Donnerstag, 31. Mai 2018

Otto Neurath - der innovative Philosoph.

 

Otto Neurath lediglich einen Philosophen zu nennen, wäre eine ungebührliche Schmälerung des Lebenswerkes dieses stets aktiven und vielseitigen Mannes. Als Sohn eines Ökonomen 1882 in Wien geboren, studierte Neurath in Wien und Berlin Nationalökonomie, Philosophie sowie Geschichte, promovierte 1906 und habilitierte sich elf Jahre später in Heidelberg. Dazwischen lehrte an der Wiener Handelakademie und machte Reisen durch die Donaumonarchie, um soziologische Studien zu betreiben.
 
Das gescheiterte Experiment der Münchner Räterepublik
 
Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete er in München als Leiter des Zentralwirtschaftsamtes, erst unter der republikanischen, dann auch unter der nur kurzlebigen Räteregierung. „Neurath verstand seine Mitarbeit in der Räterepublik nicht nur als Beamtenpflicht, sondern auch als Möglichkeit, seine Ideen unmittelbar in die Wirklichkeit umzusetzen“ – so Rudolf Haller, Herausgeber von Neuraths Gesamtwerk. Trotzdem hielt sich sein politisches Engagement, obwohl bekennender Sozialist, in Grenzen, was ihn nicht davor bewahrte, nach der Niederschlagung des Räte-Experimentes für einige Zeit inhaftiert und anschließend aus Bayern ausgewiesen zu werden.
 
Neuraths Projekte in Wien und seine Flucht vor dem Faschismus
 
Zurück in Wien arbeitete er für die Siedlerbewegung des avantgardistischen Architekten Adolf Loos, bevor er 1925 das Museum für Gesellschaft und Wirtschaft eröffnet, welches er bis 1934 leitet. Hier beginnt er auch mit der Entwicklung seiner „Wiener Bildstatistik“ (dazu unten mehr). Neurath, führendes Mitglied des Wiener Kreises, wanderte bereits 1934 nach den Niederlanden aus, 1940 floh er vor den deutschen Invasoren weiter nach England, wo er kurz vor Weihnachten 1945 in Oxford unerwartet verstarb.   
 
Otto Neurath und die Idee der Einheitswissenschaft
 
Innerhalb der Gruppe des Wiener Kreises um Moritz Schlick und Rudolf Carnap galt Neurath als der stärkste Befürworter der Bildung einer sogenannten Einheit der Wissenschaft, letztlich sogar einer „Einheitswissenschaft“. Diese sollte insofern flexibel sein, als dass sie es erlaubte, auch grundlegende Basissätze zu revidieren, wobei die Wahrheit eines solchen Satzes davon abhängig sein sollte, nicht ob er mit einer Realität, sondern ob er mit einem Wissenschaftsgebäude (also zum Beispiel bestimmten Axiomen) in Einklang stehe. „Aber Neurath bemerkte auch das operative Grundprinzip dieses Verhältnisses, daß es nämlich immer zwei Möglichkeiten gibt, einen solchen Einklang herzustellen, nämlich entweder durch die Änderung des entsprechenden Satzes, oder durch die Änderung des Systems, d.h. des Wissenschaftsgebäudes selbst“ (Haller). Äußerer Ausdruck seines Bestrebens nach der Vereinigung der Wissenschaften war die Herausgabe der International Encyclopedia of Unified Sciences (1940), die nach seinem Tod von Philipp Frank in Oxford weitergeführt wurde. Sie vertritt den aufklärerischen Empirismus des Wiener Kreises, der jegliche ‚Verschleierung’ durch die Metaphysik bekämpft.   
 
Otto Neuraths Vermächtnis: die Piktographie
 
In diese Tradition gehört auch Neuraths bekannteste und nachhaltigste Schöpfung: die Piktographie. Er wollte dieses System von Bildzeichen, welche die Wortzeichen ersetzen, als eine neue Form der universalen Hilfssprache verstanden wissen, eine bereits seit dem Barock vorhandene Idee, die er mit seinem sozialen Auftrag verband: „Kinder und Arbeiter sollten über die gleiche Information verfügen können wie Angehörige gebildeter Schichten“ (Peter Kampits). Hierfür untersuchte er die psychischen und sprachlichen Grundlagen der Datenübermittlung, um „ein Regelsystem zu entwerfen, das Informationsdichte mit Verständnis, Lesbarkeit mit Überschaubarkeit, Inhalt und Form in Übereinstimmung bringt“ (Haller), dabei durchaus im Bewußtsein behaltend, dass eine endgültige Prototypisierung von Gegenständen wohl nicht möglich sein werde. Trotzdem sind die Früchte dieser Arbeit heute überall in der Öffentlichkeit anzutreffen, von der erläuternden Graphik in Zeitschriften über Notausgangshinweise bis hin zu den berühmten WC-Figuren auf Toilettentüren.   
 
       

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