Benjamin
Lebert: Mitternachtsweg.
Der
durch „Crazy“ einst in sehr jungem Alter bekannt gewordene Schriftsteller
Benjamin Lebert (geboren 1982) hat auch nach diesem frühen Erfolg weiter
fleißig geschrieben und Romane veröffentlicht, die allerdings nicht mehr allzu
große Aufmerksamkeit erregten, wohl vor allem deshalb, weil das Sensationelle
des Erstlings, das natürlich vor allem in der Jugend des Autors lag, sich auf
natürlichem biologischen Weg abnutzte. An der Qualität der Texte kann es
nämlich nicht liegen, abgesehen davon, dass man bei einem etablierten
Schriftsteller wahrscheinlich strengere Maßstäbe anlegt als bei einem
pubertären Debütanten. Lebert jedenfalls versteht sein früh geübtes Handwerk
und zieht einen ziemlich schnell hinein in seine Geschichte von einem Reporter,
der von einem Freizeitjournalisten erst Beiträge über mysteriöse Ereignisse für
seine Lokalzeitung zugesandt bekommt, die guten Anklang beim Publikum finden,
bis der noch recht junge Autor sich entschließt, die Serie plötzlich
abzubrechen. Seinem Ansprechpartner bei der Zeitung hinterlässt er ein letztes
ausführliches Manuskript, das vom Friedhof der unbekannten Toten, die das Meer
anspült, auf Sylt berichtet, und einer geheimnisvollen Frau, die er bei den
Recherchen getroffen hat. Diese verwickelt ihn in frühere Geschehnisse auf der
Insel, bei der jemand während der aufziehenden Flut zu Tode kam. Aber wer? Je
genauer nachgefragt wird, desto unklarer werden die Erzählungen. Und welche
Gefahr geht von dieser verführerischen Frau aus, die angeblich ein Café auf
Sylt betreibt? Die Geschichten innerhalb der Geschichten verstricken und
verweben sich immer mehr, der Bann der Frau, die womöglich längst nicht mehr
lebt, entfaltet seine Wirkung über verschiedene Jahrzehnte – und über
verschiedene Menschen. Ziemlich clever konstruiert und zugleich spannend, ist das
Buch Beweis genug, dass es sich lohnt, die anderen Romane Leberts zu entdecken.
Ian
McEwan: Abbitte.
Der
erste Teil von McEwans (geboren 1948) berühmten Roman scheint ein eher
typisches Beispiel für ein britisches Gesellschaftsdrama zu sein. Man bewegt
sich in gehobenen Kreisen auf einem Landgut, es gibt allerlei familiäre Komplikationen
und Verwicklungen, die Ehe ist nur noch Fassade, die Scheidungskinder der
Verwandtschaft sind zu Gast, der Sohn des Hauses kommt zu Besuch, die ältere
Tochter wird sich langsam über ihre Gefühlslage betreffs des Sohnes einer
Angestellten im Klaren, der als Halbweise so etwas wie ein zusätzliches
Ziehkind ist, und die jüngste, Briony, erweist sich als Kind mit überbordender
Fantasie, das sich der Schriftstellerei widmet. Doch dann macht sie
gelegentliche Beobachtungen, die ihre Aufmerksamkeit ablenken von ihrem
geplanten Theaterstück und ihr naives, von Gefühlen geleitetes Vermögen, sich
Geschichten auszudenken, führt zu fatalen Fehlschlüssen, die dafür sorgen, dass
die Familie binnen Kürze völlig auseinanderbricht. Nur mit Ausschnitten
gefüttert, in manchen Dingen noch unwissend, aber auch bedingt durch momentanen
Zorn beschuldigt sie den jungen Ziehsohn Robbie, ihre Cousine vergewaltigt zu
haben. Soweit der erste Abschnitt, der, wie gesagt, eher klassisch daherkommt,
für McEwans Verhältnisse sogar fast bieder und gelegentlich in den
Briony-Abschnitten etwas zäh. Ganz anders Teil Zwei: Robbie, verurteilt, hat
sich nach Ausbruch des Krieges freiwillig zur Armee gemeldet, um so die Strafe
zu verkürzen. Nun irrt er mit zwei Kriegskameraden durch Belgien, abgetrennt
von ihrem Heeresteil, auf der Flucht vor der heranrückenden Armee der
Deutschen. Die Alliierten sind vorerst geschlagen und drängen in Scharen
Richtung Dünkirchen, umgeben von Tod und Gewalt, ständig bedroht von
Flugangriffen. Robbie hat nur ein Ziel: Überleben. Und das ist schwer genug.
