Martin
Walser: Halbzeit. st 2657
Die
Wirtschaftswunderrepublik des Sputnik-Jahres 1957. Anselm Kristlein, seines
Zeichens Vertreter im Außendienst, Familienvater, Kriegsveteran, kurzum eine
Durchschnittsexistenz jener Tage, laboriert noch an einer kürzlich notwendigen
Operation, die ihre Spuren hinterlassen hat. Ohnehin ist Kristlein noch nicht wieder
ganz auf der Höhe. Eine ruhige erholsame Rekonvaleszenz ist ihm nicht gegönnt,
ebenso wenig erscheint ihm jedoch die Rückkehr in den Alltagstrott als wirklich
erstrebenswert, wieder Ein Gefangener der Sonne für einen weiteren Tag (11)
zu werden. Berufliche und familiäre Krisen deuten sich an: seinen Beruf liebt
er keineswegs, zehn Jahre motorisierter Tippelbruder (364) mit eher
überschaubarem Erfolg und noch weniger Aufstiegschancen, beides enorme
Schauwerte der gutbürgerlichen 1950er-Jahre-Gesellschaft. Kristlein hat diesen
Glanz der Äußerlichkeiten längst verinnerlicht: wer als selbständiger
Unternehmer auftritt und kein Auto hat, der ist ein Engel, der keine Flügel hat
und uns doch weismachen will, er sei ein Engel, und das Auto brauchte ich auch,
weil ich ein Auto brauchte (23), so die rein tautologische und mit
religiösem Anklang unterlegte Erklärung, die er gegenüber seiner Frau anführt
und sogleich in das zeitaktuelle Medium transformiert: Ich machte ein
Filmende-Gesicht, legte ihr meine Hände um den Hals, weil das zu dieser Art
Gesicht gehört wie das Amen in der Kirche (23) laut den Anforderungen des
amerikanischen Breitwandkinos.
Der Zeitkolorit
des Romans ist nicht zu leugnen, wahrscheinlich konnte man nur um 1960 – dem
Erscheinungsjahr von Halbzeit –
einen solch entlarvenden Satz schreiben, der ein ganze Ära und ihr
Denken zusammenfasst, ein Walsersches Meisterwerk in nuce: Eine Geliebte,
mit der man nicht richtig Schluß gemacht hat, ist wie ein Granatsplitter, den
man nicht entfernt hat, aus Nachlässigkeit oder weil es damals zu gefährlich
war, es wird sich abkapseln und verwachsen, hat man gehofft, aber plötzlich hat
man wieder Scherereien (34). Die wenig schmeichelhafte
Granatsplitter-Metaphorik, für jeden Zeitgenossen sofort verständlich, gibt
einen ausschließlich männlichen Blick wieder, eine noch geschlossene maskuline
Welt mitsamt ihrem Weltbild, Kriegs- und Liebesversehrte mit ihrer Doppelmoral.
Der Satz unterstreicht aber auch die zahlreichen Dilemmata des Anselm
Kristlein. Sein unsteter Beruf hat immerhin den Vorteil, Ausflüge zu den
zahlreichen Geliebten und gleichzeitig die dazugehörigen Ausreden mitzuliefern,
die Eifersucht seiner zur Sesshaftigkeit drängenden Frau ist ebenso
gerechtfertigt wie weiterer Fluchtgrund. Kristlein kann sich keiner erotischen
Affäre entziehen – sei es die junge, insgesamt elfte, Verlobte eines guten
Freundes, ein junges Starlet oder ein ewiger Jugendtraum, sofort stellt sich
Begehren ein, dass sich dann, obwohl erfüllt und schal geworden, nicht wieder
abstellen lässt.
Denn Kristlein
ist keineswegs souverän, zwar beherrscht auch er wie viele seiner männlichen
Freunde, schon aus Berufsgründen, die Kunst des oberflächlichen, glatten, stets
anpassungsfähigen Small Talks, was ihn, nach dem abrupten Ende seiner Vertreterkarriere
geradezu prädestiniert für eine noch junge, ebenfalls aus Amerika importierte
Boombranche des Wirtschaftswunderlandes, die Werbung, doch darüber hinaus zeigt
schon die mangelnde Koordinationsfähigkeit seiner vielen Affären, dass ihm das
Selbstbewusstsein manches Kollegen, besonders der höheren Gesellschaft, noch
fehlt. Wandlungsfähigkeit – weniger hübsch gesagt: Opportunismus – ist hierfür
eine weitere Grundvoraussetzung. Auch darin hat Kristlein es durchaus schon
weit gebracht, ihm droht keineswegs das Schicksal seines Vaters, der war so
ein verbitterter Gymnasiast geworden, der außer seiner Schule nie mehr etwas zu
einem guten Ende gebracht hat, nicht einmal sein Leben, das er mit
achtunddreißig sozusagen freiwillig beendete (70), er ist gewillt, solch
ein Schicksal des Scheiterns aus zu hohen Ansprüchen an sich selbst um jeden
Preis zu vermeiden. Ein Symptom der Nachkriegszeit, das ihm ständig begegnet,
ist ihm allerdings fremd, gehört zur Wandlungsfähigkeit doch auch das Leugnen
jeglicher eigenen Verantwortung im Nationalsozialismus, exemplarisch vorgeführt
am Beispiel seines Onkels Gallus Kristlein, seinerzeit erfolglos bestrebt, die
NS-Kreisleitung zu erlangen, nun jedoch kamen ihm seine Hakennase und der
Vorname und der Familienname […] doch sehr zustatten. Er hatte sich
tatsächlich benachteiligt gefühlt. Und vom dem Gefühl, benachteiligt gewesen zu
sein, war es im Sprachgebrauch der Nachkriegszeit nur ein Schrittchen zu dem
Gefühl, ein Verfolgter, ein Opfer des Naziregimes zu sein (154), wie nicht
wenige Täter, die sich plötzlich als Opfer sahen. Wobei nicht wenige allerdings
nicht einmal mehr diese Rolle einnehmen brauchen, sondern, gerade in der
Wirtschaft, unverhohlen ihre Karriere fortsetzen und auf ihre „Erfolge“ schon
unter Goebbels verweisen, wie jener Salonlöwe Dr. Fuchs, dessen Verhaftung
erkennen lässt, dass Kristlein doch noch nicht ganz über die geforderte
notwendige Ignoranz gegenüber seinem eigenen Gewissen verfügt.
Kein Wunder,
dass ihn solche Restskrupel ebenso wie seine zahlreichen Geliebten bei
gleichzeitigem Festhalten an der Familienfassade letztlich wieder mit
Magenbeschwerden zurück ins Krankenhaus befördern. Wenn da jeder gleich ein
Buch schreiben wollte! Eben das begreife ich nicht, sagte ich, warum schreibt
nicht jeder ein Buch? Man beherrscht sich, sagte Edmund, wird auf anständige
Weise damit fertig (435). Nun, Martin Walser (geboren 1927) hat ein Buch
geschrieben, ein – nicht nur im Umfang – gewaltiges Buch, das von nicht wenigen
Zeitgenossen als rein gar nicht anständig empfunden wurde. Die bitterböse
Entlarvung der Scheinwelt der 50er Jahre, die sich mit ihren gelegentlichen
avantgardistischen Einschüben auch ansonsten von der Literatur jener Tage
abhob, hat bei allem zeitlich bedingten Hintergrund weder von ihrer Sprachkraft
noch ihrer tiefergehenden Kritik an einer Gesellschaft der Oberflächlichkeiten
etwas eingebüßt. Und das letzte Wort zu und von Anselm Kristlein war auch noch
nicht gesprochen.
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