Mittwoch, 10. Februar 2021

Lektüremonat Januar 2021.

Lektüremonat Januar 2021

 

Dieter Noll: Kippenberg.

Da Dieter Noll (1927 bis 2008) mit „Die Abenteuer des Werner Holt“, insbesondere dessen erstem Band, einen Bestsellererfolg in der DDR erzielen konnte und auch der zweite Band sehr erfolgreich war, wurde sein neuester Roman „Kippenberg“ von vorneherein als literarisches Großereignis geplant. Die Erwartungen erfüllten sich nicht. Und das kann einen wenig verwundern. Der Protagonist Kippenberg, ein arrivierter Chemiker in einem Institut, das sein Schwiegervater leitet, blickt zurück auf eine große Lebenskrise, die seine Karriere, seine Ehe und vor allem sein Selbstbewusstsein und seine Ideale aufs Spiel setzt. Einerseits liegt dies an einer jungen Frau, deren Gespräch er zufällig belauscht und die kurz vor dem Abitur ihr Leben radikal ändern möchte, andererseits an einem Großprojekt, das er einst aufgrund von Intrigen im Betrieb hatte kompromisslerisch einstellen lassen und das nun große Relevanz bekommt, da hiermit sogar dem Staat geholfen werden kann. Er entdeckt seine alten Ideale wieder und kommt damit in Konflikt mit den verknöcherten Strukturen im Institut und dessen Leitung. Um sich durchzusetzen, muss er große Risiken eingehen, doch es droht ihm durch Beharren und Manipulationen der Gegenseite das Scheitern. Nun muss man wohl gleich zu Beginn sagen, dass die Friktionen in einem Chemieinstitut nicht unbedingt der Stoff sind, um Leser*innen in den Bann zu ziehen. Zwar gestaltet Noll die Fachgespräche so, dass man sie ohne Vertiefung – sprich Verwirrung oder Langeweile – überlesen kann, aber dies ist einer der wenigen literarischen Kunstgriffe, der ihm gelingt. Ansonsten ist der Roman schon handwerklich teilweise desaströs. Der Versuch, Kippenbergs Rationalität auch in seiner Sprache widerzuspiegeln führt des öfteren zu geradezu stilblütenartigen Sätzen, die ständige Selbstreflexion, bereits sehr und ungut an die Neue Subjektivität erinnernd, führt noch mehr das literarische Unvermögen Nolls vor, da er, noch dazu in penetranter Redundanz, jeweils vorher erläutert, wie das Folgende zu verstehen ist – und dies nicht den Leser*innen überlässt. Mit den immergleichen Worten wird uns gesagt, dass der folgende Satz „salopp“ ist, dass Kippenberg irgendein starres Gesicht aufsetzt, dass er etwas noch nicht erkennt etc. pp. Diese Bevormundung macht den Protagonisten auch nicht sympathischer, noch dazu, da es Noll nicht gelingt, die genaue Problematik Kippenbergs trotz dessen ständiger Selbstanklagen zu vermitteln, nicht auf privater Ebene, und auch nicht auf betrieblicher, vor allem da Noll ihn ansonsten als eine Art Tausendsassa darstellt. Mehr als ein geistiges Schulterzucken kann einem die angeblich so existentielle Krise kaum entlocken. Völlig nebenher läuft dann der Plot mit der jungen Frau, nebenbei die Tochter seines ärgsten Rivalen, was jedoch scheinbar keine Rolle spielt. Was womöglich an der holzschnittartigen Gestaltung der Figuren liegt, die wie nach dem Schreiblehrbuch geformt sind, jeder bekommt eine spleenartige Eigenschaft, die dann unmotiviert bei jedem Auftritt durchexerziert wird. Die Anbiedereien des linientreuen Autoren Noll dürften dann auch die letzten geneigten Leser*innen abgeschreckt haben. Kurzum: Die Enttäuschung nach den „Holt“-Romanen war groß – und dies zurecht.   

 

Christoph Ransmayr: Cox oder der Lauf der Zeit.


