Antoni
Libera: Madame.
„Madame“,
das späte Romandebüt des polnischen Autors Antoni Libera (geboren 1949) wurde
vom internationalen Feuilleton mit teils enthusiastischem Lob überschüttet.
Nun, wohl kaum, weil der Roman tatsächlich so brillant wäre, sondern viel eher,
weil er einen bestimmten Typus von Kritikern ansprechen dürfte. „Bildungsprall“
wird die Geschichte eines Abiturienten genannt, der sich in seine junge
geheimnisvoll-distanzierte Französischlehrerin verguggt und deren Vergangenheit
ausforscht, bildungsprahlerisch wäre das treffendere Wort gewesen. Die völlig
unglaubwürdige des Achtzehnjährigen Tausendsassas, einem Geistesvirtuosen, dem
alles gelingt, vom Jazzkonzert mit der Schülerband bis zum improvisierten
Alexandrinerdialog mit Schauspielgrößen, ist das, was man früher einen Stutzer
nannte: ein mit seinem Wissen und Bildung jederzeit eitel daherstolzierenden
Klugscheißer. Eine klassische Figur der Satire, nur glaubt Libera
offensichtlich, so jemand sei keine Karikatur, sondern total sympathisch. Ist
er nicht. Da der Text in Form und Sprache seine Hauptfigur zu imitieren sucht,
wirkt er in vielem gestelzt, die wenigen interessanten Passagen – etwa zum
Spanischen Bürgerkrieg – verschwinden hinter dem ständigen hochtrabenden Duktus
des Virtuosen. Kommt hinzu, dass er selbst alles andere als virtuos ist, weder
in Komposition und schon gar nicht in der Sprache. Drei kurze Beispiele, die –
da extrem häufig – kaum nur auf die Übersetzung zurückzuführen sein dürften: „Ich
hielt ein gefaltetes Blatt der ‚L’Humanité‘ vor mich und beobachtete sie
weiterhin über dieses Presseorgan hinweg.“ Da tun einem manch‘ andere Organe
weh. „Doch bald wurde mir schlecht, und durch die Kanalisation führte ich das
Getränk wieder der Natur zu.“ Klingt im ersten Lesen recht amüsant formuliert,
aber leider wächst Cognac nicht auf Bäumen, ist folglich kaum ein Produkt der
Natur. „‘Aber was ist die Wahrheit?‘ stellte ich die Frage des Pilatus.“ Nein,
tust Du nicht. Die Frage des Pilates war: Was ist Wahrheit? Mit Artikel ist das
ein juristisches Problem, ohne ein wesentlich tiefgründigeres philosophisches,
beides trennt Abgründe. Wenn man schon mit Bildung angeben möchte, wie etwa
auch in den völlig willkürlichen ständigen französischen Einsprengseln, dann
wenigstens richtig. Obwohl…viel erträglicher wird’s darum auch nicht.
Alexander
Bek: Die Ernennung.
Die
titelgebende Ernennung ist eine Degradierung. 1956. Nach dem berühmten XX.
Parteitag der KPdSU wird der Minister für Stahlerzeugung zum Botschafter der
Sowjetunion ernannt, weggelobt, sozusagen. Eine ehrenhafte Aufgabe, aber doch
eine ersichtliche Herabstufung. Warum? Minister Onissimow ist ein Technokrat,
der in seiner Aufgabe aufgeht, er hat nicht unbedingt ideologisch-politischen
Ehrgeiz, ist aber ein treuer Anhänger des Kommunismus. Gleichwohl gehört er
nicht zu den rückgratlosen Jasagern im Umfeld Stalins – sofern es seinen
eigenen Kompetenzen betrifft, wagt Onissimow durchaus Widerspruch trotz der
Gefahren. Stalin weiß das durchaus zu schätzen, und so übersteht Onissimow
sämtliche Säuberungen und die Angriffe Berijas, des brutalen Geheimdienstchefs,
den er einst als dessen Vorgesetzter beleidigt hatte. Dies führt aber letztlich
dazu, dass der Minister nicht unschuldig bleiben kann, Stalins Wort ist auch
ihm Gesetz, selbst angesichts der Verfolgungen bis in die eigene Familie,
selbst wenn Freunde dadurch in die Maschinerie des Gulags geraten und selbst,
wenn er die technischen Vorgaben Stalins als falsch erkennt. Onissimow ist eine
ungemein spannende Figur, obwohl er keineswegs sympathisch ist, er ist hart,
teils ungerecht, versagt als Vater, letztlich eben doch unterwürfig, aber eben
auch kompetent, eigensinnig, zu Freundschaften fähig und mehr als ein
Duckmäuser, eine ambivalente Figur wie sie im totalitären Stalinismus typisch
sein dürfte. Es verwundert nicht, dass Beks (1903-1972) Roman, der einen
nüchternen Augenzeugenbericht aus dem Inneren der Sowjetunion liefert, dort nicht
erscheinen durfte, dies war dann erst 1986 möglich. Die Erstausgabe war somit
die bundesdeutsche Übersetzung von 1972, 1988 zog die DDR nach.