Traumatische Erlebnisse pflastern seine Flucht, die womöglich sinnlos ist. Nun,
da der Leser für den ohnehin unschuldigen Robbie eingenommen ist, dessen Leid
nur durch die naive Briony verursacht und inzwischen ins Unermessliche gesteigert
ist, wechselt die Perspektive im dritten Teil eben zu dieser. Längst eine junge
Frau, hat sie sich wie ihre ältere Schwester, mit der sie keinen Kontakt mehr
hat, weil diese Robbie treu geblieben ist, freiwillig zur Ausbildung als
Krankenschwester gemeldet. Anfangs hat die Lehrzeit nur die sozusagen üblichen
Härten, bis schließlich die Evakuierten vom Festland in den Londoner
Hospitälern eintreffen. Auch Briony durchlebt eine Hölle, ist damit ihre
Abbitte geleistet? Doch selbst geplagt von ihrer Schuld, der sie sich längst
bewusst ist – sie kennt auch den tatsächlichen Vergewaltiger ihrer Cousine –
möchte sie wenigstens auch die konkrete Änderung vornehmen, ihre Aussage von
einst öffentlich revidieren, um im Nachhinein Robbie, falls er noch lebt, von
der Schuld freizusprechen. Sie sucht den Kontakt mit ihrer Schwester, aber die
zeigt sich kalt. Eine Änderung der Verurteilung Robbies ist schwieriger als
gedacht, wenn nicht unmöglich, sowohl im rein juristischen als auch im
zwischenmenschlichen Sinn. Nach der langen Exposition des ersten Teiles wird
der Roman zum fulminanten Leseerlebnis um die große Frage der Schuld. Der kurze
Epilog wartet dann noch mit einer Pointe auf, die dem Ganzen, nachdem der Text
fast versöhnlich zu enden schien, eine zusätzliche bittere Note verleiht.
George
Bernard Shaw: Pygmalion.
Shaws
(1856-1950) wohl beliebtes – und neben „Mrs. Warren’s Profession“ auch
bekanntestes – Stück hat es vermutlich zu dieser anhaltenden Popularität
gebracht, weil es noch am ehesten den typischen Vorstellungen einer Komödie
entspricht, zumindest, was den Anfang angeht. Shaw selber nannte es, natürlich
ironisch, eine Romanze in fünf Akten. Der mit den antiken Mythen vertraute
Bildungsbürger weiß selbstverständlich, dass der Künstler Pygmalion eine Statue schuf,
in die er sich verliebte und die ihm schließlich aus göttlicher Gnade zum Leben
erweckt wurde. Vordergründig hat das Stück wenig mit diesem Mythos und schon
gar nichts mit der heroischen Antike zu tun, spielt es doch im London der
(damaligen) Gegenwart, im strömenden Regen, wo die Menschen nach einer
Spätvorstellung auf ihre Kutschen warten. Die Stimmung ist dementsprechend eher
schlecht, erst recht, als einerseits ein aufdringliches Blumenmädchen seine
Ware loswerden möchte und gleichzeitig ein seltsamer Herr auftaucht, der alles
über die zu Wartenden zu wissen scheint – womöglich ein Spitzel. Streit
entbrennt, die Meinungen wogen ziemlich schnell hin und her, bis sich die Menge
auflöst. Es ist die erste Begegnung zwischen der aus ärmlichen Verhältnissen
stammenden Liza und dem Sprachforscher Professor Higgins, der seine Mitmenschen
an den kleinsten Dialektfärbungen nach ihrer Herkunft unterscheiden kann – es
ist allerdings das einzige Interesse, dass er für diese aufbringt. Deshalb
möchte er Liza auch, als sie bei ihm auftaucht, um Sprachstunden zu nehmen, die
ihren gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichen sollen, gleich wieder loswerden.
Doch dann lässt er sich auf eine Wette ein, er will die junge Frau in kurzer
Zeit so umerziehen, dass niemand mehr in ihr das ehemalige Blumenmädchen aus
der Unterschicht erkennen kann. Doch das Vorhaben erweist sich erst als sehr
schwierig und dann als schiefgelaufen, denn Liza beherrscht zwar irgendwann
perfekt Manieren und Sprachduktus der Oberschicht, hat aber darunter ihren
aufmüpfigen, selbstbewussten Charakter nicht verloren. Und so wird ihr letztlich
bewusst, dass Higgins in ihr nur ein Experiment sah. Dass Liza mit dem
erreichten Ergebnis nach der durchgeführten Probe aufs Exempel nicht zufrieden
ist, kann er nicht verstehen – und erst recht nicht, dass sie ihn nun verlassen
möchte. Higgins alias Pygmalion war nur am perfekten Kunstwerk interessiert,
nicht an der Persönlichkeit des von ihm geschaffenen Wesens, das eben mehr ist
als nur eine formbare Statue. Shaw genialer Schachzug zum Schluss: Er lässt den
Ausgang des Stückes offen.
