Gillian
Flynn: Gone Girl.
„Gone
Girl“ ist ein interessantes Buch. Weniger inhaltlich, sondern aufgrund der
Umstände. Man hat eine anstrengende, stundenlange Bahnfahrt vor sich findet das
Buch gratis in einem Bücherkasten und denkt sich, dafür sei der Schinken doch
genau das Richtige. Schließlich wurde über dieses Buch viel geredet. Sehr viel geredet, immer und überall.
Auf der ganzen Welt. Interessant ist das Buch also vor allem wegen der perfekt
inszenierten Marketing-Strategie, einem international lancierten Hype. Dieser
war enorm erfolgreich, der Thriller weltweit ein Millionenbestseller. Nun
stellt sich also die Frage, ob dies auch gerechtfertigt ist, ob hier ein
außergewöhnliches Buch vorliegt, ein zukünftiger Genre-Klassiker? Die Antwort
ist ziemlich einfach: Nö. „Gone Girl“ ist keineswegs schlecht – von ein paar
Mängeln der offenbar hastigen Übersetzung abgesehen – aber auch keinesfalls
überragend gut. Ein Reißer, der einem die Stunden verkürzt, ist es jedenfalls
nicht. Dafür wechseln weitschweifige Schilderungen einer Ehehölle zweier an und
für sich wenig sympathischen Hauptcharaktere nur hin und wieder mit packenden
Wendungen des Geschehens. Manches ist klug konstruiert – Details, die viel
später plötzlich eine wichtige Rolle bekommen werden –, aber so richtig Rasanz
nimmt der Text nie auf, am, ehesten gilt dies noch für den kürzesten, letzten
Abschnitt. Gillian Flynn (geboren 1971) liefert solide Thrillerkost, aber man
kann eigentlich nicht ernsthaft hoffen, dass dies die derzeitige absolute
Krönung des Genres sei, dann wäre es um den Thriller schlecht bestellt…
Karl
Ove Knausgard: Sterben.

Steve
Sem-Sandberg: Die Elenden von Lodz.

Birgit
Vanderbeke: Geld oder Leben.
Eher
schon eine Lektüre für nebenher ist Birgit Vanderbekes (geboren 1956) kurzer
Roman „Geld oder Leben“. Der Biographie im Schnelldurchlauf, Geschichte eines weiblichen
Erwachsenwerdens von der Wunderwirtschafts-BRD bis in die Achtziger Jahre fehlt
ein wenig der übliche melancholische Unterton der Vanderbeke-Texte, doch ist er
dafür recht amüsant, entlarvt er doch vor allem das durch Phrasen geprägte
Alltagsleben der Arrivierten und der sich für revolutionär haltenden folgenden
Generation, die später nicht minder verbürgerlicht. Das alles geht ratzfatz –
und so liest es sich auch. Nicht unbedingt ihr Meisterwerk, aber doch kluge
Unterhaltung.
Carl
von Ossietzky: Rechenschaft.
Die
ebenso legendäre wie verdienstvolle und schon öfter zurecht lobend erwähnte
Fischer-Reihe „Verboten und verbrannt“ ermöglichte 1984 nach langer Zeit wieder
die Lektüre von „Publizistik aus den Jahren 1913-1933“ – so der Untertitel –
aus der Feder von Carl von Ossietzky (1889-1938), einem der wohl bedeutendsten
deutschsprachigen Journalisten der ersten Jahrhunderthälfte. Seine kritischen
Kommentare zum Ende der Kaiserzeit, zur Weimarer Republik und der beginnenden
Nazidiktatur waren sprachlich brillante Reportagen, die mutig ohne Obrigkeitshörigkeit
Demokratie in Zeiten verteidigte, als diese kaum Fürsprecher hatte.
Investigativer Journalismus war nicht gefragt, schon gar nicht scharf
formulierter Widerspruch, das galt für den Wilhelminismus und den Faschismus
sowieso, aber auch für die zunehmend nach rechts driftende Republik. Schon 1931
wurde Ossietzky als Herausgeber der „Weltbühne“ in einen Prozess wegen
Landesverrates und Spionage verwickelt, der international für Aufsehen sorgte.
