Samstag, 11. Juli 2020

Lektüremonat Juni 2020.


Rex Collings (ed.): Classic Victorian & Edwardian Ghost Stories.

Einmal mehr ein Buch aus der lobenswerten „Tales of Mystery & The Supernatural“-Reihe  der Wordsworth Edition, von der wir kürzlich bereits den außergewöhnlichen Jack-the-Ripper-Band besprochen hatten. Präsentiert die Serie – die in etwas geänderter Form glücklicherweise noch immer existiert – im Großen neben Klassikern der Phantastischen Literatur auch immer wieder Abseitigeres und vor allem Kollektionen von sonst eher schwer greifbaren Autoren, so gilt dies im kleineren Maßstab ebenso für ihre nicht wenigen Anthologien zu Subgenres wie Vampir-, Werwolf oder Gruselgeschichten. Dort sind nicht selten ganz besondere Perlen aufzufinden. Der vorliegende Band ist allerdings eher durchwachsen. Obwohl Herausgeber Rex Collings noch im Vorwort verspricht, nicht einfach nur Horrorerzählungen der Epoche zu versammeln, sondern explizit Geistergeschichten, hält er dies keineswegs durch – im Gegenteil. Offenbar im Bemühen, einige große Namen nicht zu vernachlässigen, hat er immer wieder Texte eingestreut, die völlig ohne Gespenst auskommen und eher der Kriminalerzählung zuzuordnen sind. Wie er zu dieser Auswahl kommt, wird sein Geheimnis bleiben. Ansonsten gilt, dass die Mischung stimmt, geboten werden die Meister des Genres wie M.R. James uns Sheridan Le Fanu, dazu die Ausflüge prominenter Autoren und Autorinnen ins Fach von Charles Dickens bis Oscar Wilde und dazwischen sind sie dann, die Wordsworth-typischen Fundstücke. Als Bonus hat – wohl um uns zu versöhnen – Collings dann noch drei kurze „echte“ Gespensterberichte aus der Zeit des Viktorianismus angehängt. Sieht man von dem kuriosen Fauxpas der gespensterlosen Gespenstergeschichten ab, das verlässlich gruselige Lesevergnügen der Reihe.    

 

H.P. Lovecraft: The Loved Dead.

Und weil es so schön war, machen wir gleich mit einem weiteren Band aus der Reihe weiter. Hier nun haben wir einen Klassiker des Genres, vielleicht dessen bedeutendsten Vertreter im 20. Jahrhundert überhaupt, vorliegen, H.P. Lovecraft (1890-1937), so gesehen ist sein Auftauchen in der Reihe weniger überraschend. Das besondere an dieser Ausgabe ist jedoch, dass es sich hierbei um eine Sammlung von Geschichten handelt, die Lovecraft als – in seinem Falle buchstäblicher – Ghostwriter verfasst hat. Diese in vielem frustrierende Tätigkeit war eine seiner Haupteinnahmequellen. Von Kollaborationen zu sprechen, also gemeinschaftlicher Arbeit, ist jedoch verfehlt, auf der einen Seite, weil Lovecraft als (Mit)Autor zumeist gar nicht erwähnt wurde, auf der anderen, weil er die Geschichten so sehr in seinen eigenen Kosmos integriert und mit seinem Stil geprägt hat, dass umgekehrt von der Mitautorschaft der Kollegin oder des Kollegen kaum noch etwas erkennbar ist. Deshalb ist es durchaus gerechtfertigt – und natürlich auch werbewirksamer –, dass der Band nur unter seinem Namen veröffentlicht wurde. Die Liebhaber*innen von Lovecrafts Literatur finden folglich alles, wofür der Meister steht: den unheimlichen Horror in seiner so präzisen, vermeintlich genauen Form. Und dies ist als Kompliment gemeint, den Lovecraft beherrscht das schwierige Kunststück, scheinbar exakt zu beschreiben, genau zu begründen, akribische Hintergründe zu schaffen, doch der eigentliche Horror bleibt stets ungenau, ist nicht fassbar, spielt sich letztlich in der Phantasie der Leser*innen – oder gar nur der Protagonist*innen? – ab. Natürlich strotzen die einzelnen Erzählungen von den zahlreichen Anspielungen und Verbindungen, die den Lovecraft-Leser*innen so vertraut sind. Hervorheben kann man eine Geschichte, in der er sich in Science-Fiction versucht, erfolgreich versucht. Man muss bedenken, dass wir hier erst in den 1930er Jahren sind. Doch die Geschichte eines Mannes, der auf der Suche nach Kristallen auf der Venus in ein unsichtbares Labyrinth gerät, wirkt wie eine Vorwegnahme der pessimistischen New-Wave-Science-Fiction der 60er Jahre. Stünde da als Autor H.G. Ballard statt H.P. Lovecraft, niemand würde sich wundern.  

