Mario Vargas Llosa: Das grüne Haus. st 2827
„Hat man Don Anselmo wirklich dieses Haus in Brand gesteckt, Doktor?“ (496) – auch kurz vor Ende dieses frühen Romans des späteren peruanischen Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa (geboren 1936) ist diese Frage ungeklärt. Dieses Haus, das titelgebende grüne Haus, ist von Legenden umrankt. Dem Pfarrer, Padre García, war es stets ein Dorn im Auge, als Anführer eines heranziehenden aufgewühlten Mobs versuchte er es einst zu beseitigen, aber hat er es dabei wirklich in Flammen aufgehen lassen? Die Straßenkinder im Armenviertel von Piura im Norden Perus sind sich auch dreißig Jahre später noch sicher und begleiten ihn mit Brandstifter!-Brandstifter!-Rufen. Doch sie sind nur die unbedarften Sprachrohre der Gerüchte – denn was ist schon sicher? Die junge Generation der Herumtreiber, die sogenannten Unbezwingbaren, wissen nichts über diese alte Geschichte außer Geschichten, denn vom Grünen Haus blieb nichts als ein Scheiterhaufen, zu dem es zerfiel und den jetzt der pünktliche Sandregen zu löschen begann, der Wüste zurückgab, wo es, vorübergehend, existiert hatte (257). Und selbst dies wird von so manchem angezweifelt, Don Anselmo, der einstige Besitzer, schweigt und widmet sich der folkloristischen Musik, sein ehemaliger Gegenspieler Padre García hat wenig Grund, über dieses ihm verhasste Gebäude zu reden, erteilt seinem einstigen Besitzer in einer versöhnlichen, wenn auch uneingestandenen Geste die letzte Ölung; die Akteure sind schon so altersschwach und ihr Stillschweigen so hartnäckig, dass es wenig nützte, wollte man sie befragen (110).
Aber was ist nun das Geheimnis dieses Grünen Hauses? Womöglich existiert sie schon, wenn nicht, wäre es ein arges Versäumnis, eine seitenreiche wissenschaftliche Untersuchung über das Bordell als Symbol in der lateinamerikanischen Literatur – man denke zum Beispiel auch an Juan Carlos Onettis Leichensammler. Denn nichts anderes ist das Grüne Haus: ein Puff. Fremde kennen das Innenleben der Stadt nicht. Was verabscheuen sie an Piura? Die Isoliertheit, die ausgedehnten Sandstriche, die die Stadt vom übrigen Land trennen, das Fehlen von Landstraßen, die endlosen Reisen zu Pferd in der sengenden Sonne und die Hinterhalte der Bandoleros (37). Die Fremden, insbesondere die Hauptstädter aus Lima, langweilen sich, sie wollen verschwenden, was sie verdient haben. deswegen pflegen sie, wenn sie die Stadt verlassen, schlecht von ihr zu sprechen, das geht bis zur Verleumdung (38). Was könnte helfen, diesen miesen Ruf aufzupolieren? Ein Bordell. So sehr haben diese Undankbaren sich nach Weibern und nach nächtlichen Vergnügungen gesehnt, dass schließlich der Himmel („der Teufel, der verfluchte Gehörnte“, sagt der Padre García) Einsehen mit ihnen hatte. Und so kam es zum lauten, frivolen, nächtlichen Grünen Haus (38).
Die neue Institution ist erfolgreich, jene Modellstätte (110), sie wird eine Art Sehnsuchtsort vieler, ist ein Durchlauferhitzer für Gefühle, Zentrum für Begegnungen, aber auch trotz ihres nur kurzen Daseins ein Anzeichen für den Wandel der Stadt. Die solidesten Piuraner kamen zu Fall, die arbeitsamsten und korrektesten. In der einst so stillen Stadt machten sich gleich Alpträumen Lärm und nächtliches Treiben breit (113), Padre García mag sich zwar durch in den folgenden Jahren auftretenden Seuchen, Dürre- und Flutkatastrophen als vermeintliche biblische Rache bestätigt sehen, er mag gegen das Grüne Haus wettern und zu Felde ziehen, es damit letztlich sogar beseitigen können, doch jener Pyrrhussieg kann die Veränderung der Stadt nicht mehr aufhalten, das Gesicht der Stadt veränderte sich (114), Wohlstand durch Anlockung der Fremden zieht ein, von dem einige Wenige profitieren, nach dem Untergang des Grünen Haus vermehren sich hydraähnlich lediglich die neuen Angebote, was dagegen nach und nach verschwindet, sind die Armenquartiere, die Gallicanera verschwand, und an ihrer Stelle entstand ein vornehmes Viertel (282).
