Angeles
Mastretta: Mexikanischer Tango.
Mit
15 wird die aus bescheidenen Verhältnissen stammende Catilina trotzdem nicht
ganz freiwillig mit dem aufstrebenden General Andrés Ascencio verheiratet. Eine
gute Partie, trotz eklatanten Altersunterschieds, denn der Militär strebt nach
höheren politischen Weihen und braucht hierfür eine vorzeigbare Familie samt
fügsamer Ehegattin. Doch Catilinas Gefühle ihrem Mann gegenüber sind stets
ambivalent: naive Bewunderung für sein Selbstbewusstsein, Verachtung für seine
Skrupellosigkeit, Angst vor seiner Hartherzigkeit, Gleichgültigkeit gegenüber
seiner Gleichgültigkeit. Mit der Zeit pendelt sich zwischen den beiden ein
Gleichgewicht von Distanz, Respekt und Misstrauen ein, das an der Oberfläche
gut funktioniert. Beide pflegen ihre Liebschaften und Intrigen, doch
unterschwellig bleibt Andrés der Tonangebende, der nicht nur politische Gegner,
sondern hin und wieder auch einen der Liebhaber seiner Frau beseitigen lässt.
Und doch ist er ihr am Ende nicht gewachsen: ähnlich kaltblütig vergiftet sie
ihn gemächlich, ohne die Folgen tragen zu müssen. Erzählt aus der Perspektive
der Frau, schuf die mexikanische Schriftstellerin Angeles Mastretta (geboren
1949) zwei komplexe Charaktere, die sich ständig umkreisen, belauern, nicht
lieben, nicht hassen, aber auch nicht voneinander lassen können.
Dagmar
Kekulé: Ich bin eine Wolke.
Die
Mutter: eine Alkoholikerin, die stets an die falschen Männer gerät und zur Zeit
auf Entziehungskur ist. Der Bruder: nur ein „Halbbruder“, abgehauen und seitdem
verschollen. Die beste Freundin: lieb, aber aus ganz anderen Verhältnissen mit
eigenen Problemen. Und so schlägt sich die 15jährige Paulina alleine durch –
und das nicht mal schlecht. Die Schule läuft so nebenher mit, nicht brillant,
aber es reicht gerade noch so. Im Autokino verdient sie sich etwas dazu, die
neugierige Hausmeisterin und die Vermieterin, kann sie abwimmeln. Bedrohlicher
ist schon die Fürsorgerin vom Jugendamt, die Paulina in die Verwahrlosung
abdriften zu sehen meint. Als Paulina in der Wohnung auch noch einen aus dem
Heim geflüchteten Jungen versteckt, wird die Lage kritisch. Doch die beiden
entschließen sich, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, sich freiwillig
dem Jugendamt zu stellen und in der Zukunft – mit Paulinas Mutter – gemeinsam
ihr Glück zu machen. Doch es kommt anders. Typischer Jugendbuchroman der
Rotfuchs-Reihe, in der Autorin Dagmar Kekulé (geboren 1938) ihrer Protagonistin
kein Happy-End gönnt.
Petra
Hammesfahr: Der gläserne Himmel.
Der
junge Lehrer Christian wird in ein Eifeldorf an die Grundschule versetzt, in
dem er als kleiner Bursche während einer Ehekrise seiner Eltern schon einmal
ein paar Wochen verbracht hatte. Nach ruhigem Beginn, während er eine nette
Lehrerkollegin kennenlernt, bemerkt Christian, dass das gesamte Dorf unter dem
Bann der Familie des Birkenhofes und dieser wiederum in dem der 17jährigen Sina
steht. Die „Dorfprinzessin“ betreibt bald ein perfides Verführungsspiel mit
Christian, dem er schließlich machtlos unterliegt. Die Gerüchte über Sina sind
widersprüchlich wie ihr Verhalten: für die einen ist sie lolitahafte
Dorfmatratze, für die anderen unschuldiges Opfer undurchschaubarer Vorgänge in
der Vergangenheit. Christian heiratet trotz mancher Zweifel Sina, doch kann
auch er die Bruchstücke der verschiedenen im Umlauf befindlichen Erzählungen
nicht zusammensetzen, erst recht nicht, als ihm die Eifersucht zunehmend den
Blick verstellt. Diese führt zur Katastrophe, Sina stirbt bei einem Autounfall
den Hirntod. Doch wider alle medizinische Wahrscheinlichkeit erwacht sie wieder
aus dem Koma. Doch ist es wirklich Sina? Gewohnt spannend, wandelt sich
Hammesfahrs (geboren 1951) Buch zunehmend zum Mysterythriller, wobei die Anfänge
etwas stärker sind. Trotzdem mit der üblichen Sogwirkung der Hammesfahr-Romane.
Andreas
Steinhöfel: Beschützer der Diebe.
