Dienstag, 11. Juni 2019

Lektüremonat Mai 2019.

 

Angeles Mastretta: Mexikanischer Tango.

Mit 15 wird die aus bescheidenen Verhältnissen stammende Catilina trotzdem nicht ganz freiwillig mit dem aufstrebenden General Andrés Ascencio verheiratet. Eine gute Partie, trotz eklatanten Altersunterschieds, denn der Militär strebt nach höheren politischen Weihen und braucht hierfür eine vorzeigbare Familie samt fügsamer Ehegattin. Doch Catilinas Gefühle ihrem Mann gegenüber sind stets ambivalent: naive Bewunderung für sein Selbstbewusstsein, Verachtung für seine Skrupellosigkeit, Angst vor seiner Hartherzigkeit, Gleichgültigkeit gegenüber seiner Gleichgültigkeit. Mit der Zeit pendelt sich zwischen den beiden ein Gleichgewicht von Distanz, Respekt und Misstrauen ein, das an der Oberfläche gut funktioniert. Beide pflegen ihre Liebschaften und Intrigen, doch unterschwellig bleibt Andrés der Tonangebende, der nicht nur politische Gegner, sondern hin und wieder auch einen der Liebhaber seiner Frau beseitigen lässt. Und doch ist er ihr am Ende nicht gewachsen: ähnlich kaltblütig vergiftet sie ihn gemächlich, ohne die Folgen tragen zu müssen. Erzählt aus der Perspektive der Frau, schuf die mexikanische Schriftstellerin Angeles Mastretta (geboren 1949) zwei komplexe Charaktere, die sich ständig umkreisen, belauern, nicht lieben, nicht hassen, aber auch nicht voneinander lassen können.
 

Dagmar Kekulé: Ich bin eine Wolke.

Die Mutter: eine Alkoholikerin, die stets an die falschen Männer gerät und zur Zeit auf Entziehungskur ist. Der Bruder: nur ein „Halbbruder“, abgehauen und seitdem verschollen. Die beste Freundin: lieb, aber aus ganz anderen Verhältnissen mit eigenen Problemen. Und so schlägt sich die 15jährige Paulina alleine durch – und das nicht mal schlecht. Die Schule läuft so nebenher mit, nicht brillant, aber es reicht gerade noch so. Im Autokino verdient sie sich etwas dazu, die neugierige Hausmeisterin und die Vermieterin, kann sie abwimmeln. Bedrohlicher ist schon die Fürsorgerin vom Jugendamt, die Paulina in die Verwahrlosung abdriften zu sehen meint. Als Paulina in der Wohnung auch noch einen aus dem Heim geflüchteten Jungen versteckt, wird die Lage kritisch. Doch die beiden entschließen sich, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, sich freiwillig dem Jugendamt zu stellen und in der Zukunft – mit Paulinas Mutter – gemeinsam ihr Glück zu machen. Doch es kommt anders. Typischer Jugendbuchroman der Rotfuchs-Reihe, in der Autorin Dagmar Kekulé (geboren 1938) ihrer Protagonistin kein Happy-End gönnt.
 

Petra Hammesfahr: Der gläserne Himmel.

Der junge Lehrer Christian wird in ein Eifeldorf an die Grundschule versetzt, in dem er als kleiner Bursche während einer Ehekrise seiner Eltern schon einmal ein paar Wochen verbracht hatte. Nach ruhigem Beginn, während er eine nette Lehrerkollegin kennenlernt, bemerkt Christian, dass das gesamte Dorf unter dem Bann der Familie des Birkenhofes und dieser wiederum in dem der 17jährigen Sina steht. Die „Dorfprinzessin“ betreibt bald ein perfides Verführungsspiel mit Christian, dem er schließlich machtlos unterliegt. Die Gerüchte über Sina sind widersprüchlich wie ihr Verhalten: für die einen ist sie lolitahafte Dorfmatratze, für die anderen unschuldiges Opfer undurchschaubarer Vorgänge in der Vergangenheit. Christian heiratet trotz mancher Zweifel Sina, doch kann auch er die Bruchstücke der verschiedenen im Umlauf befindlichen Erzählungen nicht zusammensetzen, erst recht nicht, als ihm die Eifersucht zunehmend den Blick verstellt. Diese führt zur Katastrophe, Sina stirbt bei einem Autounfall den Hirntod. Doch wider alle medizinische Wahrscheinlichkeit erwacht sie wieder aus dem Koma. Doch ist es wirklich Sina? Gewohnt spannend, wandelt sich Hammesfahrs (geboren 1951) Buch zunehmend zum Mysterythriller, wobei die Anfänge etwas stärker sind. Trotzdem mit der üblichen Sogwirkung der Hammesfahr-Romane.
 

Andreas Steinhöfel: Beschützer der Diebe.