Wulf
Kirsten: Die Schlacht bei Kesselsdorf./ Kleewunsch.
Ebenfalls
in den 1980er Jahren in der DDR veröffentlicht wurde die beiden Prosastücke des
ansonsten hauptsächlich als Lyriker erfolgreichen Schriftstellers Wulf Kirsten
(geboren 1934). Der erste Text beschreibt genannte Schlacht des Jahres 1745
zwischen den Preußen und Sachsen, „Ein Bericht“ nennt sich der Untertitel
zurecht, denn Kirsten nimmt keine literarische Stilisierung vor, sondern
schildert den durch Inkompetenz der sächsischen Führung desaströsen Verlauf des
Kampfes nüchtern wie ein Geschichtsbuch. Die damaligen Leser*innen durften sich
also die klassische Frage stellen, was ihnen der Autor mit seiner Schilderung
im Jahr 1984 in der DDR wohl sagen wollte? Dies gilt in gewissem Maße auch für
den zweiten, wesentlich umfangreicheren Text über die kleine sächsische
Ackerbürgerstadt Kleewunsch und ihre Bewohner*innen. Das „Kleinstadtbild“
stellt sich selbst in die Tradition der Satiren über Schilda, Krähwinkel und
andere Spießbürgermetropolen, darin liegt aber leider auch seine Schwäche. Man
hat all das schon mal gelesen, und man hat es schon mal besser gelesen. Als
Parodie ist „Kleewunsch“ etwas zu altbacken, als Satire nicht bösartig genug. Insgesamt
nur leidlich amüsant, tröstet hin und wieder das unbestrittene Sprachvermögen
mit schönen Formulierungen über die zähe Lektüre hinweg.
Heinrich
Böll: Erzählungen, Hörspiele, Aufsätze.
Heinrich
Böll (1917-1985), einst der öffentliche Schriftsteller schlechthin,
Literaturnobelpreisträger mit gesellschaftlichem Gewicht, scheint ein Schicksal
zu drohen, als eine Art Restbestand der Bonner Republik museal zu werden oder
noch schlimmer, in Vergessenheit zu geraten. Wer liest heute noch Böll? Der
Band von 1961 versammelt Texte des Kölners fast ausschließlich aus den 1950er
Jahren, denen zugegeben teils durchaus die zeitspezifische Angestaubtheit
bereits anzumerken ist. Es lohnt sich aber gerade auch jene Geschichten und
Aufsätze zu lesen, die heute eher als zeitdokumentarisch verstanden werden
dürften – eben weil es sich um eine Zeit handelt, die manchen als
rückerstrebenswert, als Epoche geordneter Verhältnisse gilt. Wer Böll liest,
wird kaum dieser irrigen Meinung verfallen. Neben solchen Texten bleibt er
trotzdem in vielem aktuell, die Mentalitäten der Menschen ändern sich
vielleicht in der Form, aber selten im Inhalt. Und hier hat Böll immer noch
viel zu sagen – abgesehen davon, dass man sich einen öffentlichen wagemutigen Intellektuellen,
der über elitäre Kulturkreise hinweg wahrgenommen wird, auch in unseren Tagen
wünschen würde.