Nach
der Wiedervereinigung und dem Entschluss, Berlin wieder zur Hauptstadt zu
küren, kam im Feuilleton die sich selbst fortpflanzende und reichlich
überspannte Forderung und Sehnsucht nach „dem großen Berlin-Roman“ auf. Die
hat, warum auch, bislang niemnd so recht erfüllt, das Berlin-Thema schlug sich
aber bis in die Jugendliteratur nieder – Vorbilder gab es schließlich auch
hier. Andreas Steinhöfels (geboren 1962) Roman von 1994 jedenfalls verwebt
Stadtgeographie und -historie mit einer Detektivgeschichte um drei Jugendliche,
die einen Kunst- und Politikskandal rund um die Museumsinsel aufklären. Liebevolle
Charaktere mit gebrochenen Geschichten und ein völlig hanebüchener, aber
spannender Plot machen das Buch zu einem Lesevergnügen nicht nur für Jugendliche
und Berlinliebhaber*innen – und der etwas seltsame Titel wird im Text selbst
auch erklärt.
Helmut
Krausser: Schmerznovelle.
Ein
Mediziner mit Schwerpunkt auf sexuelle Abweichungen besucht seinen inzwischen
emeritierten Doktorvater in dem Örtchen, wo dieser sich zur Ruhe gesetzt hat.
Der Professor und einige andere Gäste eines Empfangs machen den Besucher auf
das Ehepaar Palm aufmerksam, einen angeblich äußerst interessanten Fall im
Dorf, doch ergehen sich alle in lediglich kryptischen Andeutungen. Der Neugier
folgend, sucht der Arzt das genannte Haus auf, doch ist nur die Ehefrau
anwesend. Diese zeigt zwar sehr schnell nymphomane Züge, doch dies wäre kaum
wirklich außergewöhnlich genug, um das Interesse des Professors und seines
jüngeren Kollegen zu wecken, der sich jedoch trotzdem dem Bann dieser Frau
nicht entziehen kann. Schließlich erfährt er, dass ihr Ehemann nicht auf
Reisen, sondern bereits vor Jahren durch Selbstmord gestorben ist. Gleichwohl
scheint er noch immer anwesend… Der distanziert analytische Arzt verliert
zusehends die Kontrolle über sich und das Geschehen. Spannendes Vexierspiel
zwischen Krimi, psychologischem Roman und Erotikdrama in Novellenform, gekonnt
in Szene gesetzt von Helmut Krausser (geboren 1964).
Dagmar
Chidolue: Fieber oder der Abschied der Gabriele Kupinski.
Deutschland
in der Nachkriegszeit: Flüchtlingskind Gabriele wächst irgendwo im
westfälischen Hinterland in einer geordneten Kleinbürgerwelt auf. Verwandtenbesuche,
Aufstiegs- und Anpassungssehnsüchte der Eltern, Sparsamkeit und
Bausparverträge, raus aus der Schule, Lehre, Hochzeit. Das sind die Wünsche der
Erwachsenen, aber nicht Gabis, die an der alltäglichen Monotonie dieses mit
Anstrengung erworbenen ‚Glücks‘ zu verzweifeln droht. Wo ist der Anfang, um aus
dieser vorgeprägten Welt entfliehen zu können? Als sie auch noch ihre
Arbeitsstelle, wo sie aufgrund der zuhause verinnerlichten Tugenden leicht
auszubeuten war, spontan aufgibt, ohne Aussicht auf Neues zu haben, versinkt
sie zusätzlich in Aussichtslosigkeit – bis sich doch eine zufällige Chance
auftut. Dieses halbwegs positive Ende kommt recht überraschend für die
Leser*innen, nachdem Dagmar Chidolue (geboren 1944) so lange ein Bild von
beklemmender Tristesse, von ewigen Wiederholungen und sprachlicher
Ausdruckslosigkeit aufgebaut hatte – auch der doppeldeutige Titel lenkte eher
in eine fatalistische Richtung. Man könnte fast den Eindruck gewinne, der
Autorin ist zum Ende hin eingefallen, dass sie ja ein Buch für ein jüngeres
Publikum schreibt, dem man nicht alle Illusionen rauben sollte. Harter Tobak
mit hohem Anspruch an jugendliche Leser*innen.
André
Kaminski: Kiebitz.
Gideon
Esdur Kiebitz hat die Sprache verloren und wendet sich nun an einen alten Schweizer
Schulfreund, der ihm als Psychoanalytiker helfen soll. In Briefkorrespondenz
schildert Kiebitz seine Vergangenheit, während sein buchstäblich distanzierter
Therapeut diese kommentiert. Jener versteckt sich anfangs hinter seinem
professionellen Jargon, da er in Kiebitz lediglich einen egozentrischen
Narzissten vermutet, der Opfer seiner Spleens geworden ist. Kein Wunder, ist
sein Patient doch einst in naiver Begeisterung von der Schweiz ins
sozialistische Polen gereist, um dort am Aufbau des Staates mitzuwirken. Nicht
nur der Psychiater, vor allem die Polen selbst halten dies für bestenfalls
verrückt, schlechtestenfalls für verdächtig. Dass in Polen keineswegs
paradiesische Zustände herrschen, ignoriert Kiebitz geradezu krampfartig – und
selbst als er dies eingestehen muss, beteiligt er sich an der vermeintlichen
Verbesserung der Verhältnisse und wird ein gefeierter TV-Star einer
politikkritischen Sendung – oder macht er sich damit doch nur zum Hofnarren des
Regimes, wie mancher warnt? Kiebitz kann nicht nur Beobachter bleiben, er gerät
bald selbst ins Visier – nicht nur der Regierung, sondern des von ihm doch so
sehr verteidigten Volkes. Als Jude muss er aus Polen fliehen – und der
Psychiater sein Scheitern eingestehen. André Kaminskis (1923-1991) Roman kommt
anfangs als lockerer Schelmenroman daher, versteckt darunter aber zunehmend
einen anwachsenden Schrecken und Desillusionen über die Lernfähigkeit der
Menschen. Der Schluss ist nur scheinbar versöhnlich.
Louise
Erdrich: Die Rübenkönigin.
Anfang
der 1990er Jahre, so könnte man vermuten, versuchte der Rowohlt-Verlag,
potentielle Leserinnen und Leser durch besonders scheußliche Gestaltung der
Cover seiner Taschenbücher vom Kauf abzuschrecken. Wer es trotzdem wagte,
durfte sich oft auf gute Literatur freuen. Dies überrascht im Falle Louise
Erdrichs (geboren 1954) ohnehin nicht, die amerikanische Schriftstellerin mit
deutsch-indianischen Wurzeln hat sich als Chronistin weiblicher Lebensläufe auf
dem Land längst einen Namen gemacht. So berichtet auch „Die Rübenkönigin“ die
Biographien dreier Frauen über mehrere Jahrzehnte in der Kleinstadt Argus, dazu
kommen Brüder, Töchter, Onkel, dank vieler Perspektivenwechsel und der üblichen
leicht skurrilen Einfälle entwirft Erdrich das wie immer äußerst gekonnt
aufbereitete Panorama um ihre Hauptfiguren. Hier die kleine Mary, die, nachdem
ihre Mutter mit einem Jahrmarktskünstler mit dessen Fluggerät auf
Nimmerwiedersehen verschwunden ist, auf der Reise zu ihrer Tante auch noch
ihren Bruder verliert und anschließend mit ihrer neidischen Cousine auskommen
muss – der sie erstmal die beste Freundin ausspannt. Dies ist die
Ausgangskonstellation der Depressionsjahre, fortan verknüpfen sich die
Schicksale auf verschlungenen Pfaden, bis wieder mal eine junge Frau in ein
Flugzeug steigt… Nicht der beste ihrer Romane, aber doch ein unterhaltsames
Vergnügen.
Fjodor
Michailowitsch Dostojewski: Die Brüder Karamasow.
Man
könnte mit gutem Grund diesen Beitrag für sinnlos halten. Erstens, weil es
ziemlich unmöglich ist, Dostojewskis (1821-1881) letzten Roman in wenigen
Zeilen zusammenzufassen und dies nicht nur, weil er selbst in der
Dünndruckausgabe über die tausend Seiten hinausgeht. Und zweitens, weil er
keine Leseempfehlung benötigt – natürlich sollte jede*r dieses Meisterwerk als
grundlegenden Text unserer Kultur gelesen haben. Nun, versuchen wir es mal
nicht mit mehreren Seiten, sondern einer einzigen Zeile. Die drei sehr
unterschiedlichen Brüder Aljoscha, Mitja und Iwan fragen sich nach dem Mord an
ihrem ebenso tyrannischen wie egoistischen Vater, wie sehr sie schuld am Tod
ihres Erzeugers sind. Der Mörder ist übrigens keiner der drei – obwohl einer
von ihnen vor Gericht gestellt und verurteilt wird. Dostojewski verhandelt
einmal mehr eines seiner Leib- und Magenthemen: die menschliche Schuld. Und
diese Diskussion geht tief – weit über die bloße Frage nach dem Täter hinaus.
Wann wird ein Mensch schuldig? Gibt es gute Gründe, schuldig zu werden? Oder
sind alle Menschen unschuldig, weil die Verantwortung bei Gott liegt? Aber was
für eine Art Gott ist es, der Menschen – bewusst – schuldig werden lässt? Oder
sogar Unschuldige bestraft? Dostojewksis berühmte Episoden über leidende Kinder
und den am Großinquisitor verzweifelnden wiedergekehrten Christus gehören zu
den großen ungelösten moralischen Fragen der Weltliteratur. Dass von Michail
Bachtin an Dostojewskis Romanen erarbeitete – und später auf anderen Gebieten
reichlich überstrapazierte – Prinzip der Dialogizität, der Vielstimmigkeit, die
gleichwertig unterschiedliche Positionen nebeneinanderstellt, ist in den
„Brüdern Karamasow“ zur Vollendung geführt. Die Leser*innen werden nicht
bevormundet, sondern werden Teil des Dialogs. Der Roman ist eine
Herausforderung in vielem, aber vor allem zum Denken.
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