Nach der Wiedervereinigung und dem Entschluss, Berlin wieder zur Hauptstadt zu küren, kam im Feuilleton die sich selbst fortpflanzende und reichlich überspannte Forderung und Sehnsucht nach „dem großen Berlin-Roman“ auf. Die hat, warum auch, bislang niemnd so recht erfüllt, das Berlin-Thema schlug sich aber bis in die Jugendliteratur nieder – Vorbilder gab es schließlich auch hier. Andreas Steinhöfels (geboren 1962) Roman von 1994 jedenfalls verwebt Stadtgeographie und -historie mit einer Detektivgeschichte um drei Jugendliche, die einen Kunst- und Politikskandal rund um die Museumsinsel aufklären. Liebevolle Charaktere mit gebrochenen Geschichten und ein völlig hanebüchener, aber spannender Plot machen das Buch zu einem Lesevergnügen nicht nur für Jugendliche und Berlinliebhaber*innen – und der etwas seltsame Titel wird im Text selbst auch erklärt.
 

Helmut Krausser: Schmerznovelle.

Ein Mediziner mit Schwerpunkt auf sexuelle Abweichungen besucht seinen inzwischen emeritierten Doktorvater in dem Örtchen, wo dieser sich zur Ruhe gesetzt hat. Der Professor und einige andere Gäste eines Empfangs machen den Besucher auf das Ehepaar Palm aufmerksam, einen angeblich äußerst interessanten Fall im Dorf, doch ergehen sich alle in lediglich kryptischen Andeutungen. Der Neugier folgend, sucht der Arzt das genannte Haus auf, doch ist nur die Ehefrau anwesend. Diese zeigt zwar sehr schnell nymphomane Züge, doch dies wäre kaum wirklich außergewöhnlich genug, um das Interesse des Professors und seines jüngeren Kollegen zu wecken, der sich jedoch trotzdem dem Bann dieser Frau nicht entziehen kann. Schließlich erfährt er, dass ihr Ehemann nicht auf Reisen, sondern bereits vor Jahren durch Selbstmord gestorben ist. Gleichwohl scheint er noch immer anwesend… Der distanziert analytische Arzt verliert zusehends die Kontrolle über sich und das Geschehen. Spannendes Vexierspiel zwischen Krimi, psychologischem Roman und Erotikdrama in Novellenform, gekonnt in Szene gesetzt von Helmut Krausser (geboren 1964).
 

Dagmar Chidolue: Fieber oder der Abschied der Gabriele Kupinski.

Deutschland in der Nachkriegszeit: Flüchtlingskind Gabriele wächst irgendwo im westfälischen Hinterland in einer geordneten Kleinbürgerwelt auf. Verwandtenbesuche, Aufstiegs- und Anpassungssehnsüchte der Eltern, Sparsamkeit und Bausparverträge, raus aus der Schule, Lehre, Hochzeit. Das sind die Wünsche der Erwachsenen, aber nicht Gabis, die an der alltäglichen Monotonie dieses mit Anstrengung erworbenen ‚Glücks‘ zu verzweifeln droht. Wo ist der Anfang, um aus dieser vorgeprägten Welt entfliehen zu können? Als sie auch noch ihre Arbeitsstelle, wo sie aufgrund der zuhause verinnerlichten Tugenden leicht auszubeuten war, spontan aufgibt, ohne Aussicht auf Neues zu haben, versinkt sie zusätzlich in Aussichtslosigkeit – bis sich doch eine zufällige Chance auftut. Dieses halbwegs positive Ende kommt recht überraschend für die Leser*innen, nachdem Dagmar Chidolue (geboren 1944) so lange ein Bild von beklemmender Tristesse, von ewigen Wiederholungen und sprachlicher Ausdruckslosigkeit aufgebaut hatte – auch der doppeldeutige Titel lenkte eher in eine fatalistische Richtung. Man könnte fast den Eindruck gewinne, der Autorin ist zum Ende hin eingefallen, dass sie ja ein Buch für ein jüngeres Publikum schreibt, dem man nicht alle Illusionen rauben sollte. Harter Tobak mit hohem Anspruch an jugendliche Leser*innen.                      
 

André Kaminski: Kiebitz.