 

Eva Zeller: Tod der Singschwäne.

Man wird Eva Zellers (geboren 1923) Verdienste an der deutschen Literatur nicht schmälern, wenn man sich eingesteht, dass sie nicht unbedingt zu den bekanntesten Schriftstellerinnen des Landes zählt. Das ist schließlich nicht ihr Fehler, sondern allenfalls der des Publikums. Auch sie, eine sehr produktive Autorin, hat ihren Leserkreis und wer sich noch nicht dazuzählt, für den ist der Einstieg mit dem kurzen Erzählungsband „Tod der Singschwäne“ wie geschaffen. Versammelt sind darin zeller-typische Themen, die sich aus ihrer sehr kurvenreichen Biographie speisen, die vom Aufwachsen im Nationalsozialismus, frühen traumatischen Erfahrungen wie dem Verlust ihres Mannes 1945, Flucht aus dem Osten, erst 1945, dann 1956, langen Jahren in Namibia und einigen Wendungen mehr geprägt sind. „Was sage ich dann“, wenn ich mir (nicht) sicher bin, das Nachbarmädchen aus ärmlichen Verhältnissen nun, Jahrzehnte später, zufällig wieder im Flugzeug zu treffen, das ich einst von oben herab behandelt habe, das gönnerhaft alte Kleidungsstücke von mir geschenkt bekommen hat und sich dann dadurch rächte, dass sie mich als BDM-Führerin schikanierte. Ansprechen? Ignorieren? Tun, als sei nie etwas gewesen? Neben solchen menschlichen Konflikten sind Zellers Geschichten vor allem vom gedankenlosen Gebrauch der Sprache dominiert. Viele ihrer Texte bestehen fast nur aus Phrasen, nicht aus bösen, ironischen Redewendungen wie wir sie etwa bei Elfriede Jelinek finden, sondern aus den scheinbar harmlosen, banalen Satzstanzen des Alltags, tausende Male gebraucht. Und doch ist deren Wirkung, wie Zeller zeigt, gefährlich, sie sind vielleicht inhaltsleer, aber nicht wirkungslos. In zwei, man möchte sagen, typischen 1980er-Jahre-Geschichten, die gleichzeitig mehr als aktuell sind, zeigt Zeller einmal an der Ablehnung einer Initiative zur Verlegung einer Straße und zum zweiten anhand des Versuchs, einen Asylantrag einzureichen, wie man sich mithilfe von Wort- und Satzhülsen Probleme vom Leib hält, ohne sich wirklich damit – und mit den Folgen – beschäftigen zu müssen. Keineswegs ein auf die Bürokratie und Politik beschränkter Vorgang, auch das rufen die Erzählungen ins Gedächtnis. Eva Zeller: eine unterschätzte Autorin.

 

Harry Kemelman: Am Sonntag blieb der Rabbi weg.

Harry Kemelmans (1908-1996) erfolgreiche Reihe um seinen ermittelnden Rabbiner David Small,