Er wurde verurteilt. Kaum vorzeitig entlassen, ließen ihn die Nazis nach der
Machtübernahme erneut festnehmen, von Ossietzkys Schriften landeten auf den
Bücherscheiterhäufen, er selbst wurde ins KZ gebracht. Das
Friedensnobelpreiskomitee fügte den Nazis eine schwere diplomatische Blamage
zu, als es Ossietzky 1936 rückwirkend den Preis für 1935 zuerkannte – den er,
trotz Druck des Regimes, auch annahm; seine Ausreise zur Übernahme wurde im
Anschluss ebenso verboten wie jedwede weitere Verleihung eines Nobelpreises an
Deutsche. Ossietzky wurde schwerkrank entlassen und starb an den Folgen des
KZ-Aufenthaltes zwei Jahre später. Seine Texte sind nicht nur wegen ihrer
literarischen Qualitäten, wie sie heute kaum noch in journalistischen Texten
anzutreffen sind, äußerst lesenswert, sondern auch, weil die Gefahren für
kritische Kommentatoren von Republik eher wieder zu als abnehmen. Nebenbei: auf
von Ossietzky folgte nur noch ein einziger deutscher Friedensnobelpreisträger:
Willy Brandt. Das war 1971. Verdammt lang her.
Walter
Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Fassung letzter Hand.
Noch
ein Opfer der Nationalsozialisten. Walter Benjamin (1892-1940) hatte die hier
vorliegende und erst in den 1980er Jahren wiederentdeckte Fassung seines
populärsten Buches 1938 auf der Flucht in Paris überarbeitet und versteckt.
„Märchenphotographien“ nannte sein Freund Theodor W. Adorno die nur kurzen
Skizzen, die auf den ersten Blick nostalgische Verklärungen einer
gutbürgerlichen, fast sorgenfreien Kindheit auf dem Höhepunkt des
Wilhelminismus in Berlin zu sein scheinen. Auch der Stil scheint zu jenen Tagen
zu passen, impressionistische Eindrücke, keine abstrakten Reflexionen. Doch man
muss sich das Datum der Entstehung in Erinnerung rufen – und natürlich auch den
Autor, der sicher nicht für unkritische Verklärung steht. Was Benjamin
schildert, ist eine verlorene, ahnungslose, bereits im Kern infizierte Welt,
die ihr Ende nicht kommen sieht und ihre Folgen nicht abschätzen kann. Das
Leben und insbesondere die Menschen jener Tage waren 1938 längst dahin – und
zwar oft auf grausame Art und Weise. In all dem Plüschigen und Prunkvollen
steckte quasi schon im Voraus der Muff von tausend Jahren. Dem Berlin um 1933
fiel Walter Benjamin schließlich selbst zum Opfer, 1940 nahm er sich, bereits
an der rettenden Grenze angelangt, in Frankreich das Leben.
Iwan
Bunin: Der Sonnentempel.

Judith
Kerr: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl.
Der
Jugendbuchklassiker von Judith Kerr (geboren 1923) gehört gewissermaßen in die
Reihe von Sem-Sandberg, von Ossietzky und Walter Benjamin. Kerr, Tochter des
Schriftstellers und Theaterkritikers Alfred Kerr, erzählt darin die Erlebnisse
ihres Flüchtlingsdaseins aus der Sicht eines jungen Mädchens – letztlich hat
sie hierfür nur die Namen der Protagonist*innen geändert, der Text ist folglich
auch ein Schlüsselroman, auch wenn er von den Jugendlichen nachvollziehbarer
und im Einverständnis mit der Autorin so nicht gelesen werden wird. Alfred Kerr
war gelungen, was von Ossietzky verwehrt war: scharfer Kritiker der Nazis, war
er war kurz vor deren Machtübernahme in die Schweiz geflohen und hatte noch
rechtzeitig seine Familie – Frau, Sohn und Tochter – aus dem Land geholt, bevor
ihnen die Pässe angenommen werden konnte. Kurz darauf stürmten die Nazis ihr
Berliner Wohnhaus und plünderten es – alles, was zurückgelassen werden müsste,
ging verloren, auch das Plüschtier der Tochter, das rosa Kaninchen. Diese sah
manches gar nicht so tragisch, ihre kindliche Naivität ließ sie die Flucht
gerade anfangs als großes Abenteuer erleben. Solange die Familie noch zusammen
war, erschien ihr vieles aufregend, ungewohnt und nur hin und wieder
befremdlich, sei es in der Schweiz, dann in Paris und zuletzt in
Großbritannien. Gleichwohl werden die Bedrängnisse des Flüchtlingsdaseins nicht
verhehlt, das enge Zusammenleben mit ständigen Geldsorgen, auch die
Nachrichten, die aus Deutschland kommen, dringen beängstigend bis zu den
Kindern vor – so, etwa, dass auf den Vater ein Kopfgeld ausgesetzt wurde. Die
kindliche Sicht der Dinge, die den Reiz des Buches ausmacht, nimmt – gerade in
dem erwähnten Fall des Kopfgeldes – den Schrecken der Zeit nur oberflächlich
ihre Schärfe, darunter ist für jede*n Leser*in das Bedrückende der Situation
spürbar, plötzlich heimatlos und verfolgt zu sein.