Édouard
Louis: Im Herzen der Gewalt.
Nachts
auf dem Nachhauseweg wird Édouard von einem jungen Mann angesprochen, der ihm mit
seiner aufdringlichen Art gleichzeitig fasziniert, aber auch auf die Nerven
geht. Er wimmelt ihn nur halbherzig ab und nimmt ihn dann doch hoch mit in
seine Wohnung. Dort entspannt sich die Situation, die beiden unterhalten sich,
haben Sex, bis Édouard merkt, dass Reda, sein Gast, ihn beklaut hat. Wieder
schwankt er, wie er damit umgehen soll, es übergehen, ihn zur Rede stellen, ihn
unauffällig loswerden. Da zieht Reda eine Waffe, wird gewalttätig, vergewaltigt
Édouard. Letztlich kann dieser ihn rauswerfen, bevor noch mehr passiert.
Traumatisiert beseitigt er alle Spuren von Redas Anwesenheit, geht, wieder
unwillig, auf Rat von Freunden zur Polizei, obwohl dies sinnlos erscheint. Er
gerät in die Mühlen der kriminalistischen Bürokratie, flieht dann zu seiner
Schwester aus der Stadt. Louis‘ (geboren 1992) autobiographisches Buch – aber
als Roman gekennzeichnet – ist nichts für ein entspanntes Mal- eben-Nebenher-Lesen.
Nicht wegen der darin geschilderten Gewalt, die ist eher dezent beschrieben,
sondern wegen deren Folgen. Édouard durchläuft zahlreiche Prozesse, die
niemanden schonen, ihn nicht, den Täter nicht, aber auch diejenigen nicht, die
ihm helfen wollen, Freunde und Freundinnen, Familie und natürlich die Professionellen,
die Polizei. Die Selbstreflexionen sind dabei oft widersprüchlich, Abneigung
gegen die Helfer, Verständnis für den Täter, sogar bis hin zur
Täter-Opfer-Umkehrung, also der Suche nach der Schuld bei sich selbst – kein
seltenes Phänomen unter Traumatisierten. Louis gelingt diese Radikalität vor
allem durch einen literarischen Kniff, in dem er die Geschichte von seiner
Schwester erzählen lässt – zu der er kein sonderlich gutes Verhältnis hat – und
sie dabei heimlich belauscht. Er ist also in der Situation, das, was ihm selbst
geschehen ist, von sich abzuspalten, als Bericht aus zweiter Hand kommentieren
zu können, dabei gleichzeitig Vorurteile bei seiner Schwester, bei der Polizei
und wiederum auch bei sich erkennen und Falsches korrigieren zu können. Der
Text ist ein Versuch, es wird niemandem gelingen, solch ein Erlebnis
nachvollziehbar zu schildern, selbst denen nicht, die Ähnliches erlebt haben. Aber
der Versuch ist es wert, gelesen zu werden, um Verstehen bis zu einem gewissen
Grad wenigstens zu ermöglichen. Und dafür ist es nötig, sich solchen Texten
auszusetzen.
Ivy
Compton-Burnett: The Last and the First.
Man
bekommt, was man von Ivy Compton-Burnett (1884 bis 1969) erwarten kann: Einen
Roman, der von Dialogen dominiert wird mit dem üblichen „X-and-X“ Titel, in
dessen Mittelpunkt verwickelte, zumeist repressive Familienverhältnisse stehen.
Dies ist also auch in diesem, ihrem letzten und unvollendeten Roman der Fall,
wobei dieser für ihre Verhältnisse vergleichsweise viel Beschreibungen enthält
– in charakteristischeren Werken sind fast ausschließlich Dialoge zu finden.
Naturgemäß sind diese wie erwähnt auch hier vorherrschend und in der üblichen
scharfen, oft ironischen, hin und wieder absurden Art abgefasst, etwa wenn
explizit aneinander vorbeigeredet wird. Die Familie steht hier unter der
strengen Kontrolle der Herrin des Hauses, und setzt sich aus deren eigenen
Kindern und denen ihres Mannes aus erster Ehe zusammen, von denen eine der
Töchter, Hermia, sich dem herrschenden Regiment entziehen möchte, in dem sie –
unstandesgemäß – als Lehrerin in einer kleinen Privatschule anheuert.