Vorsteher einer Synagoge in einer Kleinstadt nahe Boston, hat wie immer wenig mit einem typischen Krimi – und noch weniger mit anderen geistlichen Kollegen à la Pater Brown – zu tun. Einmal mehr nutzt Kemelman das Genre, um über das Leben und die Probleme einer modernen jüdischen Gemeinde zu berichten, was den wesentlich größeren Reiz ausmacht als die – natürlich auch vorhandene – Krimihandlung. Der Rabbi ist am Sonntag zu Gast an einer Uni als Vertretung eines befreundeten Kollegen, um die Studentengemeinde zu betreuen, was jedoch gleichzeitig dazu führt, dass er eine entscheidende Vorstandssitzung seiner Gemeinde verpasst, auf der diese sich zu spalten droht. Als Small zurückkehrt, liegt schon vieles im Argen. Die konservativen, vor kurzem entmachteten Vorstandsmitglieder sehen sich heimlich bereits nach einer Synagoge zur Neugründung um, der Rabbi selbst gerät zwischen die Stühle, bis ihm sogar der Rauswurf droht – er ist schließlich nur ein Vertragsangestellter. Wären nicht einige Jugendliche der Gemeinde in einen möglichen Mord an einem Kleindealer des Ortes verwickelt, hätte sich Small wohl nach einer neuen Stelle umsehen müssen. So aber klärt er den Fall mit Hilfe seines katholischen Freundes, des Polizeichefs, auf und sichert sich damit die eigene, aber auch die Zukunft der gesamten Gemeinde. Spannung im eigentlichen Sinne war nie das Hauptanliegen Kemelmans, er nutzt seinen Roman wie immer zur Vermittlung jüdischen Alltaglebens in den USA, auch diesmal wieder mit interessanten Einblicken für Außenstehende. Nicht unbedingt der beste Band der Serie, aber unterhaltsam.

 

Robert Bloch: Das Regime der Psychos.

Graham ist ein Regisseur in Hollywood, der die immergleichen Science-Fiction-Filme dreht. Als er einmal versucht, aus den vorgegebenen Formaten auszubrechen, gerät er sofort in den Verdacht, subversiv zu sein. Sein Fehler: er hat Gewalt unter Menschen gezeigt. Das aber ist in der Geplanten Gesellschaft nicht erwünscht, beziehungsweise strengstens verboten. Denn nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und verheerenden Atomkriegen haben Psychologen die Macht im Staat übernommen und die Menschen neu konditioniert. Im Leben der Menschheit, nun verteilt auf einzelne noch bewohnbare Kuppeln im (angeblich) verseuchten Umland, gibt es zwar keine Freiheiten mehr, aber ein oberflächlich angenehmes Leben, dass für die meisten mit der Pensionierung im fünfzigsten Lebensjahr dank erhöhter Lebenswartung mit der gleichen Anzahl an Jahren in stressloser Freizeit weitergeht. Doch Graham, mit etwas mehr Willensfreiheit ausgestattet, da er als sogenanntes ‚Talent‘ für kreative Aufgaben vorgesehen war, bekommt auf seiner Flucht vor den „Psychos“ tiefere Einblicke hinter die Kulissen dieses autoritären Wohlfahrtsstaates, der seine Untertanen mit Fünfzig keineswegs pensioniert, sondern heimlich eliminiert. Mit einer Gruppe von Dissidenten macht er sich daran, das Regime zu stürzen. Blochs (1917-1994) Dystopie krankt an einigen literarischen Schwächen. Eine davon ist dem Subgenre immanent, dass dazu neigt, lang(atmig)e Beschreibungen hervorzubringen, in denen der Autor all seine Einfälle präsentieren muss. Dies geht oft einher mit ziemlicher Unplausibilität, da oft Personen innerhalb derselben Gesellschaft sich diese ausführlich erklären – etwa so, als würden Sie ihrem Nachbarn erzählen, dass es bei uns Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren gibt. Man kann davon ausgehen, dass ihm diese Tatsache bereits bekannt ist. Bloch deutet zwar mehrfach Ambivalenzen an, da auch der Zustand vor der Machtübernahme kaum noch erträglich war und die Psychologen durchaus edle Motive für ihr Handeln hatten, Zeit, auf diese Widersprüche einzugehen oder sie in seinen Figuren zu reflektieren, nimmt er sich aber kaum. Ähnlich uneindeutig ist sein Verhältnis zur Gewalt, manchesmal scheint er etwas zu fasziniert von den Grausamkeiten, die er schildert – womit er den Psychologen gewissermaßen ungewollt ein gutes Argument liefert. Insgesamt ein nicht gerade überzeugendes, aber immerhin kurzes Lesevergnügen. 

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