John
Updike: Hasenherz.
Es
ist erstaunlich, wie sehr John Updikes (1932-2009) Protagonist Harry Angstrom
alias „Rabbit“ noch immer als eine Art liebenswerter Schlingel gesehen wird,
was mehr aussagt über die meist männlichen Rezensenten als über die Figur
selbst. Die Übersetzung wirkt oft reichlich holprig, aber der deutsche Titel
„Hasenherz“ (im Original „Rabbit, Run“) charakterisiert ihn da schon wesentlich
besser. Die klischeehafte Phrase von der Flucht aus dem kleinbürgerlichen
Spießerleben darf nicht fehlen, zudem zitiert der Klappentext – wie immer ein
äußerst fragwürdiger Ratgeber – Marcel Reich-Ranicki mit der unglaublich
tiefgreifenden Einsicht, dass Updike über seine Figuren nie den Stab breche.
Aber welche*r Autor*in von Format würde das schon tun? Schriftsteller*innen,
die ihre Hauptfiguren offen verachten, schreiben selten gute Bücher. Nur zu offensichtlich
wird hier der neutrale, minutiös akribische Stil Updikes fehlinterpretiert, was
gute Literatur eben ausmacht, den Leser*innen das Denken überlasst. Angstrom
verlässt aus einer Laune heraus seine hochschwangere Frau und den kleinen Sohn,
lässt sich zwischenzeitlich mit einer Gelegenheitsprostituierten ein, die er
ebenso abrupt wieder verlässt, als das seine Tochter geboren wird, nur um kurz
darauf seine Frau nach einer Katastrophe – dem Tod des Kindes – erneut zu
verlassen. Es ist richtig, dass Angstrom der Leere seines Daseins entfliehen
möchte, seiner lethargischen, alkoholsüchtigen Frau, seinem mangelnden
Auskommen durch diverse Jobs, vor allem aber, weil er seiner großen Zeit als bewunderter
Basketballspieler an der Schule hinterhertrauert – also selbst ein
Spießertraum, der Größe hinter etwas vermutet, was Tausende genauso geleistet
haben. Doch sein Handeln ist ziellos, mehr Flucht aus der Verantwortung und vor
allem getrieben von Gedankenlosigkeit. Letztlich bleibt Harry Angstrom ein
Egoist, der das eigene Wohl so tief unbewusst verinnerlicht hat, dass ihm nicht
einmal mehr auffällt wie sehr er die Menschen seiner Umgebung verletzt, wie
sehr er in den entscheidenden Momenten das Falsche wählt. Die Schicksale
anderer sind ihm hierbei egal, insbesondere das der Frauen um ihn, die er
ständig taxiert, und von denen er annimmt, sie müssten sich automatisch seinem
Willen fügen. Wird es kompliziert, läuft der Hase davon. Berühmt wurde
„Hasenherz“ als Skandalroman aufgrund expliziter Sexszenen, als Portrait eines
bestimmten Menschen- bzw. Männertypus hat er nichts an Gültigkeit
verloren.
Victor
Hugo: L’Année terrible.

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