Gideon Esdur Kiebitz hat die Sprache verloren und wendet sich nun an einen alten Schweizer Schulfreund, der ihm als Psychoanalytiker helfen soll. In Briefkorrespondenz schildert Kiebitz seine Vergangenheit, während sein buchstäblich distanzierter Therapeut diese kommentiert. Jener versteckt sich anfangs hinter seinem professionellen Jargon, da er in Kiebitz lediglich einen egozentrischen Narzissten vermutet, der Opfer seiner Spleens geworden ist. Kein Wunder, ist sein Patient doch einst in naiver Begeisterung von der Schweiz ins sozialistische Polen gereist, um dort am Aufbau des Staates mitzuwirken. Nicht nur der Psychiater, vor allem die Polen selbst halten dies für bestenfalls verrückt, schlechtestenfalls für verdächtig. Dass in Polen keineswegs paradiesische Zustände herrschen, ignoriert Kiebitz geradezu krampfartig – und selbst als er dies eingestehen muss, beteiligt er sich an der vermeintlichen Verbesserung der Verhältnisse und wird ein gefeierter TV-Star einer politikkritischen Sendung – oder macht er sich damit doch nur zum Hofnarren des Regimes, wie mancher warnt? Kiebitz kann nicht nur Beobachter bleiben, er gerät bald selbst ins Visier – nicht nur der Regierung, sondern des von ihm doch so sehr verteidigten Volkes. Als Jude muss er aus Polen fliehen – und der Psychiater sein Scheitern eingestehen. André Kaminskis (1923-1991) Roman kommt anfangs als lockerer Schelmenroman daher, versteckt darunter aber zunehmend einen anwachsenden Schrecken und Desillusionen über die Lernfähigkeit der Menschen. Der Schluss ist nur scheinbar versöhnlich.  
 

Louise Erdrich: Die Rübenkönigin.

Anfang der 1990er Jahre, so könnte man vermuten, versuchte der Rowohlt-Verlag, potentielle Leserinnen und Leser durch besonders scheußliche Gestaltung der Cover seiner Taschenbücher vom Kauf abzuschrecken. Wer es trotzdem wagte, durfte sich oft auf gute Literatur freuen. Dies überrascht im Falle Louise Erdrichs (geboren 1954) ohnehin nicht, die amerikanische Schriftstellerin mit deutsch-indianischen Wurzeln hat sich als Chronistin weiblicher Lebensläufe auf dem Land längst einen Namen gemacht. So berichtet auch „Die Rübenkönigin“ die Biographien dreier Frauen über mehrere Jahrzehnte in der Kleinstadt Argus, dazu kommen Brüder, Töchter, Onkel, dank vieler Perspektivenwechsel und der üblichen leicht skurrilen Einfälle entwirft Erdrich das wie immer äußerst gekonnt aufbereitete Panorama um ihre Hauptfiguren. Hier die kleine Mary, die, nachdem ihre Mutter mit einem Jahrmarktskünstler mit dessen Fluggerät auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist, auf der Reise zu ihrer Tante auch noch ihren Bruder verliert und anschließend mit ihrer neidischen Cousine auskommen muss – der sie erstmal die beste Freundin ausspannt. Dies ist die Ausgangskonstellation der Depressionsjahre, fortan verknüpfen sich die Schicksale auf verschlungenen Pfaden, bis wieder mal eine junge Frau in ein Flugzeug steigt… Nicht der beste ihrer Romane, aber doch ein unterhaltsames Vergnügen.     
 

Fjodor Michailowitsch Dostojewski: Die Brüder Karamasow.

Man könnte mit gutem Grund diesen Beitrag für sinnlos halten. Erstens, weil es ziemlich unmöglich ist, Dostojewskis (1821-1881) letzten Roman in wenigen Zeilen zusammenzufassen und dies nicht nur, weil er selbst in der Dünndruckausgabe über die tausend Seiten hinausgeht. Und zweitens, weil er keine Leseempfehlung benötigt – natürlich sollte jede*r dieses Meisterwerk als grundlegenden Text unserer Kultur gelesen haben. Nun, versuchen wir es mal nicht mit mehreren Seiten, sondern einer einzigen Zeile. Die drei sehr unterschiedlichen Brüder Aljoscha, Mitja und Iwan fragen sich nach dem Mord an ihrem ebenso tyrannischen wie egoistischen Vater, wie sehr sie schuld am Tod ihres Erzeugers sind. Der Mörder ist übrigens keiner der drei – obwohl einer von ihnen vor Gericht gestellt und verurteilt wird. Dostojewski verhandelt einmal mehr eines seiner Leib- und Magenthemen: die menschliche Schuld. Und diese Diskussion geht tief – weit über die bloße Frage nach dem Täter hinaus. Wann wird ein Mensch schuldig? Gibt es gute Gründe, schuldig zu werden? Oder sind alle Menschen unschuldig, weil die Verantwortung bei Gott liegt? Aber was für eine Art Gott ist es, der Menschen – bewusst – schuldig werden lässt? Oder sogar Unschuldige bestraft? Dostojewksis berühmte Episoden über leidende Kinder und den am Großinquisitor verzweifelnden wiedergekehrten Christus gehören zu den großen ungelösten moralischen Fragen der Weltliteratur. Dass von Michail Bachtin an Dostojewskis Romanen erarbeitete – und später auf anderen Gebieten reichlich überstrapazierte – Prinzip der Dialogizität, der Vielstimmigkeit, die gleichwertig unterschiedliche Positionen nebeneinanderstellt, ist in den „Brüdern Karamasow“ zur Vollendung geführt. Die Leser*innen werden nicht bevormundet, sondern werden Teil des Dialogs. Der Roman ist eine Herausforderung in vielem, aber vor allem zum Denken.      

 

 

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