Mittwoch, 27. März 2019

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (9) - Franz Kafka: Amerika.


Franz Kafka: Amerika. st 2654
 
Lange Zeit wurde Franz Kafkas (1883-1924) Erstlingsroman Amerika – von dem nur das erste Kapitel Der Heizer jemals gedruckt wurde, er blieb Fragment wie die anderen Romane auch – unter dem Titel Der Verschollene publiziert, wie ihn der Autor zwischenzeitlich in seinen Aufzeichnungen selbst genannt hatte. Beides ist nicht verkehrt, der leicht reißerisch-publikumswirksamere Arbeitstitel passt nicht minder gut zu dem Text, handelt es sich doch um Kolportage reinsten Wassers: Karl Roßmann muss aufgrund eines Sex-Skandals aus der Heimat im alten Europa per Schiff nach Amerika flüchten, dort stößt er per Zufall auf seinen sprichwörtlichen reichen Onkel, verliert dessen Gunst aber abrupt aufgrund dessen autoritären Verhaltens, steht auf der Straße, gerät an falsche Freunde, die ihn bestehlen, dann, nachdem  er eine Anstellung in einem mondänen Hotel gefunden hat, zurückkehren, wodurch er nicht nur seinen Job verliert, sondern durch Intrigen in Konflikt mit der Polizei gerät. Infolgedessen abhängig von seinen zwielichtigen Freunden, degradieren ihn diese zu ihrem Haussklaven. Nachdem er sich irgendwie aus deren Fängen befreien hat können, lässt er sich unter falschem Namen von einem obskuren Großzirkus in Oklahoma anwerben. Das Ende ist, wie erwähnt – und durch das Fragmentarische wie immer bei Kafka – offen.
Naturgemäß wäre, wer sich nur auf diese verkürzte und überspitzte – eben aber trotzdem auch mögliche – Lesart verließe und nun zu Amerika als spannender Strandlektüre griffe, eher schlecht beraten. Doch zugleich ist es das Merkmal Kafkascher Kunstfertigkeit, Lesarten herauszufordern, Festlegungen zu vermeiden und Interpretationen zu vervielfachen – nicht umsonst ist sein Schaffen eines der markantesten Beispiel für das von Umberto Eco gerade an ihm festgemachte offene Kunstwerk. Endgültiges über einen Roman von Kafka zu sagen ist nicht möglich. Deshalb seien auch hier nur Bruchstücke genannt, Aspekte, herausgepickt aus dem Ganzen des Textes.
Amerika – das Land – ist Verheißung und Bedrohung zugleich; die Ambivalenz zeigt sich wie angedeutet bereits im Romaneinstieg darin, dass Karl Roßmann keineswegs freiwillig in das Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten einreist. Vieles ist an diesem Beginn charakteristisch, insbesondere Karls Passivität als Spielball äußerer Einflüsse – die, wie meist bei Kafka, urplötzlich für uns als Leser*innen ins Licht treten. Die erotische Affäre, die ihn zum Aufbruch zwingt, geht von dem Dienstmädchen aus, womit der Reigen an von ihm unverschuldeter Handlungen einsetzt – an denen er durch seine geradezu schmerzhafte Naivität und seiner Fähigkeit, seine eigene Lage und Gefühle in andere zu projizieren, was ihn nicht selten völlig in die Irre bei der Beurteilung seiner Mitmenschen führt, wiederum keineswegs unschuldig ist. Diese Empathie mag man durchaus – wie Max Brod – liebenswert finden, doch ist sie auf ihre Weise eine typisch Kafkasche Übertreibung, die die Überlebensfähigkeit Karls in Frage stellt. Weshalb der Roman ganz sicher nicht – vermeintlich anders als Der Prozeß und Das Schloß – etwas Verheißungsvolles hat, wie der Klappentext behauptet. Auch wenn er nur das nominelle ist und nicht als das eigentliche Ende des Romans vorgesehen war, nehme man nur die Häufung negativer Formulierungen des allerletzten Abschnittes – der Fahrt nach Oklahoma – als Beispiel: Bläulich schwarze Steinmassen  gingen in spitzen Keilen bis an den Zug heran [...] vergebens [...] dunkle, schmale, zerrissene Täler [...] in der sie sich verloren [...] sie stürzten sich unter die Brücken [...], so nahe, dass der Hauch der Kühle das Gesicht erschauern machte (285).
