Guillermo Cabrera Infante: Drei traurige Tiger. st 2846
Wenn du Literatur sagst, mein Teuerster, dann versteh ich darunter immer Literatur. Das heißt, eine andere Form von Geschichte (514), so einer der drei traurigen Tiger zu seinem Freund, ebenfalls Nachtschwärmer im Havanna des Jahres 1958, der damit eine, wie so oft in diesem Roman des Kubaners Guillermo Cabrera Infante (1929-2005) reichlich doppeldeutige Aussage macht, die mit den Bedeutungen der Worte spielt – hier Literatur und Geschichte. Natürlich lässt sich der Satz auch auf den Text beziehen, der erst 1987, zwanzig Jahre nach seiner Veröffentlichung, in deutscher Übersetzung erschien – immerhin, muss man zugestehen, war diese sicher eine nicht zu unterschätzende Herausforderung, wie noch zu zeigen sein wird. Ist Infante doch vermutlich der konsequenteste Vertreter der Postmoderne Lateinamerikas.
Leserinnen und Leser werden noch vor dem Romananfang, und auch hier wiederum mehrfach, gewarnt: bereits einleitend fallen die Worte Jede Ähnlichkeit zwischen Literatur und Geschichte ist rein zufällig (6), noch bedeutsamer aber ist die Äußerung zur Sprache, die Schrift ist lediglich ein Versuch, die menschliche Stimme sozusagen im Flug zu erhaschen (6). Auf die Schrift – und Sprache – allein verlässt sich Infante ohnehin nicht, beziehungsweise wird er von ihr verlassen, das Erhaschen gelingt nicht immer. So finden sich in dem Text komplett geschwärzte Seiten, wenn jemand, der aus der Ich-Perspektive berichtete, stirbt, ein Ereignis, das eben nicht vermittelt werden kann, dann merkte ich, dass der Tod keiner der uns geläufigen Scherze ist, dass für ihn andere Kombinatorik gilt (256). Wo es nichts zu sagen gibt, wird auch nichts gesagt: dann bleiben die Seiten weiß und leer. Und wie wenig verlässlich Beschreibungen ohnehin sind, zeigt die Geschichte des Amerikaners Mr. Campbell über seinen Kubabesuch, die in mehreren Versionen vorkommt, als eigener Reisebericht, aus der – völlig anderen – Sicht seiner Frau, die ihn der vermeintlichen Lügen überführt, als stilisierte Erzählung Campbells, ebenfalls mit den Korrekturen seiner Gattin, letztere noch dazu in zwei lustig grausamen Übersetzungen – gut 250 Seiten später (525) folgt schließlich noch eine Pointe, die jenen scheinbaren Reisebericht vollends karikiert.
Der Roman wird – man muss gar nicht mehr gesondert erwähnen, dass dies mit mehrfacher Ironie geschieht – mit der Rede eines Conferenciers in einem der zahlreichen Clubs eröffnet, die für die drei Protagonisten so eine große Rolle spielen; nebenbei fällt hier bereits ein Hinweis auf die vermeintlichen amerikanischen Besucher. Präsentiert werde seine neue Revue (11 – „neue“ im Original kursiv), auch hierin kann man einen Rezeptionshinweis sehen, auch weil einzelne Abschnitte mit Nummern versehen sind – allerdings sind es eher die handlungsorientierten, nicht die Einschübe, die viel eher an literarische Spielereien und damit Vorführstücke erinnern. Was nicht heißt, dass diese für sich stehen würden, unangebunden wie in einer Nummernrevue, Infante verknüpft sie oft subtil und auf verblüffende Weise mit der, wenn man so möchte, realistischen Ebene der Handlung. Man denke nur an die zahlreichen Pastiches, also stilistischen Nachahmungen der Größen der kubanischen Literatur seit José Martí, als jeweils eigene Version von der Ermordung Trotzkis, die scheinbar unvermittelt im Roman auftauchen. Scheinbar. Doch in Infantes Roman ist eben nur wenig, wie es zu sein scheint, wobei hier nicht der vielzitierte magische Realismus gepflegt wird, sondern vielmehr eine sprachliche Magie, aber für mich war es ja auch wie ein Traum. Nur nicht der Traum, den ich mir erträumt hatte (134).