Llosas Buch ist allerdings nur in kleinem Rahmen ein Stadtroman. Gilt Piura – immerhin eine Provinzhauptstadt – den Einwohner Limas schon als rückständiges Kaff, so kommen die Orte aus dem Zulaufgebiet des Amazonas in ihrer Wahrnehmung wahrscheinlich nicht einmal mehr vor. Santa María de Nieva zum Beispiel, eine Missionsstation mit kleinem Nonnenkloster, einem Gouverneur und einer Polizeistation im Aufbau. Hier an der Mündung des Rio Santiago in den Rio Maranón herrschen ohnehin andere Gesetze. Menschenraub durch die Nonnen – aus rein christlicher Motivation natürlich, die Heidenkinder sollen im Glauben erzogen werden. Schmuggel und Unterschlagung – natürlich ebenfalls auf Kosten der Nacktärsche – gedeckt von den örtlichen Behörden, Untersuchungen hierüber verlaufen sich buchstäblich im Dickicht des Dschungels. Doch in Llosas Text ist nie jemand so, wie er erscheint oder besser: erscheinen mag. Das hat nicht nur, aber trotzdem auch ein bisschen, mit den ausreichend vorhandenen Ressentiments der einzelnen Personen zu tun, sie selber waren doch zivilisiert, die Heidenmädchen wussten nicht einmal, was das überhaupt hieß, Familie (143), die Ober- und Unterschicht, Zugewanderte und Einheimische, Indios und Christen, Polizisten und Banditen, Städter und Dörfler gegeneinander ausgiebig pflegen, sondern auch mit dem Wechsel der Charaktere. Keiner ist hier eindeutig. Nicht gut, nicht böse.
Diese inhaltlichen Komplexitäten spiegelt Llosa in der extrem komplizierten Struktur seines Romans wider. Dass jede seiner Personen nie ganz zu erfassen ist, dass sie charakterlich schillern, auf einen sympathischen Zug eine Enthüllung über ein verachtenswert brutales Verhalten erfolgt, bedingt eine Technik des Verbergens, des Verdeckens und Aufklärens auf verschiedenen Ebenen. Nur rein äußerlich besitzt der Roman eine geradezu brav aristotelische Einteilung mit – verstecktem – Prolog, fünf Abschnitten und Epilog. Doch in diesen fallen Raum und Zeit völlig auseinander. Eine Chronologie gibt es nicht und auch keine räumliche Architektur nach den üblichen Maßstäben. Wo wir gerade sind, wann und wer die Personen sind, die gerade sprechen, muss quasi in jedem Kapitel neu ergründet werden, denn auch Namen sind manchmal gleich, noch öfter aber wechselhaft. Ereignisse der Gegenwart entpuppen sich als lange zurückliegend, ihre Folgen dagegen kennen wir schon, doch ihr Zustandekommen liegt noch vor uns. Und nicht genug, vermischen sich in die Dialoge Dialoge der Vergangenheit im ständigen Wechsel. Die Virtuosität, mit der Llosa seinen Roman gestaltet, ohne ihn zu einem kryptischen Wirrwarr verkommen zu lassen, erwies in als stilbildenden Meister der Erzählkunst. Doch eines bleibt unsicher, wie war das nun mit diesem Grünen Haus, mit dem alle Personen des Romans eng oder lose, aber in jedem Falle schicksalhaft verbunden sind? Die Wahrheit bleibt verschlossen, die Überlebenden jener Zeit, sehr wenige, widersprechen einander und sich selbst, haben schließlich, was sie gehört und gesehen, mit ihren eigenen Flunkereien durcheinandergebracht (110).
Vorgänger (21): Djuna Barnes - Nachtgewächs.
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