Lektüremonat
Januar 2021
Dieter
Noll: Kippenberg.
Da
Dieter Noll (1927 bis 2008) mit „Die Abenteuer des Werner Holt“, insbesondere
dessen erstem Band, einen Bestsellererfolg in der DDR erzielen konnte und auch
der zweite Band sehr erfolgreich war, wurde sein neuester Roman „Kippenberg“
von vorneherein als literarisches Großereignis geplant. Die Erwartungen
erfüllten sich nicht. Und das kann einen wenig verwundern. Der Protagonist
Kippenberg, ein arrivierter Chemiker in einem Institut, das sein Schwiegervater
leitet, blickt zurück auf eine große Lebenskrise, die seine Karriere, seine Ehe
und vor allem sein Selbstbewusstsein und seine Ideale aufs Spiel setzt. Einerseits
liegt dies an einer jungen Frau, deren Gespräch er zufällig belauscht und die
kurz vor dem Abitur ihr Leben radikal ändern möchte, andererseits an einem
Großprojekt, das er einst aufgrund von Intrigen im Betrieb hatte
kompromisslerisch einstellen lassen und das nun große Relevanz bekommt, da
hiermit sogar dem Staat geholfen werden kann. Er entdeckt seine alten Ideale
wieder und kommt damit in Konflikt mit den verknöcherten Strukturen im Institut
und dessen Leitung. Um sich durchzusetzen, muss er große Risiken eingehen, doch
es droht ihm durch Beharren und Manipulationen der Gegenseite das Scheitern. Nun
muss man wohl gleich zu Beginn sagen, dass die Friktionen in einem
Chemieinstitut nicht unbedingt der Stoff sind, um Leser*innen in den Bann zu
ziehen. Zwar gestaltet Noll die Fachgespräche so, dass man sie ohne Vertiefung
– sprich Verwirrung oder Langeweile – überlesen kann, aber dies ist einer der
wenigen literarischen Kunstgriffe, der ihm gelingt. Ansonsten ist der Roman
schon handwerklich teilweise desaströs. Der Versuch, Kippenbergs Rationalität
auch in seiner Sprache widerzuspiegeln führt des öfteren zu geradezu
stilblütenartigen Sätzen, die ständige Selbstreflexion, bereits sehr und ungut
an die Neue Subjektivität erinnernd, führt noch mehr das literarische
Unvermögen Nolls vor, da er, noch dazu in penetranter Redundanz, jeweils vorher
erläutert, wie das Folgende zu verstehen ist – und dies nicht den Leser*innen
überlässt. Mit den immergleichen Worten wird uns gesagt, dass der folgende Satz
„salopp“ ist, dass Kippenberg irgendein starres Gesicht aufsetzt, dass er etwas
noch nicht erkennt etc. pp. Diese Bevormundung macht den Protagonisten auch nicht
sympathischer, noch dazu, da es Noll nicht gelingt, die genaue Problematik
Kippenbergs trotz dessen ständiger Selbstanklagen zu vermitteln, nicht auf
privater Ebene, und auch nicht auf betrieblicher, vor allem da Noll ihn
ansonsten als eine Art Tausendsassa darstellt. Mehr als ein geistiges
Schulterzucken kann einem die angeblich so existentielle Krise kaum entlocken.
Völlig nebenher läuft dann der Plot mit der jungen Frau, nebenbei die Tochter
seines ärgsten Rivalen, was jedoch scheinbar keine Rolle spielt. Was womöglich
an der holzschnittartigen Gestaltung der Figuren liegt, die wie nach dem Schreiblehrbuch
geformt sind, jeder bekommt eine spleenartige Eigenschaft, die dann unmotiviert
bei jedem Auftritt durchexerziert wird. Die Anbiedereien des linientreuen
Autoren Noll dürften dann auch die letzten geneigten Leser*innen abgeschreckt
haben. Kurzum: Die Enttäuschung nach den „Holt“-Romanen war groß – und dies
zurecht.
Christoph
Ransmayr: Cox oder der Lauf der Zeit.
