Mittwoch, 25. November 2020

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (23) - Franz Kafka: Der Prozeß.

 

Franz Kafka: Der Prozeß. st 2837

 

‚Kafkas Prozeß’ ist fast eine stehende Wendung, ein Markenzeichen für einen Roman der Superlativen und der Widersprüche. Er dürfte das international bekannteste Werk der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts sein, was gut passt für einen Roman, der von einem Prager Juden altösterreichischer Herkunft verfasst wurde. Gleichzeitig ist der Text unvollständig, ungeordnet und unvollendet, belegt mit der Anweisung, ihn nie zu veröffentlichen, sondern zu vernichten. Dies hat wiederum, neben Sprache und Inhalt, dafür gesorgt, dass er zu einem der meist interpretierten literarischen Erzeugnisse überhaupt wurde, die Sekundärliteratur füllt inzwischen wahrscheinlich fast schon Regalkilometer. Kafka ging in die Populärkultur ein, wurde sogar zum Adjektiv und zum „offenen Kunstwerk“ per se, an dem noch kein Literaturwissenschaftler vorbeigehen konnte, ohne etwas zu ihm zu sagen (siehe dieser Beitrag...). Kein Wunder, die Wirkung des Roman setzt schließlich schlagartig mit dem ersten, dem nicht minder berühmten Satz ein: Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hatte, wurde er eines Morgens verhaftet (7).

Das Faszinierende liegt unter anderem auch darin, dass der Text sich daraufhin nicht nur nicht erwartungsgemäß – etwa in Richtung eines Kriminalfalles – entwickelt, sondern genaugenommen so gut wie gar nicht mehr. Auf K.s verständliche, uns Leser*innen ebenso brennend interessierende Frage „Und warum denn?“ (9) erhalten wir wie er nie eine Antwort. Unsere vorgeprägten Leseerwartungen werden wie K.s Vertrauen in die etablierte Ordnung, K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht (10) ad absurdum geführt, ins scheinbar Leere, Frustrierende, Obskure und Undurchschaubare. Weil wir womöglich, wie K. von falschen Voraussetzungen aus- und damit an den Prozess – des Lesens – völlig falsch herangehen. Letztlich kommt es uns fast wie ein Teil der Konstruktion des Textes vor, dass er Lücken hat, dass nie klar ist, ob die Herausgeber die Kapitel richtig angeordnet haben, dass wir zwar das Ende kennen, aber nicht, wie es dazu kam. Als würde die Überlieferungsgeschichte den Inhalt selbst noch einmal kommentieren. Textedition als Metaebene.

Man merkt schnell, zu welchen Interpretationsverwirrungen der Roman führen kann. Auch hier geht es einem, durchaus verständlicherweise, erneut wie K., der schon vom ersten Moment an eine gewisse – nachvollziehbare – Paranoia entwickelt. Er bemerkt die Nachbarin im Fenster gegenüber, die ihn mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete (7), später scheinen überhaupt alle Straßenbewohner nur damit beschäftigt, ihn zu beobachten, und über ihn ein großes Gelächter (40) anzustimmen, was zu der Frage führt, wie glaubwürdig K. eigentlich ist, generell oder zumindest ab dem Zeitpunkt, wo er sich mit der ihm unergründbaren Anklage gegenüber sieht, die auch ihn dazu veranlassen muss, ständig Hypothesen aufzustellen, die nie verlässlich sind, da sie weder bestätigt noch widerlegt werden können. Dementsprechend erratisch ist auch sein Verhalten. Es war natürlich kein Grund, sich deshalb zu ängstigen, er erhielt die Niederlage nur deshalb, weil er den Kampf aufsuchte. Wenn er zu Hause bliebe und sein gewohntes Leben führte, war er jedem dieser Leute tausendfach überlegen und konnte jeden mit einem Fußtritt von seinem Wege räumen (64), sich einfach nur zu fügen gibt K., der es immerhin gewohnt ist, als Prokurist einer Bank in einer Hierarchie recht weit oben zu stehen, nach anfänglichen eher unterwürfigen Versuchen des Entgegenkommens bald auf. Sein zwischenzeitlich sehr selbstbewusstes, vermeintlich einschüchterndes Auftreten zeitigt aber ebenso wenig Erfolg wie das Ignorieren des irgendwo im Hintergrund weiterlaufenden Verfahrens und das Einschalten angeblicher Helfer, vom Advokaten bis zum Gerichtsmaler, einem Porträtisten der Richter. K. wird sich über seine Mittel nie im Klaren sein, forsches Benehmen bringt ebenso wenig ein wie demütiges Sichfügen, auch weil nie feststellbar ist, gegenüber wem man sich so verhalten sollte, da er über die unteren Ebenen der Behörde scheinbar nie hinausgelangt. Verdrängen und sich dem Alltag oder noch besser, den schönen Dingen des Lebens wie Frauen, von denen sich K. allzu leicht ablenken lässt, widmen oder auf den Prozess konzentrieren, der unterschwellig immer weitere Kreise zieht, von dem jeder schon gehört zu haben scheint, was im Umkehrschluss dazu führt, dass K. seine Arbeit vernachlässigt und hier an Boden verliert. Es ist einerlei. „Sieh, Willem, er gibt zu, er kenne das Gesetz nicht, und behauptet gleichzeitig, schuldlos zu sein“ (12), diesem paradoxen Teufelskreis entkommt K. nicht mehr. Und so ist es nur konsequent, dass er später darüber aufgeklärt wird, dass es an und für sich so etwas wie einen völligen Freispruch überhaupt nicht gibt, selbst wenn man freigesprochen wurde, es gibt bei Gericht kein Vergessen (165). Als Text im Text hat Kafka dies in der vom Priester vorgetragenen nicht weniger bekannten Türhüter-Parabel noch einmal ausgeführt und gleich einmal gut dialektisch jeweils gegenläufig interpretieren lassen. Sein Fazit: Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst (229). Dies dürfte K. nicht weiterhelfen, der Prozess wäre nicht der Prozess, wenn er nicht mehrere diesem widersprechende Hinweise erhalten hätte, unsere Behörde, so einer der Wächter gleich zu Beginn, wird, wie es im Gesetz heißt, von der Schuld angezogen (12), was Schuld – als Vor-Urteil – bereits voraussetzt und deshalb durchaus logisch erscheinen lässt, dass es nie zu einem endgültigen Freispruch kommen kann. es gibt darin keinen Irrtum (12).


