Montag, 13. August 2018

Lektüremonat Juli 2018.





Antoni Libera: Madame.

„Madame“, das späte Romandebüt des polnischen Autors Antoni Libera (geboren 1949) wurde vom internationalen Feuilleton mit teils enthusiastischem Lob überschüttet. Nun, wohl kaum, weil der Roman tatsächlich so brillant wäre, sondern viel eher, weil er einen bestimmten Typus von Kritikern ansprechen dürfte. „Bildungsprall“ wird die Geschichte eines Abiturienten genannt, der sich in seine junge geheimnisvoll-distanzierte Französischlehrerin verguggt und deren Vergangenheit ausforscht, bildungsprahlerisch wäre das treffendere Wort gewesen. Die völlig unglaubwürdige des Achtzehnjährigen Tausendsassas, einem Geistesvirtuosen, dem alles gelingt, vom Jazzkonzert mit der Schülerband bis zum improvisierten Alexandrinerdialog mit Schauspielgrößen, ist das, was man früher einen Stutzer nannte: ein mit seinem Wissen und Bildung jederzeit eitel daherstolzierenden Klugscheißer. Eine klassische Figur der Satire, nur glaubt Libera offensichtlich, so jemand sei keine Karikatur, sondern total sympathisch. Ist er nicht. Da der Text in Form und Sprache seine Hauptfigur zu imitieren sucht, wirkt er in vielem gestelzt, die wenigen interessanten Passagen – etwa zum Spanischen Bürgerkrieg – verschwinden hinter dem ständigen hochtrabenden Duktus des Virtuosen. Kommt hinzu, dass er selbst alles andere als virtuos ist, weder in Komposition und schon gar nicht in der Sprache. Drei kurze Beispiele, die – da extrem häufig – kaum nur auf die Übersetzung zurückzuführen sein dürften: „Ich hielt ein gefaltetes Blatt der ‚L’Humanité‘ vor mich und beobachtete sie weiterhin über dieses Presseorgan hinweg.“ Da tun einem manch‘ andere Organe weh. „Doch bald wurde mir schlecht, und durch die Kanalisation führte ich das Getränk wieder der Natur zu.“ Klingt im ersten Lesen recht amüsant formuliert, aber leider wächst Cognac nicht auf Bäumen, ist folglich kaum ein Produkt der Natur. „‘Aber was ist die Wahrheit?‘ stellte ich die Frage des Pilatus.“ Nein, tust Du nicht. Die Frage des Pilates war: Was ist Wahrheit? Mit Artikel ist das ein juristisches Problem, ohne ein wesentlich tiefgründigeres philosophisches, beides trennt Abgründe. Wenn man schon mit Bildung angeben möchte, wie etwa auch in den völlig willkürlichen ständigen französischen Einsprengseln, dann wenigstens richtig. Obwohl…viel erträglicher wird’s darum auch nicht.      


Alexander Bek: Die Ernennung.

Die titelgebende Ernennung ist eine Degradierung. 1956. Nach dem berühmten XX. Parteitag der KPdSU wird der Minister für Stahlerzeugung zum Botschafter der Sowjetunion ernannt, weggelobt, sozusagen. Eine ehrenhafte Aufgabe, aber doch eine ersichtliche Herabstufung. Warum? Minister Onissimow ist ein Technokrat, der in seiner Aufgabe aufgeht, er hat nicht unbedingt ideologisch-politischen Ehrgeiz, ist aber ein treuer Anhänger des Kommunismus. Gleichwohl gehört er nicht zu den rückgratlosen Jasagern im Umfeld Stalins – sofern es seinen eigenen Kompetenzen betrifft, wagt Onissimow durchaus Widerspruch trotz der Gefahren. Stalin weiß das durchaus zu schätzen, und so übersteht Onissimow sämtliche Säuberungen und die Angriffe Berijas, des brutalen Geheimdienstchefs, den er einst als dessen Vorgesetzter beleidigt hatte. Dies führt aber letztlich dazu, dass der Minister nicht unschuldig bleiben kann, Stalins Wort ist auch ihm Gesetz, selbst angesichts der Verfolgungen bis in die eigene Familie, selbst wenn Freunde dadurch in die Maschinerie des Gulags geraten und selbst, wenn er die technischen Vorgaben Stalins als falsch erkennt. Onissimow ist eine ungemein spannende Figur, obwohl er keineswegs sympathisch ist, er ist hart, teils ungerecht, versagt als Vater, letztlich eben doch unterwürfig, aber eben auch kompetent, eigensinnig, zu Freundschaften fähig und mehr als ein Duckmäuser, eine ambivalente Figur wie sie im totalitären Stalinismus typisch sein dürfte. Es verwundert nicht, dass Beks (1903-1972) Roman, der einen nüchternen Augenzeugenbericht aus dem Inneren der Sowjetunion liefert, dort nicht erscheinen durfte, dies war dann erst 1986 möglich. Die Erstausgabe war somit die bundesdeutsche Übersetzung von 1972, 1988 zog die DDR nach.