Jeder
neue Roman von Christoph Ransmayr (geboren 1954), alles andere als ein
Vielschreiber, weckt große Erwartungen und verspricht Überraschungen. Und
Ransmayr enttäuscht nicht. Auf den gewohnt fulminanten Einstieg, eine grausame
Bestrafungsszene, folgt einmal mehr eine Geschichte, die weit mehr ist als
einfach nur eine gute Erzählung. Alistair Cox wird vom geheimnisumrankten
Kaiser von China gebeten, in sein Land zu kommen und dort Meisterwerke an Uhren
zu bauen, wie nur er es kann. Von persönlichen Schicksalsschlägen getroffen,
nimmt Cox den Auftrag schließlich an und reist mit drei Gehilfen ins
Ausländern kaum zugängliche Kaiserreich. Die Welt dort, in der alles dem
unergründlichen Willen des Kaisers untergeordnet ist, der sich nicht nur seinen Untertanen,
sondern auch seinen engsten Vertrauten so gut wie nie zeigt, ist eine ebenso
unverständliche wie prächtige. Doch sie ist, da sie von der Willkür des
Herrschers, einer gottgleichen Person, abhängt, zugleich – und
zurecht – vollkommen paranoid wie der Kaiser selbst. Wer gezwungen ist, eine Entscheidung
zu treffen, ist immer in Gefahr, dass diese dem Herrscher nicht gefällt und er
sie grausam bestraft. Cox und seine Gefährten bekommen alles Notwendige für
ihre Arbeiten zur Verfügung gestellt, in überreichem Maße, aber es kann
passieren, dass sie wochenlang überhaupt nichts vom Kaiserhof hören oder ihre
Aufträge mittendrin wechseln. Und diese sind nicht gerade einfach: Erst wünscht
der Kaiser das Zeiterleben eines Kindes als Uhr repräsentiert, dann das eines
zum Tode Verurteilten. In seiner Sommerresidenz aber kommt ihm ein neuer
Einfall: Er möchte eine Uhr, die die Ewigkeit darstellt. Ein perpetuum mobile. Cox
ist so fasziniert von diesem alten Mechanikertraum, dass er die Warnungen des
Dolmetschers, die Vollendung eines solchen Werkes sei zugleich eine Beleidigung
des Kaisers, des Herrschers über die Ewigkeit, die dieser nur mit dem Tod
bestrafen könnte, erst einmal in den Wind schlägt. Doch vor der Fertigstellung
wird ihm bewusst, dass der Übersetzer recht hat. Während der Kaiser sogar die
Jahreszeiten anhält, da die Uhr im Sommer in Gang gebracht werden soll, muss
Cox das Dilemma lösen. Eine philosophische Abhandlung über die Zeit, über das
Aufeinandertreffen von Weltbildern, eine Liebesgeschichte, politische Kritik
und zahlreiche Anspielungen, all das und ein bisschen mehr vereint Ransmayr mit
großer sprachlicher Kunst und bestätigt einmal mehr seinen Ruf als lebender
Klassiker.
Christiane
Landgrebe (Hg.): Bad Trips.
Kein
Buch über Drogen, sondern eine Sammlung von Reiseberichten, die nicht dem
üblichen Schema entspricht. An und für sich erwartet man ja von
Reiseschriftsteller*innen, dass sie einem mit Anekdoten angereicherte Berichte
über die Schönheiten, Kuriositäten und die Bevölkerung eines möglichst
exotischen Landes oder Landstriches versorgen, um uns dorthin zu locken oder uns
wenigstens in Gedanken hinversetzen zu lassen. Ganz anders der Ansatz in diesem
Buch: Schriftsteller*innen, Journalist*innen, Abenteurer*innen und Ethnolog*innen
berichten von Erlebnissen, die einen froh machen, wenn man die eigenen vier
Wände nicht verlassen muss. Umberto Eco kommt in Amsterdam seine Brieftasche
abhanden – Probleme gibt es jedoch erst, als er in Italien den Versuch
unternimmt, einen Ersatzführerschein zu erhalten. Roda Roda probiert den
angeblich komfortablen Expresszug von Lissabon nach Paris aus, wo er nie
ankommt, wofür er aber ein Vermögen bezahlt hat. Rolf Dieter Brinkmann kommt
zwar in Rom an, die Reise kann er allerdings nicht empfehlen. Paul Theroux
friert im Norden Chinas, Reinhold Messmer am Südpol, dagegen schwitzt Bruce
Chatwin in Benin, weil er dort inmitten eines Putsches für einen weißen Söldner
gehalten wird, Martha Gellhorn in Ostafrika, weil sie einen Roadtrip mit einem
jungen einheimischen Führer unternimmt, von dem sich herauistellt, dass er nie
in der Gegend war, nicht Autofahren kann und mehr Angst hat als sie. Diese
Reiseberichte und mehr sind genau die richtige Lektüre in Zeiten von
Reisebeschränkungen und Quarantäne.