Ihr anstehender Auszug sorgt für heftige Kontroversen – noch dazu misslingt das
Vorhaben: Nach nur wenigen Monaten kommt sie gescheitert zurück. Doch ein
Verehrer aus der Nachbarschaft, der sie nur flüchtig auf einer Veranstaltung
kennengelernt, ihr aber kurz darauf schriftlich einen Heiratsantrag gemacht
hat, stirbt unerwartet und hat noch viel unerwarteterweise ihr sein Vermögen
vermacht – obwohl sie seinen Antrag seinerzeit abgelehnt hatte. Da die Familie inzwischen
in finanzielle Nöte geraten ist, steigt Hermia zur Retterin auf, die Macht
ihrer Stiefmutter ist gebrochen. Der Reiz Compton-Burnetts liegt natürlich
immer in der subtilen Psychologie der Dialoge, den unterschwelligen Botschaften
und Machtspielen, die unter der diplomatisch-höflichen Sprache des
Viktorianismus verkleidet sind und der Kunst, Charaktere fast nur durch Dialoge zu
erschaffen. Da der Roman nicht mehr von ihr überarbeitet werden konnte, ist dies
in „The Last and the First“ nur bedingt gelungen, für die Fans der
Schriftstellerin war die Veröffentlichung des Manuskripts sicherlich ein Glück,
ansonsten zählt er – in dieser Form – nicht zu ihren besten.
George
Saiko: Die Erzählungen.
Erzählerisch
liegt zwischen den wenigen frühen Geschichten des österreichischen
Schriftstellers George Saiko (1892 bis 1962) und den späteren ein deutlicher
Bruch und dies kann in mehrfacher Hinsicht nicht überraschen. Das liegt nicht nur an der ungleichen Mengenverteilung – nur zwei aus der Frühzeit sind
bekannt –, sondern auch den exakt fünfzig Jahren, die zwischen den ersten
beiden und den späteren Texten vergangen sind. So entstanden die ersten noch
vor dem Ersten Weltkrieg, die zweite Phase erfolgte jedoch erst nach dem
Zweiten in den 1950er Jahren, dafür aber mit hoher Produktivität. Was sich in
all der Zeit nicht geändert hat, ist das psychologische Interesse Saikos.
Vielleicht weil sie noch traditioneller geschrieben ist und ein eher
klassisches Thema behandelt, ist gerade die erste Erzählung „Das letzte Ziel“
besonders fesselnd: Der knöcherne und korrekte k.u.k.-Beamte Schneider wird
befördert, eine an sich alltägliche Sache, die jedoch sein Leben völlig
umkrempelt. Hätte er mit dem nun erhöhten Lohn nicht eine Familie gründen
können, als dies noch sein Wunsch war? Und ist es vielleicht gar nicht zu
spät? Aber es ekelt ihn vor seiner gealterten Frau. Das erste
Kind war gestorben und damals waren beide froh darum, es passte nicht in die Lebensplanung,
hätte ein Dasein in Armut bedeutet. Jetzt scheint die Chance zur Revision
gekommen. Schneider wird immer mehr besessen von dem Gedanken, seine Frau
könnte schwanger sein, er wird wunderlich, nachlässig im Amt, seine frühzeitige
Pensionierung droht. Nur seine Frau und ihre Schwangerschaft, die er überall
schon angedeutet hat, können ihn noch retten. Er bereitet alles vor – und es
kommt zur Katastrophe. In den Geschichten der Nachkriegszeit reduziert Saiko solche
Obsessionen immer mehr hin zu Andeutungen. Die Vorgänge im Innern bleiben oft
unausgesprochen, die Texte sind voller Lücken, ohne bruchstückhaft zu wirken.
Doch wird es den Leser:innen überlassen, das Geschehen und seine Motivationen
zu ergründen, ein nicht immer einfaches, zumeist sogar anstrengendes
Unterfangen, weil dies beim Lesevergnügen akribische Aufmerksamkeit erfordert
und es darum nicht unbedingt zur entspannten Lektüre für ruhige Stunden macht.
Dafür sind allerdings auch die Themen nicht geeignet, meist sind es subtil
ausgetragene Beziehungskonflikte, dazu mehr und mehr auch die Verbrechen der
Truppen während des Krieges. Vermutlich hat auch die anspruchsvolle Erzählweise
dazu geführt, dass Saiko einerseits erst spät größere Anerkennung erfuhr und
heute größtenteils wieder nur noch eingefleischten Kenner:innen der
österreichischen Literatur ein Begriff ist.