Jeder neue Roman von Christoph Ransmayr (geboren 1954), alles andere als ein Vielschreiber, weckt große Erwartungen und verspricht Überraschungen. Und Ransmayr enttäuscht nicht. Auf den gewohnt fulminanten Einstieg, eine grausame Bestrafungsszene, folgt einmal mehr eine Geschichte, die weit mehr ist als einfach nur eine gute Erzählung. Alistair Cox wird vom geheimnisumrankten Kaiser von China gebeten, in sein Land zu kommen und dort Meisterwerke an Uhren zu bauen, wie nur er es kann. Von persönlichen Schicksalsschlägen getroffen, nimmt Cox den Auftrag schließlich an und reist mit drei Gehilfen ins Ausländern kaum zugängliche Kaiserreich. Die Welt dort, in der alles dem unergründlichen Willen des Kaisers untergeordnet ist, der sich nicht nur seinen Untertanen, sondern auch seinen engsten Vertrauten so gut wie nie zeigt, ist eine ebenso unverständliche wie prächtige. Doch sie ist, da sie von der Willkür des Herrschers, einer gottgleichen Person, abhängt, zugleich – und zurecht – vollkommen paranoid wie der Kaiser selbst. Wer gezwungen ist, eine Entscheidung zu treffen, ist immer in Gefahr, dass diese dem Herrscher nicht gefällt und er sie grausam bestraft. Cox und seine Gefährten bekommen alles Notwendige für ihre Arbeiten zur Verfügung gestellt, in überreichem Maße, aber es kann passieren, dass sie wochenlang überhaupt nichts vom Kaiserhof hören oder ihre Aufträge mittendrin wechseln. Und diese sind nicht gerade einfach: Erst wünscht der Kaiser das Zeiterleben eines Kindes als Uhr repräsentiert, dann das eines zum Tode Verurteilten. In seiner Sommerresidenz aber kommt ihm ein neuer Einfall: Er möchte eine Uhr, die die Ewigkeit darstellt. Ein perpetuum mobile. Cox ist so fasziniert von diesem alten Mechanikertraum, dass er die Warnungen des Dolmetschers, die Vollendung eines solchen Werkes sei zugleich eine Beleidigung des Kaisers, des Herrschers über die Ewigkeit, die dieser nur mit dem Tod bestrafen könnte, erst einmal in den Wind schlägt. Doch vor der Fertigstellung wird ihm bewusst, dass der Übersetzer recht hat. Während der Kaiser sogar die Jahreszeiten anhält, da die Uhr im Sommer in Gang gebracht werden soll, muss Cox das Dilemma lösen. Eine philosophische Abhandlung über die Zeit, über das Aufeinandertreffen von Weltbildern, eine Liebesgeschichte, politische Kritik und zahlreiche Anspielungen, all das und ein bisschen mehr vereint Ransmayr mit großer sprachlicher Kunst und bestätigt einmal mehr seinen Ruf als lebender Klassiker.  

 

Christiane Landgrebe (Hg.): Bad Trips.

Kein Buch über Drogen, sondern eine Sammlung von Reiseberichten, die nicht dem üblichen Schema entspricht. An und für sich erwartet man ja von Reiseschriftsteller*innen, dass sie einem mit Anekdoten angereicherte Berichte über die Schönheiten, Kuriositäten und die Bevölkerung eines möglichst exotischen Landes oder Landstriches versorgen, um uns dorthin zu locken oder uns wenigstens in Gedanken hinversetzen zu lassen. Ganz anders der Ansatz in diesem Buch: Schriftsteller*innen, Journalist*innen, Abenteurer*innen und Ethnolog*innen berichten von Erlebnissen, die einen froh machen, wenn man die eigenen vier Wände nicht verlassen muss. Umberto Eco kommt in Amsterdam seine Brieftasche abhanden – Probleme gibt es jedoch erst, als er in Italien den Versuch unternimmt, einen Ersatzführerschein zu erhalten. Roda Roda probiert den angeblich komfortablen Expresszug von Lissabon nach Paris aus, wo er nie ankommt, wofür er aber ein Vermögen bezahlt hat. Rolf Dieter Brinkmann kommt zwar in Rom an, die Reise kann er allerdings nicht empfehlen. Paul Theroux friert im Norden Chinas, Reinhold Messmer am Südpol, dagegen schwitzt Bruce Chatwin in Benin, weil er dort inmitten eines Putsches für einen weißen Söldner gehalten wird, Martha Gellhorn in Ostafrika, weil sie einen Roadtrip mit einem jungen einheimischen Führer unternimmt, von dem sich herauistellt, dass er nie in der Gegend war, nicht Autofahren kann und mehr Angst hat als sie. Diese Reiseberichte und mehr sind genau die richtige Lektüre in Zeiten von Reisebeschränkungen und Quarantäne. 