Maurice
Blanchot: Thomas der Dunkle.
Von
den großen und einflussreichen Schriftstellern Frankreichs aus der Mitte des
vergangenen Jahrhunderts konnte sich Maurice Blanchot (1907-2003) im
Nachbarland östlich des Rheins nie durchsetzen. Zwar waren und sind viele
seiner Bücher, sowohl die literarischen als auch die theoretischen Werke, auf
deutsch und bei Verlagen mit Reichweite erhältlich, aber ein wahrnehmbarer
Einfluss blieb ihm ebenso verwehrt wie ein über einen kleinen Eingeweihtenkreis
hinausgehendes Lesepublikum. Mit der Neuausgabe seines wichtigsten Romans
„Thomas der Dunkle“, ursprünglich erschienen 1941, wird einmal mehr der Versuch
unternommen, dies zu ändern. Aber ob dies gelingt, darf als äußerst fraglich
gelten. Blanchots experimentelles Schreiben erlaubt keinen einfachen Zugang,
wer die ersten Zeilen des Textes für realistisches Erzählen hält, sieht sich
sehr schnell getäuscht. Das Dunkle, im Original „l’obsur“, also das
Undurchschaubare, Undurchdringliche, Nichtverstehbare ist auch das Grundmotiv
des Romans. Thomas und seine Freundin Anne, beide vom Tod beherrscht, nehmen
die Welt um sich herum als obskur wahr und wir folgen ihren Blicken und
Gedanken. Dies stellt höchste Ansprüche an die Leser*innen (und den Übersetzer),
auf höchstem sprachlichen Niveau. Blanchot
beeinflusste zahlreiche Autor*innen seines Heimatlandes, vor allem durch seine
kritischen Schriften, bei uns dagegen wird er wohl weiterhin ein Nischendasein
führen.
Lyon
Sprague de Camp: Vorgriff auf die Vergangenheit.
Vieles
ließe sich gegen diesen kurzen Science-Fiction-Roman von Lyon Sprague de Camp
(1907 bis 2000) anführen. So schien der vielseitige Autor oft keine große Lust
zu haben, Vorgänge ausführlich zu schildern oder zu erklären. Schon die
Ausgangskonstellation ist schnell und überdeutlich voraussehbar konstruiert,
als ein junger amerikanischer Archäologe mit einem alten italienischen
Professor durch Rom rast, der ihm nebenher seine reichlich abstruse Theorie von
Zeitsprüngen berichtet. Als der Amerikaner schließlich allein ist und das
Pantheon aufsuchen möchte, schlägt neben ihm ein Blitz ein und er erwacht im
antiken Rom. Allerdings nicht in der Zeit der großen Klassik, sondern im von
den Goten beherrschten Rom des 6. Jahrhunderts. Die Erzählung funktioniert also
nur mit diesem plumpen Griff und aufgrund der Tatsache, dass ausgerechnet
dieser Amerikaner – im Gegensatz zu 99,99% der Weltbevölkerung – halbwegs
Kenntnisse dieser Epoche aufweisen kann. Das Schöne daran ist, de Camps
Vorgehen erlaubt ein recht angenehmes und spannendes Lesen, gerade aufgrund
dieser – ihm sicher bewussten – Defizite. Martin Padway muss sich nun in dieser
nicht gerade sicheren Zeit zurechtfinden, schließlich bringt er kaum Nützliches
mit (Lirascheine, Armbanduhr etc.) außer seinen Lateinkenntnissen, die aber nur
bedingt hilfreich sind, da hier niemand mehr Ciceros schöne Vokabeln benutzt.