Schließlich spielt sich das Leben der drei ziellosen Sprachkünstler ja des nachts und selten nüchtern ab. Es ging einfach nur darum, so zu tun, als würden wir nicht arbeiten, denn nur dann gehört man in Havanna, Kuba, zu den besseren Leuten, was Cué und ich gerne gewesen wären, sein wollten, zu sein versuchten – und immer hatten wir Zeit, über die Zeit zu reden (347). Hinter diesem Müßiggang steckt jedoch auch eine Furcht vor dem Ernst, dem unsicheren Grund, auf dem sich die Existenz der drei bewegt, die politische Lage, nur unterschwellig angedeutet in der Diktatur Batistas, familiäres Leid, der Tod eines Freundes, überdeckt durch die Sehnsucht nach Frauen, Vergnügen und vor allem durch das Fliehen in die Möglichkeiten der Sprache. In den letzten Kapiteln, einem ebenso amüsanten wie geistreichen Sammelsurium von Wortspielereien – und hier liegt eine der großartigen Leistungen des Übersetzers vor – verunmöglicht diese ständige Ironisierung jedweder Aussage die Möglichkeit der Kommunikation. Wenn der Schlaf der Vernunft Ungeheuer gebiert, was gebiert dann der Schlaf der Unvernunft? (186). Es sei daran erinnert: es sind drei traurige Tiger, die hier durch die Nächte schleichen. Und die lieber ein Bild – ein falsches Bild – bewahren, als sich der Wahrheit zu fügen: ich wollte nicht noch einmal hinschauen, um mir die gute / schlechte Erinnerung zu bewahren, in der ich ihn immer noch habe: es ist besser, das Paradies wegen eines roten, trügerischen Apfels zu verlieren als wegen der trockenen, untrüglichen Frucht der Erkenntnis (177). Lieber Unvernunft und Selbstbetrug also, betrieben mit Hilfe der Sprache. Nicht umsonst finden sich unter den Dreien ein Schauspieler und ein sich auf die Wirkung seiner Stimme verlassender Radiosprecher. Dazu der Wortkünstler Bustrófedon, der aus jedem Wort ein ganzes Wörterbuch machen (345) kann und ihm damit gleichzeitig jedweden Sinngehalt raubt.
Flucht aus der tristen Realität durch die Sprache, geschult an den Größen der Literatur, aber auch dem moderneren Medium, dem Film, der noch mehr für das Eskapistische steht: Arkadien, der Himmel auf Erden, das Heilmittel gegen alle Schmerzen des Heranwachsens: das Kino (38). Gleichzeitig wissend, dass dies nicht funktioniert. Gesucht wird ein Kontradiktor (498) des Lebens, gefunden wird er nicht, zu groß ist die Auswahl, aber auch zu beliebig. Man begeistert sich an der eigenen Kreativität und bietet damit den Leserinnen und Lesern sicher einige der lustigsten Seiten der Weltliteratur, ohne dabei zu verhehlen, dass es eben nur dies ist: Literatur. Eine Geschichte. Mit der man auch äußerst respektlos umgehen kann. So wie mit den eigenen Vorbildern, womit sich wieder einmal die Ebenen des Romans durchmischen, wo einmal mehr vieles doppeldeutig bleibt, Vernunft und Unvernunft der Leserinnen und Leser überlassen. Dass sich vor zwei Wochen wieder einmal der Tag gejährt hatte, an dem die mollige Bloom auf dem Nachttopf saß und in blumigem Moll jenen endlosen stream of consciousness abseilte, jenes Morgenei legte, das zu einem Markstein der Literatur werden sollte (172). So steht es geschrieben in einem Markstein der lateinamerikanischen Literatur.
Vorgänger (23): Franz Kafka - Der Prozess.
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