 


Maurice Blanchot: Thomas der Dunkle.

Von den großen und einflussreichen Schriftstellern Frankreichs aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts konnte sich Maurice Blanchot (1907-2003) im Nachbarland östlich des Rheins nie durchsetzen. Zwar waren und sind viele seiner Bücher, sowohl die literarischen als auch die theoretischen Werke, auf deutsch und bei Verlagen mit Reichweite erhältlich, aber ein wahrnehmbarer Einfluss blieb ihm ebenso verwehrt wie ein über einen kleinen Eingeweihtenkreis hinausgehendes Lesepublikum. Mit der Neuausgabe seines wichtigsten Romans „Thomas der Dunkle“, ursprünglich erschienen 1941, wird einmal mehr der Versuch unternommen, dies zu ändern. Aber ob dies gelingt, darf als äußerst fraglich gelten. Blanchots experimentelles Schreiben erlaubt keinen einfachen Zugang, wer die ersten Zeilen des Textes für realistisches Erzählen hält, sieht sich sehr schnell getäuscht. Das Dunkle, im Original „l’obsur“, also das Undurchschaubare, Undurchdringliche, Nichtverstehbare ist auch das Grundmotiv des Romans. Thomas und seine Freundin Anne, beide vom Tod beherrscht, nehmen die Welt um sich herum als obskur wahr und wir folgen ihren Blicken und Gedanken. Dies stellt höchste Ansprüche an die Leser*innen (und den Übersetzer), auf höchstem sprachlichen Niveau. Blanchot beeinflusste zahlreiche Autor*innen seines Heimatlandes, vor allem durch seine kritischen Schriften, bei uns dagegen wird er wohl weiterhin ein Nischendasein führen.

 

Lyon Sprague de Camp: Vorgriff auf die Vergangenheit.  

Vieles ließe sich gegen diesen kurzen Science-Fiction-Roman von Lyon Sprague de Camp (1907 bis 2000) anführen. So schien der vielseitige Autor oft keine große Lust zu haben, Vorgänge ausführlich zu schildern oder zu erklären. Schon die Ausgangskonstellation ist schnell und überdeutlich voraussehbar konstruiert, als ein junger amerikanischer Archäologe mit einem alten italienischen Professor durch Rom rast, der ihm nebenher seine reichlich abstruse Theorie von Zeitsprüngen berichtet. Als der Amerikaner schließlich allein ist und das Pantheon aufsuchen möchte, schlägt neben ihm ein Blitz ein und er erwacht im antiken Rom. Allerdings nicht in der Zeit der großen Klassik, sondern im von den Goten beherrschten Rom des 6. Jahrhunderts. Die Erzählung funktioniert also nur mit diesem plumpen Griff und aufgrund der Tatsache, dass ausgerechnet dieser Amerikaner – im Gegensatz zu 99,99% der Weltbevölkerung – halbwegs Kenntnisse dieser Epoche aufweisen kann. Das Schöne daran ist, de Camps Vorgehen erlaubt ein recht angenehmes und spannendes Lesen, gerade aufgrund dieser – ihm sicher bewussten – Defizite. Martin Padway muss sich nun in dieser nicht gerade sicheren Zeit zurechtfinden, schließlich bringt er kaum Nützliches mit (Lirascheine, Armbanduhr etc.) außer seinen Lateinkenntnissen, die aber nur bedingt hilfreich sind, da hier niemand mehr Ciceros schöne Vokabeln benutzt. Dank seiner Kenntnisse kann Padway aber rudimentäre Erfindungen machen und kommt so zu Geld, Einfluss und in den Verdacht der Zauberei. Getreu der Theorie des italienischen Professors verändert er dadurch allerdings nicht seine eigene Geschichte, sondern eröffnet eine neue Verzweigung im Zeitablauf. Und so kann er dann auch bedenkenlos dafür sorgen, dass nicht die Oströmer, sondern die Goten den hereinbrechenden Krieg gewinnen. Es scheint, dass die Phantasie der Amerikaner, wie schon, wenn auch weitaus blutiger, bei Mark Twain in dessen „Ein Yankee am Hofe des König Artus“ immer in Schlachtengemetzel enden müssen, was etwas verstörend und enttäuschend ist. Ansonsten nette Unterhaltung über eine Zeit, die von Felix Dahns „Ein Kampf um Rom“ abgesehen sonst eher selten Schauplatz der Literatur geworden ist.   