Schon der Beginn ist, wie erwähnt, mehrdeutig. Karl erblickte die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.
‚So hoch!’ sagte er sich und wurde, wie er so gar nicht an das Weggehen dachte, von der immer mehr anschwellenden Menge der Gepäckträger, die an ihm vorüberzogen, allmählich bis an das Bordgeländer geschoben (7). Karl ist wieder passiv, wird gedrängt und geschoben, aber der erstarrte Blick auf die übermächtige Freiheitsstatue ist weniger Verheißung als Drohung – statt der Fackel trägt sie ein Schwert. Was auf den ersten Blick erlösend erscheint – der reiche Onkel, die scheinbar hilfsbereiten Freunde Robinson und Delamarche – wird nicht selten zur Enttäuschung. Ebenfalls gleich am Anfang taucht ein in Amerika – und allen Folgeromanen – immer wiederkehrendes Motiv auf: das der labyrinthartigen Irrgänge in Piranesischer Manier. Das Schiffsinnere voller fortwährend abbiegende[r] Korridore (7), das Haus des Onkels, wo Karl nicht einmal nach längerer Zeit die Lage von dessen Schlafzimmer kennt (vgl. 62f), die Villa des Herrn Pollunder mit ihren Türen und Treppen (vgl. S.71), das Stadtviertel und das Wohnhaus, wo Delamarche und Robinson hausen (vgl. S 214f), überall unzugängliche Räume, versperrte Möglichkeiten, Abzweigungen ins Nichts, überdimensionierte Räumlichkeiten, in denen man sich verliert. Auch dies naturgemäß eine Metapher für Amerika.  „Ja, frei bin ich“, sagte sich Karl, und nichts schien ihm wertloser (127). Freiheit, die, wenn man mit ihr nicht umgehen kann, auch Angst macht und bedrohlich wirkt.
Amerika ist für den jungen Karl Roßmann – wie wohl auch für seinen Erfinder Kafka, der das Land nie besucht hat – fascinosum und tremendum zugleich. Das Labyrinthische der Villen, Häuser und Städte ist schließlich auch eine Folge der Größe und Großartigkeit, auf die Karl allerorten trifft, sei es im Reichtum seines Onkels, der Schnelligkeit des Handels (vgl. S.49f), im Hotel, im weltgrößten Zirkus, in der technologischen Überlegenheit, im demokratischen Straßenwahlkampf, alles erregt und fasziniert, aber es ist auch schwer greifbar, unfassbar, undurchschaubar für den Fremden, Gefahr durch Aufgehen und Verschwinden in der Masse. Die ersten Tage eines Europäers in Amerika seien ja einer Geburt vergleichbar (41), einer Chance auf Neuanfang, aber auch Ausdruck der Hilflosigkeit und des Angewiesenseins. Ein zweites großes Hauptmotiv in Amerika ist Karls Getriebensein, dass zu einer ständigen Unterbrechung des Schlafes führt. „Ja, schlafen!“ sagte der Student, mit dem er sich unterhält. „Schlafen werde ich, wenn ich mit meinem Studium fertig bin. Vorläufig trinke ich schwarzen Kaffee.“ (257) Dieser Satz mit klassisch Kafkascher Ironie gilt für Karl – ohne Kaffee – mehr denn je und er könnte ihn gleich zigfach äußern. Ich bin schrecklich müde. Ich weiß gar nicht recht, wo ich bin (218), im Land des amerikanischen Traumes herrscht Schlaflosigkeit, die durch die wenigen ruhigen, erholsamen Stunden, in denen er schließlich erschöpft tatsächlich Schlaf findet, nur umso stärker hervorgehoben werden. So ist New York, bekanntlich laut Sinatra the city that never sleeps, ein Satz der in den Ohren Karl Roßmanns äußerst zweideutig nachhallen dürfte, amerikanischer Traum und Alptraum gleichermaßen.
 
Vorgänger Teil (8): Max Frisch - Stiller.

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