Dank seiner Kenntnisse kann Padway aber rudimentäre Erfindungen machen und
kommt so zu Geld, Einfluss und in den Verdacht der Zauberei. Getreu der Theorie
des italienischen Professors verändert er dadurch allerdings nicht seine eigene
Geschichte, sondern eröffnet eine neue Verzweigung im Zeitablauf. Und so kann
er dann auch bedenkenlos dafür sorgen, dass nicht die Oströmer, sondern die Goten
den hereinbrechenden Krieg gewinnen. Es scheint, dass die Phantasie der
Amerikaner, wie schon, wenn auch weitaus blutiger, bei Mark Twain in dessen
„Ein Yankee am Hofe des König Artus“ immer in Schlachtengemetzel enden müssen,
was etwas verstörend und enttäuschend ist. Ansonsten nette Unterhaltung über
eine Zeit, die von Felix Dahns „Ein Kampf um Rom“ abgesehen sonst eher selten
Schauplatz der Literatur geworden ist.
Mircea
Eliade: Nächte in Serampore.
Der
große rumänische Religionswissenschaftler und Mythenforscher Mircea Eliade
(1907 bis 1986) hat gewissermaßen sein umfangreiches Wissen angewandt und
nebenbei in Literatur umgewandelt, die natürlich alles andere als zufällig dem
Bereich der Phantastik entstammt. Drei Europäer, ein junger rumänischer
Student, ein niederländischer Bibliothekar und ein russischer Diplomat
schließen in Kalkutta Bekanntschaft, treffen sich von Zeit zu Zeit auf dem
Landgut eines englischen Jägers, um dort ausufernde Diskussionen über allerlei
Themen zu führen. Neben tiefgründigen intellektuellen Debatten widmet man sich
auch Klatsch und Tratsch, etwa über den indischen Universitätsprofessor Suren Bose,
über dessen Forschungen zu Tantra-Ritualen – nein, nicht irgendwelche
Sextechniken – allerlei dunkle Gerüchte umgehen und der mehrfach am Waldrand
gesehen wurde – was er jedoch abstreitet. Eines nachts, da die drei noch spät vom
Landhaus in die Stadt zurückwollen, kommt ihnen die Fahrt seltsam lang vor.
Dann hören sie auch noch die Hilferufe einer um ihr Leben flehenden Frau. Sie
begeben sich in den Wald, wo sie sich bald verirren, bis sie auf ein einsames
Haus stoßen, dessen Gastgeber sich seltsam zurückhaltend verhält, bis sie
erfahren, dass soeben seine Tochter ermordet aufgefunden wurde. Diskret ziehen
sie sich zurück und finden irgendwann zum Landhaus zurück. Dort wartet ihr
Chauffeur, der wie auch das restliche Personal behauptet, die drei hätten das
Haus nie verlassen. Ihre Nachforschungen ergeben schließlich, dass es weder
einen solchen Wald noch ein einsames Haus in der Nähe gibt. Aber einst gab: Die
Tochter des damaligen Besitzers war ermordet worden, vor gut 150 Jahren. Die
drei vermuten einen Illusionstrick Boses, dessen Ritualen sie zu nahe gekommen
seien, doch beweisen lässt sich all dies nicht. Die Bekanntschaft der drei
zerbricht. Gekonnte Erzählung Eliades, der hier gar nicht den Versuch
unternimmt, das Geschehen zu erklären oder sich in ausschweifende
Mystifikationen zu ergehen. Er beherrscht die Kunst des Ungesagten und
Angedeuteten, wie sie sehr gute phantastische Literatur ausmacht.
Günter
Eich: Die Mädchen von Viterbo.