Das einzig Richtige sei, sich mit den vorhandenen Verhältnissen abzufinden (126). Man wird zurecht wenig Vertrauen haben in einen Anwalt, der einem solches rät. Und man wird zurecht wenig Vertrauen in einen Literaturwissenschaftler haben, der Kafka Kafka sein lässt. Obwohl auch hier der Satz Immer gab es Fortschritte, niemals aber konnte die Art dieser Fortschritte mitgeteilt werden (129f.) nicht ganz übertrieben erscheint. Die Fülle an Interpretationen, es wurde schon erwähnt, ist mannigfaltig, von eher Oberflächlichem wie einer Kritik an den Behörden, der Bürokratie, allgemein oder zu k.u.k.-Zeiten, einer generellen Kritik an der Undurchschaubarkeit einer verwirrenden Moderne, bis hin zu selbst schon recht obskuren Deutungen mithilfe kabbalistischer Mystik, von den ganz großen Weltaussagen bis hin zur Detailversessenheit oder rein technischen Fragen wie Satzanordnungen, Streichungen und der mühseligen Identifizierung Prager Geographie im Text. Recht amüsant ist eine jüngere Richtung – die sich allerdings auf Kafkas angebliche Art des Vortragens bezieht – den Text als eher parodistisch-ironisch zu sehen. Anzeichen hierfür sind gar nicht selten, man denke an K.s interessierten Blick in die Gesetzesbücher des Untersuchungsrichters, die diese als Schundromane à la Die Plagen, welche Grete von ihrem Manne Hans zu erleiden hatte (57), durchsetzt mit obszönen Zeichnungen, entlarven. Und ist folgendes nicht ein augenzwinkernd deutlicher Kommentar zum eigenen Werk: Wenn er den Italiener nicht gleich im Anfang verstehe, so müsse er sich dadurch nicht verblüffen lassen, das Verständnis komme sehr rasch, und wenn er auch viel überhaupt nicht verstehen sollte, so sei es auch nicht so schlimm, denn für den Italiener sei es gar nicht so wichtig, verstanden zu werden (209). Naturgemäß bleibt der Widerspruch nicht aus. Eine parodistische Lesart müsste, sollte sie nicht in reinen Zynismus verfallen, das Romanende komplett ignorieren. Ein Jahr nach Prozessbeginn, wieder an seinem Geburtstag, wird K. erneut abgeholt, nunmehr zu seiner Hinrichtung, ein einsamer Akt, weitab, extrem korrekt und kalt durchgeführt, eine unglaublich harte und erschütternde Schilderung von eindringlicher Brutalität: Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. „Wie ein Hund!“ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben (235). Von den Hunderten von Hinweisen an K., die doch scheinbar alle zu nichts führten, war einer zutreffend: Willst du denn den Prozess verlieren? Weißt du, was das bedeutet? Das bedeutet, dass du einfach gestrichen wirst (103).  

Vorgänger (22): Mario Vargas Llosa - Das grüne Haus.

                                      

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