 

Mircea Eliade: Nächte in Serampore.

Der große rumänische Religionswissenschaftler und Mythenforscher Mircea Eliade (1907 bis 1986) hat gewissermaßen sein umfangreiches Wissen angewandt und nebenbei in Literatur umgewandelt, die natürlich alles andere als zufällig dem Bereich der Phantastik entstammt. Drei Europäer, ein junger rumänischer Student, ein niederländischer Bibliothekar und ein russischer Diplomat schließen in Kalkutta Bekanntschaft, treffen sich von Zeit zu Zeit auf dem Landgut eines englischen Jägers, um dort ausufernde Diskussionen über allerlei Themen zu führen. Neben tiefgründigen intellektuellen Debatten widmet man sich auch Klatsch und Tratsch, etwa über den indischen Universitätsprofessor Suren Bose, über dessen Forschungen zu Tantra-Ritualen – nein, nicht irgendwelche Sextechniken – allerlei dunkle Gerüchte umgehen und der mehrfach am Waldrand gesehen wurde – was er jedoch abstreitet. Eines nachts, da die drei noch spät vom Landhaus in die Stadt zurückwollen, kommt ihnen die Fahrt seltsam lang vor. Dann hören sie auch noch die Hilferufe einer um ihr Leben flehenden Frau. Sie begeben sich in den Wald, wo sie sich bald verirren, bis sie auf ein einsames Haus stoßen, dessen Gastgeber sich seltsam zurückhaltend verhält, bis sie erfahren, dass soeben seine Tochter ermordet aufgefunden wurde. Diskret ziehen sie sich zurück und finden irgendwann zum Landhaus zurück. Dort wartet ihr Chauffeur, der wie auch das restliche Personal behauptet, die drei hätten das Haus nie verlassen. Ihre Nachforschungen ergeben schließlich, dass es weder einen solchen Wald noch ein einsames Haus in der Nähe gibt. Aber einst gab: Die Tochter des damaligen Besitzers war ermordet worden, vor gut 150 Jahren. Die drei vermuten einen Illusionstrick Boses, dessen Ritualen sie zu nahe gekommen seien, doch beweisen lässt sich all dies nicht. Die Bekanntschaft der drei zerbricht. Gekonnte Erzählung Eliades, der hier gar nicht den Versuch unternimmt, das Geschehen zu erklären oder sich in ausschweifende Mystifikationen zu ergehen. Er beherrscht die Kunst des Ungesagten und Angedeuteten, wie sie sehr gute phantastische Literatur ausmacht.

 

Günter Eich: Die Mädchen von Viterbo.