Die
moderneren der unmittelbaren Nachkriegsschriftsteller, für die beispielhaft die
Gruppe 47 steht, widmeten sich – neben den althergebrachten Romanen – zwei
neuen Literaturformen, die damals, inspiriert vom angelsächsischen Raum,
hierdurch große Konjunktur hatten und heute, obwohl noch immer existent, heute kaum
mehr wahrgenommen werden: Kurzgeschichte und Hörspiel. Während
Hörbücher, also vorgelesene Texte einer anderen Literaturgattung, sich großer
Beliebtheit erfreuen, führt das Hörspiel seit langem ein Nischendasein in den
späten Stunden öffentlich-rechtlicher Kulturradioprogramme. Das war zu Zeiten
Günter Eichs (1907 bis 1972) noch anders, weshalb sein Hörspieltext sogar in
gedruckter Form vorliegt. Eich nutzt das Medium auch perfekt, wenn er Teile
seines Stücks in klaustrophobischen, noch dazu dunklen Räumen spielen lässt –
für die das visuelle Erleben irrelevant ist. Gabriele und ihr Großvater sind im
nationalsozialistischen Berlin in einer Wohnung versteckt, doch ihr gemeinsames
Zusammensein, ihr Ausgeliefertsein an das Wohlwollen der Besitzerin, ihre Aussichtslosigkeit
und eben ihr Eingesperrtsein nagen an ihren Nerven. Insbesondere Gabriele, 17
Jahre alt, schwankt zwischen Hoffnungslosigkeit und Trotz, Misstrauen und
Verzweiflung. Als ihr der Großvater von einem Zeitungsbericht über eine
verirrte Mädchengruppe aus Viterbo erzählt, die bei einem Ausflug nach Rom in
den Katakomben verschollen ist, versucht sie, das dortige Geschehen umzudeuten
und neu zu erzählen. Dank einer romantischen Liebesgeschichte werden die
Mädchen gerettet. Doch die Illusion hilft nicht über die Wirklichkeit hinweg: Die realen Mädchen entkommen den Katakomben nicht. Die Situation ist jedoch nur
bedingt vergleichbar, denn das Verlaufen in den Gängen war mutwillig
herbeigeführt, ein tödlicher Scherz. Gleich bleibt die Hilflosigkeit: Was kann
man zur eigenen Rettung beitragen? Am Ort bleiben, selbst den Ausweg suchen?
Die Erwachsenen – der Lehrer, der Großvater – fallen aus, sie verlieren sich in
Trostworten und Grübeln. Dann klopft es an die Tür der Wohnung, die Besitzerin
ist nicht da. Die Tür wird aufgebrochen.
Igor
Bauersima: norway.today.
Apropos
Texte, die kaum jemand noch liest. Dazu dürften, auch wenn sie des öfteren noch
gedruckt werden, auch zeitgenössische Theaterstücke gehören, die jedoch
natürlich auf andere – ihnen gemäße - Art durchaus noch ihr Publikum finden.
Häufig gespielt werden Stücke des Schweizer Autors Igor Bauersima (geboren
1964), wobei hier gleich anzumerken ist, dass diese zumeist in Zusammenarbeit
mit Réjane Desvognes entstehen, die zwar im, aber seltsamerweise auf dem Buch
nicht erwähnt wird. Die Beliebtheit bei den Theatern dürfte sicher auch daran
liegen, dass sich Bauersima und Desvognes moderner Mittel bedienen,
Videoprojektionen spielen – gewissermaßen sogar buchstäblich – in jedem der
Werke eine wichtige Rolle. Buchstäblich deshalb, weil es sich meistens um
alternative Szenarien handelt, eben Projektionen. In „norway.today“ verabreden
sich zwei Jugendliche zum gemeinsamen Selbstmord, einem Sprung in einen Fjord
in Norwegen. Die beiden kannten sich vorher nicht, sie verbindet ihr
gemeinsames Ziel: der Tod. Ob diese Bindung allerdings tatsächlich so stark
ist, gerät zunehmend in Frage. ‚futur de luxe‘ scheint erst ein typisches
Familienselbstzerstörungsdrama à la Reza zu sein, bei der sich die diversen
Mitglieder während eines Schabbathabends gegenseitig zerlegen, doch stellt sich
bald heraus, dass es um mehr geht als nur alte Geheimnisse, um viel mehr,
nämlich um die eigene Identität. Denn der Vater, ein brillanter Genetiker, hat
sich seine Familie als Experiment selbst konstruiert. ‚tattoo‘ schließlich
verschiebt die Realitäten um mehrere Ebenen, auch hier scheint es vordergründig
um eine Künstlergeschichte zu gehen, aber mehrfach gebrochen ist nichts, so wie
es scheint. Die Stücke leben von der Alltäglichkeit der Dialoge, die die
ernsten Diskurse dahinter verbergen, die wiederum durchaus satirische Züge
haben.
Walter
Kappacher: Der Fliegenpalast.
Überstürzt
hat Hugo von Hofmannsthal den Besuch bei seinem Freund Carl Jakob Burckhardt in
der Schweiz abgebrochen und ist nach Bad Fusch gefahren, Ferienort seiner
Kindheitstage. Doch nichts ist dort mehr, wie er es sich erhofft hat, um seine
Schreibblockade zu beenden. Die Hotels sind leicht heruntergekommen und nur
kaum von Gästen besucht. Der Glanz einstiger Tage vor dem Weltkrieg ist dahin,
noch dazu ist die allgemeine wirtschaftliche Lage im Jahr 1924 schlecht.
