Mittelspannendes
Genrewerk Georgis (geb. 1965) mit sanftem politischen Anspruch, teilweise
überbrutal.
Anna
Katharina Hahn: Das Kleid meiner Mutter.
Vor
gut zehn Jahren noch ein Geheimtipp, ist Anna Katharina Hahn (geb. 1970)
inzwischen eine etablierte und zurecht hochangesehene Autorin. Was wie eine
Zeitdiagnose beginnt, die das Leben der von Arbeitslosigkeit betroffenen
spanischen Jugend – insbesondere der akademischen – nach der Finanzkrise
schildert, wird zu einem verschachtelten Roman über die Geheimnisse der eigenen
Eltern – die gleichzeitig sterben und sich in schrumpfende Puppen verwandeln –,
einen mysteriösen deutschen Schriftsteller, Verwandlungen und das Verschwinden
der Grenzen zwischen Realität und (Wunsch)Phantasie. Klingt kompliziert, ist
aber sehr gut lesbar und nimmt mit jeder Seite an Fahrt auf.
Franz
Innerhofer: der Emporkömmling.
Innerhofer
(1944-2002) schockte den Literaturbetrieb einst mit seinem heute legendären
Anti-Heimatroman „Schöne Tage“ (1974), in dem er mit hartem Realismus und
gewaltiger Sprachkraft das Leben eines geschundenen unehelichen Kindes als
missbrauchter Knecht schilderte – ein Buch, das noch immer Pflichtlektüre sein
sollte für alle Landliebe-Abonnenten und Dirndl-Fetischisten. Mit „Schattseite“
und „Die großen Wörter“ setzte Innerhofer seinen autobiographischen
Emanzipationsbericht fort. Teil 4, „Der Emporkömmling“, schwankt dabei zwischen
Scheitern und Erfolg. Der Protagonist hat die Uni vorzeitig verlassen, um
wieder mit der Hand zu arbeiten, muss jedoch feststellen, dass er damit weder
zu den einen – den Arbeitern – noch zu den anderen – den Akademikern – gehört.
Am Ende warten auf ihn die Entlassung aus dem Betrieb und erste Ehrungen für
seine Literaturversuche. Ausgang offen.
Kathryn
and Ross Petras (ed.): Very Bad Poetry.
Nein,
es geht nicht um die Zeitungsannoncenverseschmiede à la „Kaum zu glauben, aber
wahr: Heini wird heut 75 Jahr‘“. Die Anthologie „Very Bad Poetry“ sammelt
VertreterInnen der Dichtkunst, die wesentlich ambitionierter und teils sogar
erstaunlich erfolgreich waren. Falsche Metaphern, hilfloser Satzbau,
nichtreimende Reime, dahinholperndes Versmaß, lächerliche Inhalte, Pathos,
Schwulst und all die anderen Stolpersteine zurecht verkannter Genies reihen
sich zur Verzweiflung selbst der gnädigsten Musen hier auf. Der Band versammelt
Beispiele aus dem englischsprachigen Raum, doch die berühmteste Dichterin
kruder Poesie deutscher Zunge, der „schlesische Schwan“ Friederike Kempter, stünde
ihren KollegInnen in nichts nach. Zwei Gedichte aus dem Buch sind hier zu finden.
Bruce
Chatwin/Paul Theroux: Wiedersehen mit Patagonien.
Der
englische (Chatwin, 1940-1989) und der us-amerikanische Reiseschriftsteller (Theroux,
geb. 1941) berichten in einem Zwiegespräch über ihre persönlichen und
familiären Erfahrungen, über historische Entdeckungsfahrten und zahlreiche
Legenden der geheimnisvollen Landschaft an der Südspitze des amerikanischen
Kontinents, einer Gegend, die vor allem durch ihre Leere bestach und dadurch
immer wieder Abenteurer und zwielichtige Gestalten anlockte, aber auch von
Armut und dem Aussterben der Ureinwohner geprägt ist. Viel zu kurzes Buch der
beiden begnadeten Erzähler.
Djuna
Barnes: Saturnalien.
Erzählungen
der etwas älteren Zeitgenossin von Anais Nin, die dieser nicht unbedingt auf
literarischem Gebiet, aber in der Lebensführung an Exzentrität noch um einiges
überlegen war. Barnes (1892-1982) Kurzgeschichten spiegeln ihre Weltgewandtheit
wider, sowohl was die Geographie als auch die Einfühlung in verschiedene Stände
an geht; ihr Spektrum reicht von alteuropäischen Adligen bis zu unterdrückten schwarzen
Dienstboten im us-amerikanischen Süden. Dem zugrunde liegt zudem ein oft
subtiler Feminismus, der sich auch in ihrer Biographie wiederfindet.
Manès
Sperber: Sein letztes Jahr.
Das
kleine Bändchen versammelt Texte aus dem letzten Lebensjahr des österreichischen
Schriftstellers (1905-1984), der in Frankreich lebte, aber auf Deutsch
publizierte und dessen Biographie gewisse Parallelen mit Arthur Koestler
aufweist. Enthält einen Bericht seiner Frau Jenka Sperber, Siegfried Lenz‘
Laudatio zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1983 und
Sperbers Dankesrede, die damals für ziemliche Kontroversen sorgte sowie ein
Interview mit dem gelernten Psychologen Manès Sperber, einem – abtrünnigen –
Schüler Alfred Adlers. Hommage an eine große Persönlichkeit, an die zu erinnern
sich lohnt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen