Donnerstag, 30. Mai 2019

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (10) - Martin Walser: Halbzeit.


Martin Walser: Halbzeit. st 2657
 

Die Wirtschaftswunderrepublik des Sputnik-Jahres 1957. Anselm Kristlein, seines Zeichens Vertreter im Außendienst, Familienvater, Kriegsveteran, kurzum eine Durchschnittsexistenz jener Tage, laboriert noch an einer kürzlich notwendigen Operation, die ihre Spuren hinterlassen hat. Ohnehin ist Kristlein noch nicht wieder ganz auf der Höhe. Eine ruhige erholsame Rekonvaleszenz ist ihm nicht gegönnt, ebenso wenig erscheint ihm jedoch die Rückkehr in den Alltagstrott als wirklich erstrebenswert, wieder Ein Gefangener der Sonne für einen weiteren Tag (11) zu werden. Berufliche und familiäre Krisen deuten sich an: seinen Beruf liebt er keineswegs, zehn Jahre motorisierter Tippelbruder (364) mit eher überschaubarem Erfolg und noch weniger Aufstiegschancen, beides enorme Schauwerte der gutbürgerlichen 1950er-Jahre-Gesellschaft. Kristlein hat diesen Glanz der Äußerlichkeiten längst verinnerlicht: wer als selbständiger Unternehmer auftritt und kein Auto hat, der ist ein Engel, der keine Flügel hat und uns doch weismachen will, er sei ein Engel, und das Auto brauchte ich auch, weil ich ein Auto brauchte (23), so die rein tautologische und mit religiösem Anklang unterlegte Erklärung, die er gegenüber seiner Frau anführt und sogleich in das zeitaktuelle Medium transformiert: Ich machte ein Filmende-Gesicht, legte ihr meine Hände um den Hals, weil das zu dieser Art Gesicht gehört wie das Amen in der Kirche (23) laut den Anforderungen des amerikanischen Breitwandkinos.

Der Zeitkolorit des Romans ist nicht zu leugnen, wahrscheinlich konnte man nur um 1960 – dem Erscheinungsjahr von Halbzeit  einen solch entlarvenden Satz schreiben, der ein ganze Ära und ihr Denken zusammenfasst, ein Walsersches Meisterwerk in nuce: Eine Geliebte, mit der man nicht richtig Schluß gemacht hat, ist wie ein Granatsplitter, den man nicht entfernt hat, aus Nachlässigkeit oder weil es damals zu gefährlich war, es wird sich abkapseln und verwachsen, hat man gehofft, aber plötzlich hat man wieder Scherereien (34). Die wenig schmeichelhafte Granatsplitter-Metaphorik, für jeden Zeitgenossen sofort verständlich, gibt einen ausschließlich männlichen Blick wieder, eine noch geschlossene maskuline Welt mitsamt ihrem Weltbild, Kriegs- und Liebesversehrte mit ihrer Doppelmoral. Der Satz unterstreicht aber auch die zahlreichen Dilemmata des Anselm Kristlein. Sein unsteter Beruf hat immerhin den Vorteil, Ausflüge zu den zahlreichen Geliebten und gleichzeitig die dazugehörigen Ausreden mitzuliefern, die Eifersucht seiner zur Sesshaftigkeit drängenden Frau ist ebenso gerechtfertigt wie weiterer Fluchtgrund. Kristlein kann sich keiner erotischen Affäre entziehen – sei es die junge, insgesamt elfte, Verlobte eines guten Freundes, ein junges Starlet oder ein ewiger Jugendtraum, sofort stellt sich Begehren ein, dass sich dann, obwohl erfüllt und schal geworden, nicht wieder abstellen lässt.

Denn Kristlein ist keineswegs souverän, zwar beherrscht auch er wie viele seiner männlichen Freunde, schon aus Berufsgründen, die Kunst des oberflächlichen, glatten, stets anpassungsfähigen Small Talks, was ihn, nach dem abrupten Ende seiner Vertreterkarriere geradezu prädestiniert für eine noch junge, ebenfalls aus Amerika importierte Boombranche des Wirtschaftswunderlandes, die Werbung, doch darüber hinaus zeigt schon die mangelnde Koordinationsfähigkeit seiner vielen Affären, dass ihm das Selbstbewusstsein manches Kollegen, besonders der höheren Gesellschaft, noch fehlt. Wandlungsfähigkeit – weniger hübsch gesagt: Opportunismus – ist hierfür eine weitere Grundvoraussetzung. Auch darin hat Kristlein es durchaus schon weit gebracht, ihm droht keineswegs das Schicksal seines Vaters, der war so ein verbitterter Gymnasiast geworden, der außer seiner Schule nie mehr etwas zu einem guten Ende gebracht hat, nicht einmal sein Leben, das er mit achtunddreißig sozusagen freiwillig beendete (70), er ist gewillt, solch ein Schicksal des Scheiterns aus zu hohen Ansprüchen an sich selbst um jeden Preis zu vermeiden. Ein Symptom der Nachkriegszeit, das ihm ständig begegnet, ist ihm allerdings fremd, gehört zur Wandlungsfähigkeit doch auch das Leugnen jeglicher eigenen Verantwortung im Nationalsozialismus, exemplarisch vorgeführt am Beispiel seines Onkels Gallus Kristlein, seinerzeit erfolglos bestrebt, die NS-Kreisleitung zu erlangen, nun jedoch kamen ihm seine Hakennase und der Vorname und der Familienname […] doch sehr zustatten. Er hatte sich tatsächlich benachteiligt gefühlt. Und vom dem Gefühl, benachteiligt gewesen zu sein, war es im Sprachgebrauch der Nachkriegszeit nur ein Schrittchen zu dem Gefühl, ein Verfolgter, ein Opfer des Naziregimes zu sein (154), wie nicht wenige Täter, die sich plötzlich als Opfer sahen. Wobei nicht wenige allerdings nicht einmal mehr diese Rolle einnehmen brauchen, sondern, gerade in der Wirtschaft, unverhohlen ihre Karriere fortsetzen und auf ihre „Erfolge“ schon unter Goebbels verweisen, wie jener Salonlöwe Dr. Fuchs, dessen Verhaftung erkennen lässt, dass Kristlein doch noch nicht ganz über die geforderte notwendige Ignoranz gegenüber seinem eigenen Gewissen verfügt.
Kein Wunder, dass ihn solche Restskrupel ebenso wie seine zahlreichen Geliebten bei gleichzeitigem Festhalten an der Familienfassade letztlich wieder mit Magenbeschwerden zurück ins Krankenhaus befördern. Wenn da jeder gleich ein Buch schreiben wollte! Eben das begreife ich nicht, sagte ich, warum schreibt nicht jeder ein Buch? Man beherrscht sich, sagte Edmund, wird auf anständige Weise damit fertig (435). Nun, Martin Walser (geboren 1927) hat ein Buch geschrieben, ein – nicht nur im Umfang – gewaltiges Buch, das von nicht wenigen Zeitgenossen als rein gar nicht anständig empfunden wurde. Die bitterböse Entlarvung der Scheinwelt der 50er Jahre, die sich mit ihren gelegentlichen avantgardistischen Einschüben auch ansonsten von der Literatur jener Tage abhob, hat bei allem zeitlich bedingten Hintergrund weder von ihrer Sprachkraft noch ihrer tiefergehenden Kritik an einer Gesellschaft der Oberflächlichkeiten etwas eingebüßt. Und das letzte Wort zu und von Anselm Kristlein war auch noch nicht gesprochen.                  
 
Vorgänger Teil (9): Franz Kafka - Amerika.                                                      
     

 
                                                                   

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