Hofmannsthal fühlt sich in jeder Hinsicht nicht wohl: Er leidet unter
Schwächeanfällen, die andererseits den einzigen Kontakt herstellen, an dem ihm
etwas liegt, mit dem jungen Arzt Krakauer, der allerdings wenig Zeit für ihn hat,
da er zur Betreuung einer exzentrischen Baronin abgeordnet ist. Der
Schriftsteller weiß ohnehin nicht, was er will, einerseits vermeidet er fast
jeglichen Kontakt, hat regelrecht Angst vor Begegnungen, beantwortet die
zahlreich eintreffenden Briefe kaum, will jederzeit aufbrechen und bleibt doch.
Er schwelgt in Erinnerungen an frühere Aufenthalte, Freunde und Bekannte, doch
sorgt dies nur für die Vergrößerung seiner Einsamkeit. Bei den wenigen kurzen
Treffen mit Krakauer dagegen sprudelt es geradezu aus ihm hinaus, doch kann der
zwar sehr interessierte, doch anderweitig viel zu beschäftigte Arzt keine echte
Alternative zu Hofmannsthals intellektuellen Sehnsüchten bieten. Auch
literarisch bleibt der Besuch in Fusch ein fruchtloses Vorhaben, lediglich ein
paar Notizen bringt Hofmannsthal zu Papier. Walter Kappachers (geboren 1938)
ruhiger Stil ist naturgemäß besonders geeignet, um diese an sich ereignislosen
Tage einzufangen, so dass ihm einmal mehr ein wunderbarer Roman gelingt, alles
andere als Germanistenliteratur nur (aber natürlich auch) für
Hofmannsthalenthusiast*innen.
György
Dragoman: Der weiße König.
‚Kollegen‘
kommen, um Dszàtàs Vater zu längeren Forschungsarbeiten abzuholen – dies glaubt er jedenfalls bei der irgendwie auch etwas seltsamen Verabschiedung. Noch
seltsamer wird es, als der Vater erstens nach längerer Zeit noch immer nicht
zurück ist und auch die Nachrichten von ihm spärlicher werden. Stattdessen
kommen die ‚Kollegen‘ zurück einem Hausbesuch – erst jetzt begreift der Junge,
dass der Vater keineswegs zu Forschungs-, sondern zu Zwangsarbeiten am
Donaukanal gefahren wurde, falls er, wie bewusst im Ungewissen gelassen wird,
überhaupt noch am Leben ist. Dszàtà erlebt eine Kindheit aus Angst und
alltäglicher Brutalität, gesteigert durch den Terror einer sozialistischen Überwachungsdiktatur
Mitte der 1980er Jahre. Der Umgang der Kinder miteinander, aber auch der
Erwachsenen, ist geprägt von Egoismus, in der der Einzelne sehr wenig zählt und
sie ständig Misshandlungen und Demütigungen ausgesetzt sind. Bandenkriege,
manipulierte Wettbewerbe, Machtspiele und Plünderungen sind das tägliche Leben
des Jungen. Das große Vermögen des Schriftstellers György Dragoman (geboren
1973), Angehöriger der ungarischen Minderheit in Rumänien, liegt darin, dank der konsequenten Einhaltung
der Perspektive des 12jährigen Jungen einen schmalen Grat zu halten zwischen
der unverhohlen geschilderten brutalen Welt, mit der er zurechtkommen muss, und
seiner trotzdem naiven Kindlichkeit, die diese für uns überhaupt erträglich,
aber auf einer tieferen Ebene natürlich umso schrecklicher macht. Indem er
einzelne Episoden aneinanderreiht, die in sich geschlossene Erlebnisse
schildern, vom Besuch beim mit der Mutter zerstrittenen Großvater, einem
ehemaligen Parteifunktionär, oder beim angeblich zur Hilfe bereiten
Botschafter, im geheimen Parteikino oder auf der Suche nach Gold im Steinbruch,
gelingt Dragoman ein Panorama, das immer auch das Groteske streift – gesteigert
schließlich im fulminanten Finale. Hinzukommt eine wunderbare, auch sehr gut
übersetzte rhythmische Sprache. Großartig.