Wulf Kirsten: Die Schlacht bei Kesselsdorf./ Kleewunsch.

Ebenfalls in den 1980er Jahren in der DDR veröffentlicht wurde die beiden Prosastücke des ansonsten hauptsächlich als Lyriker erfolgreichen Schriftstellers Wulf Kirsten (geboren 1934). Der erste Text beschreibt genannte Schlacht des Jahres 1745 zwischen den Preußen und Sachsen, „Ein Bericht“ nennt sich der Untertitel zurecht, denn Kirsten nimmt keine literarische Stilisierung vor, sondern schildert den durch Inkompetenz der sächsischen Führung desaströsen Verlauf des Kampfes nüchtern wie ein Geschichtsbuch. Die damaligen Leser*innen durften sich also die klassische Frage stellen, was ihnen der Autor mit seiner Schilderung im Jahr 1984 in der DDR wohl sagen wollte? Dies gilt in gewissem Maße auch für den zweiten, wesentlich umfangreicheren Text über die kleine sächsische Ackerbürgerstadt Kleewunsch und ihre Bewohner*innen. Das „Kleinstadtbild“ stellt sich selbst in die Tradition der Satiren über Schilda, Krähwinkel und andere Spießbürgermetropolen, darin liegt aber leider auch seine Schwäche. Man hat all das schon mal gelesen, und man hat es schon mal besser gelesen. Als Parodie ist „Kleewunsch“ etwas zu altbacken, als Satire nicht bösartig genug. Insgesamt nur leidlich amüsant, tröstet hin und wieder das unbestrittene Sprachvermögen mit schönen Formulierungen über die zähe Lektüre hinweg.          


Heinrich Böll: Erzählungen, Hörspiele, Aufsätze.

Heinrich Böll (1917-1985), einst der öffentliche Schriftsteller schlechthin, Literaturnobelpreisträger mit gesellschaftlichem Gewicht, scheint ein Schicksal zu drohen, als eine Art Restbestand der Bonner Republik museal zu werden oder noch schlimmer, in Vergessenheit zu geraten. Wer liest heute noch Böll? Der Band von 1961 versammelt Texte des Kölners fast ausschließlich aus den 1950er Jahren, denen zugegeben teils durchaus die zeitspezifische Angestaubtheit bereits anzumerken ist. Es lohnt sich aber gerade auch jene Geschichten und Aufsätze zu lesen, die heute eher als zeitdokumentarisch verstanden werden dürften – eben weil es sich um eine Zeit handelt, die manchen als rückerstrebenswert, als Epoche geordneter Verhältnisse gilt. Wer Böll liest, wird kaum dieser irrigen Meinung verfallen. Neben solchen Texten bleibt er trotzdem in vielem aktuell, die Mentalitäten der Menschen ändern sich vielleicht in der Form, aber selten im Inhalt. Und hier hat Böll immer noch viel zu sagen – abgesehen davon, dass man sich einen öffentlichen wagemutigen Intellektuellen, der über elitäre Kulturkreise hinweg wahrgenommen wird, auch in unseren Tagen wünschen würde.     

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