Otto Neurath lediglich einen
Philosophen zu nennen, wäre eine ungebührliche Schmälerung des Lebenswerkes
dieses stets aktiven und vielseitigen Mannes. Als Sohn eines Ökonomen 1882 in
Wien geboren, studierte Neurath in Wien und Berlin Nationalökonomie,
Philosophie sowie Geschichte, promovierte 1906 und habilitierte sich elf Jahre
später in Heidelberg. Dazwischen lehrte an der Wiener Handelakademie und machte
Reisen durch die Donaumonarchie, um soziologische Studien zu betreiben.
Das gescheiterte Experiment der Münchner Räterepublik
Nach dem Ersten Weltkrieg
arbeitete er in München als Leiter des Zentralwirtschaftsamtes, erst unter der
republikanischen, dann auch unter der nur kurzlebigen Räteregierung. „Neurath
verstand seine Mitarbeit in der Räterepublik nicht nur als Beamtenpflicht,
sondern auch als Möglichkeit, seine Ideen unmittelbar in die Wirklichkeit
umzusetzen“ – so Rudolf Haller, Herausgeber von Neuraths Gesamtwerk. Trotzdem hielt sich sein politisches Engagement,
obwohl bekennender Sozialist, in Grenzen, was ihn nicht davor bewahrte, nach der
Niederschlagung des Räte-Experimentes für einige Zeit inhaftiert und
anschließend aus Bayern ausgewiesen zu werden.
Neuraths Projekte in Wien und seine Flucht vor dem Faschismus
Zurück in Wien arbeitete er für
die Siedlerbewegung des avantgardistischen Architekten Adolf Loos, bevor er
1925 das Museum für Gesellschaft und Wirtschaft eröffnet, welches er bis 1934
leitet. Hier beginnt er auch mit der Entwicklung seiner „Wiener Bildstatistik“
(dazu unten mehr). Neurath, führendes Mitglied des Wiener Kreises, wanderte
bereits 1934 nach den Niederlanden aus, 1940 floh er vor den deutschen
Invasoren weiter nach England, wo er kurz vor Weihnachten 1945 in Oxford
unerwartet verstarb.
Otto Neurath und die Idee der Einheitswissenschaft
Innerhalb der Gruppe des Wiener
Kreises um Moritz Schlick und Rudolf Carnap galt Neurath als der stärkste
Befürworter der Bildung einer sogenannten Einheit der Wissenschaft, letztlich
sogar einer „Einheitswissenschaft“. Diese sollte insofern flexibel sein, als
dass sie es erlaubte, auch grundlegende Basissätze zu revidieren, wobei die
Wahrheit eines solchen Satzes davon abhängig sein sollte, nicht ob er mit einer
Realität, sondern ob er mit einem Wissenschaftsgebäude (also zum Beispiel
bestimmten Axiomen) in Einklang stehe. „Aber Neurath bemerkte auch das
operative Grundprinzip dieses Verhältnisses, daß es nämlich immer zwei
Möglichkeiten gibt, einen solchen Einklang herzustellen, nämlich entweder durch
die Änderung des entsprechenden Satzes, oder
durch die Änderung des Systems, d.h. des Wissenschaftsgebäudes selbst“
(Haller). Äußerer Ausdruck seines Bestrebens nach der Vereinigung der
Wissenschaften war die Herausgabe der International
Encyclopedia of Unified Sciences (1940), die nach seinem Tod von Philipp
Frank in Oxford weitergeführt wurde. Sie vertritt den aufklärerischen
Empirismus des Wiener Kreises, der jegliche ‚Verschleierung’ durch die
Metaphysik bekämpft.
Otto Neuraths Vermächtnis: die Piktographie
In diese Tradition gehört auch
Neuraths bekannteste und nachhaltigste Schöpfung: die Piktographie. Er wollte
dieses System von Bildzeichen, welche
die Wortzeichen ersetzen, als eine
neue Form der universalen Hilfssprache verstanden wissen, eine bereits seit dem
Barock vorhandene Idee, die er mit seinem sozialen Auftrag verband: „Kinder und
Arbeiter sollten über die gleiche Information verfügen können wie Angehörige
gebildeter Schichten“ (Peter Kampits). Hierfür untersuchte er die psychischen und
sprachlichen Grundlagen der Datenübermittlung, um „ein Regelsystem zu
entwerfen, das Informationsdichte mit Verständnis, Lesbarkeit mit
Überschaubarkeit, Inhalt und Form in Übereinstimmung bringt“ (Haller), dabei
durchaus im Bewußtsein behaltend, dass eine endgültige Prototypisierung von Gegenständen
wohl nicht möglich sein werde. Trotzdem sind die Früchte dieser Arbeit heute
überall in der Öffentlichkeit anzutreffen, von der erläuternden Graphik in
Zeitschriften über Notausgangshinweise bis hin zu den berühmten WC-Figuren auf
Toilettentüren.