Die moderneren der unmittelbaren Nachkriegsschriftsteller, für die beispielhaft die Gruppe 47 steht, widmeten sich – neben den althergebrachten Romanen – zwei neuen Literaturformen, die damals, inspiriert vom angelsächsischen Raum, hierdurch große Konjunktur hatten und heute, obwohl noch immer existent, heute kaum mehr wahrgenommen werden: Kurzgeschichte und Hörspiel. Während Hörbücher, also vorgelesene Texte einer anderen Literaturgattung, sich großer Beliebtheit erfreuen, führt das Hörspiel seit langem ein Nischendasein in den späten Stunden öffentlich-rechtlicher Kulturradioprogramme. Das war zu Zeiten Günter Eichs (1907 bis 1972) noch anders, weshalb sein Hörspieltext sogar in gedruckter Form vorliegt. Eich nutzt das Medium auch perfekt, wenn er Teile seines Stücks in klaustrophobischen, noch dazu dunklen Räumen spielen lässt – für die das visuelle Erleben irrelevant ist. Gabriele und ihr Großvater sind im nationalsozialistischen Berlin in einer Wohnung versteckt, doch ihr gemeinsames Zusammensein, ihr Ausgeliefertsein an das Wohlwollen der Besitzerin, ihre Aussichtslosigkeit und eben ihr Eingesperrtsein nagen an ihren Nerven. Insbesondere Gabriele, 17 Jahre alt, schwankt zwischen Hoffnungslosigkeit und Trotz, Misstrauen und Verzweiflung. Als ihr der Großvater von einem Zeitungsbericht über eine verirrte Mädchengruppe aus Viterbo erzählt, die bei einem Ausflug nach Rom in den Katakomben verschollen ist, versucht sie, das dortige Geschehen umzudeuten und neu zu erzählen. Dank einer romantischen Liebesgeschichte werden die Mädchen gerettet. Doch die Illusion hilft nicht über die Wirklichkeit hinweg: Die realen Mädchen entkommen den Katakomben nicht. Die Situation ist jedoch nur bedingt vergleichbar, denn das Verlaufen in den Gängen war mutwillig herbeigeführt, ein tödlicher Scherz. Gleich bleibt die Hilflosigkeit: Was kann man zur eigenen Rettung beitragen? Am Ort bleiben, selbst den Ausweg suchen? Die Erwachsenen – der Lehrer, der Großvater – fallen aus, sie verlieren sich in Trostworten und Grübeln. Dann klopft es an die Tür der Wohnung, die Besitzerin ist nicht da. Die Tür wird aufgebrochen.

 

Igor Bauersima: norway.today.

Apropos Texte, die kaum jemand noch liest. Dazu dürften, auch wenn sie des öfteren noch gedruckt werden, auch zeitgenössische Theaterstücke gehören, die jedoch natürlich auf andere – ihnen gemäße - Art durchaus noch ihr Publikum finden. Häufig gespielt werden Stücke des Schweizer Autors Igor Bauersima (geboren 1964), wobei hier gleich anzumerken ist, dass diese zumeist in Zusammenarbeit mit Réjane Desvognes entstehen, die zwar im, aber seltsamerweise auf dem Buch nicht erwähnt wird. Die Beliebtheit bei den Theatern dürfte sicher auch daran liegen, dass sich Bauersima und Desvognes moderner Mittel bedienen, Videoprojektionen spielen – gewissermaßen sogar buchstäblich – in jedem der Werke eine wichtige Rolle. Buchstäblich deshalb, weil es sich meistens um alternative Szenarien handelt, eben Projektionen. In „norway.today“ verabreden sich zwei Jugendliche zum gemeinsamen Selbstmord, einem Sprung in einen Fjord in Norwegen. Die beiden kannten sich vorher nicht, sie verbindet ihr gemeinsames Ziel: der Tod. Ob diese Bindung allerdings tatsächlich so stark ist, gerät zunehmend in Frage. ‚futur de luxe‘ scheint erst ein typisches Familienselbstzerstörungsdrama à la Reza zu sein, bei der sich die diversen Mitglieder während eines Schabbathabends gegenseitig zerlegen, doch stellt sich bald heraus, dass es um mehr geht als nur alte Geheimnisse, um viel mehr, nämlich um die eigene Identität. Denn der Vater, ein brillanter Genetiker, hat sich seine Familie als Experiment selbst konstruiert. ‚tattoo‘ schließlich verschiebt die Realitäten um mehrere Ebenen, auch hier scheint es vordergründig um eine Künstlergeschichte zu gehen, aber mehrfach gebrochen ist nichts, so wie es scheint. Die Stücke leben von der Alltäglichkeit der Dialoge, die die ernsten Diskurse dahinter verbergen, die wiederum durchaus satirische Züge haben.     

 

Walter Kappacher: Der Fliegenpalast.


Überstürzt hat Hugo von Hofmannsthal den Besuch bei seinem Freund Carl Jakob Burckhardt in der Schweiz abgebrochen und ist nach Bad Fusch gefahren, Ferienort seiner Kindheitstage. Doch nichts ist dort mehr, wie er es sich erhofft hat, um seine Schreibblockade zu beenden. Die Hotels sind leicht heruntergekommen und nur kaum von Gästen besucht. Der Glanz einstiger Tage vor dem Weltkrieg ist dahin, noch dazu ist die allgemeine wirtschaftliche Lage im Jahr 1924 schlecht. Hofmannsthal fühlt sich in jeder Hinsicht nicht wohl: Er leidet unter Schwächeanfällen, die andererseits den einzigen Kontakt herstellen, an dem ihm etwas liegt, mit dem jungen Arzt Krakauer, der allerdings wenig Zeit für ihn hat, da er zur Betreuung einer exzentrischen Baronin abgeordnet ist. Der Schriftsteller weiß ohnehin nicht, was er will, einerseits vermeidet er fast jeglichen Kontakt, hat regelrecht Angst vor Begegnungen, beantwortet die zahlreich eintreffenden Briefe kaum, will jederzeit aufbrechen und bleibt doch. Er schwelgt in Erinnerungen an frühere Aufenthalte, Freunde und Bekannte, doch sorgt dies nur für die Vergrößerung seiner Einsamkeit. Bei den wenigen kurzen Treffen mit Krakauer dagegen sprudelt es geradezu aus ihm hinaus, doch kann der zwar sehr interessierte, doch anderweitig viel zu beschäftigte Arzt keine echte Alternative zu Hofmannsthals intellektuellen Sehnsüchten bieten. Auch literarisch bleibt der Besuch in Fusch ein fruchtloses Vorhaben, lediglich ein paar Notizen bringt Hofmannsthal zu Papier. Walter Kappachers (geboren 1938) ruhiger Stil ist naturgemäß besonders geeignet, um diese an sich ereignislosen Tage einzufangen, so dass ihm einmal mehr ein wunderbarer Roman gelingt, alles andere als Germanistenliteratur nur (aber natürlich auch) für Hofmannsthalenthusiast*innen. 

 


György Dragoman: Der weiße König.

‚Kollegen‘ kommen, um Dszàtàs Vater zu längeren Forschungsarbeiten abzuholen – dies glaubt er jedenfalls bei der irgendwie auch etwas seltsamen Verabschiedung. Noch seltsamer wird es, als der Vater erstens nach längerer Zeit noch immer nicht zurück ist und auch die Nachrichten von ihm spärlicher werden. Stattdessen kommen die ‚Kollegen‘ zurück einem Hausbesuch – erst jetzt begreift der Junge, dass der Vater keineswegs zu Forschungs-, sondern zu Zwangsarbeiten am Donaukanal gefahren wurde, falls er, wie bewusst im Ungewissen gelassen wird, überhaupt noch am Leben ist. Dszàtà erlebt eine Kindheit aus Angst und alltäglicher Brutalität, gesteigert durch den Terror einer sozialistischen Überwachungsdiktatur Mitte der 1980er Jahre. Der Umgang der Kinder miteinander, aber auch der Erwachsenen, ist geprägt von Egoismus, in der der Einzelne sehr wenig zählt und sie ständig Misshandlungen und Demütigungen ausgesetzt sind. Bandenkriege, manipulierte Wettbewerbe, Machtspiele und Plünderungen sind das tägliche Leben des Jungen. Das große Vermögen des Schriftstellers György Dragoman (geboren 1973), Angehöriger der ungarischen Minderheit in Rumänien,  liegt darin, dank der konsequenten Einhaltung der Perspektive des 12jährigen Jungen einen schmalen Grat zu halten zwischen der unverhohlen geschilderten brutalen Welt, mit der er zurechtkommen muss, und seiner trotzdem naiven Kindlichkeit, die diese für uns überhaupt erträglich, aber auf einer tieferen Ebene natürlich umso schrecklicher macht. Indem er einzelne Episoden aneinanderreiht, die in sich geschlossene Erlebnisse schildern, vom Besuch beim mit der Mutter zerstrittenen Großvater, einem ehemaligen Parteifunktionär, oder beim angeblich zur Hilfe bereiten Botschafter, im geheimen Parteikino oder auf der Suche nach Gold im Steinbruch, gelingt Dragoman ein Panorama, das immer auch das Groteske streift – gesteigert schließlich im fulminanten Finale. Hinzukommt eine wunderbare, auch sehr gut übersetzte rhythmische Sprache. Großartig.

                                                                                                                                                                                            

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