Donnerstag, 15. Oktober 2020

Lektüremonat September 2020.

 

Taeko Kono: Riskante Begierden.

Tokyo zu Beginn der 1940er Jahre. Japan ist mit dem Deutschen Reich verbündet, in Kürze eröffnet man den Krieg gegen die USA und tritt, anfangs sehr erfolgreich, an der Seite der ‚Achsenmächte‘ in das weltweite Kampfgeschehen ein. Außer einer gewissen Begeisterung für alles Deutsche ist das Leben in der Hauptstadt jedoch vorerst vom Krieg unberührt, Privates herrscht vor: Die junge Hinako, 19 Jahre, wird den doppelt so alten Masataka heiraten. Es ist ein typisches Ehearrangement, mit dem jedoch alle betroffenen Seiten sehr zufrieden sein können. Beide Familien sind althergebrachte Medizinerdynastien, beide Familien haben Makel. Hinako war bereits einem Cousin, ihrem Adoptivbruder, versprochen, der sich jedoch umbrachte, Masatakas Mutter ist eine halbe Deutsche, hervorgegangen aus einem Familienskandal. Sie, wie auch Hinakos Vater, gelten als exzentrisch und nicht unbedingt vorzeigbar. Dass es nun also zur Heirat kommen konnte, ist somit ein gelungenes Arrangement, und es verwundert eigentlich niemand, dass sich das neue Ehepaar erst einmal auf sich zu konzentrieren scheint. Die Beziehungen zur Familie werden lose, zur Nachbarschaft besteht kaum Kontakt, Freunde oder Freundinnen sind nicht vorhanden. Hinako ist vor allem damit beschäftigt, sich in dieses neue Leben einzufinden, sie fühlt sich naiv gegenüber dem älteren Mann und der unsicheren Situation. Zu Beginn versucht sie, dies mit einer gewissen Pedanterie, die ihrem neuen Leben Struktur geben soll, auszugleichen, etwa zeichnet sie akribisch die Nächte auf, in denen es zum Geschlechtsverkehr kommt. Doch so wie Hinako immer mehr Freude an ihrem Eheleben und am Sex gewinnt, genauso verliert sie ihre Hemmungen und ihre Unsicherheit. Nach außen gibt sich Masataka zwar als patriarchalischer Gatte, doch Hinako hat ihn längst durchschaut und es beginnt ein raffiniertes masochistisches Spiel zwischen den beiden. Als ihr Haus bei Luftangriffen auf Tokyo zerstört wird, müssen die beiden aufs Land ziehen, ihre Gemeinschaft wird enger, ihre Abgeschlossenheit noch größer. Während Japan – wird sind im Frühjahr 1945 angekommen – ringsumher von Zerstörung bedroht wird, erfüllt sich Masatakas Traum der ultimativen Demütigung durch Hinako, der Tod. 1990 bei Erscheinen war der Roman der renommierten Autorin Taeko Kono (1926-2015) ein Großereignis. Heiß diskutiert und mit Preisen überschüttet, hat er zwar im Westen auch Aufmerksamkeit erregt, doch einen größeren Bekanntheitsgrad verhinderte vermutlich die tiefe Eingebundenheit in die japanische Kultur, die den Zugang für westliche Leser*innen erschwert. Zwar ist das menschliche Hauptgeschehen, die Beziehung zwischen Hinako und Masataka, universal nachvollziehbar, allein durch die meisterhaft akribische Schilderung Taekos, viele Nuancen der komplexen Traditionen, Stimmungen und Anspielungen gehen aber leider verloren, wenn man nicht gerade weitgehende Kenntnisse über das Land und seine Kultur mitbringt. Den Roman genießen – und wenigstens einen Teil dieser eigenen Defizite beseitigen – kann man aber trotzdem. 

 

James Hawes: Speak for England.

Der Plot verspricht eine spannende Geschichte: Brian Marley, geschiedener Mittvierziger mit Sohn, Schulden und einer mehr schlecht als recht bezahlten Anstellung als Sprachlehrer lässt sich überreden, an einer Art verschärftem Dschungelcamp teilzunehmen. Sechs Wochen in der Wildnis Papua-Neuguineas gilt es zu überstehen, ohne gefressen, verrückt oder krank zu werden, mehr nicht, keine Spiele, aber auch keine Hilfe, nur jede Woche einmal die Möglichkeit auszusteigen. Dem Gewinner winken zwei Millionen Pfund. Brian bleibt tatsächlich als letzter übrig, doch die Hubschrauber, die ihn abholen sollen, kollidieren vor seinen Augen. Verirrt im Dschungel und am Rande des Wahnsinns könnte ihn nur der Abstieg über eine enorme Felswand retten. Doch er rutscht ab…und wacht inmitten eines Lagers von Überlebenden eines britischen Fluges ab, der hier 1958 abstürzte. Unter der Führung des Headmasters, eines ehemaligen Militärs, hat sich nun schon über zwei Generationen eine kleine Gemeinschaft etabliert, die in strenger Disziplin das englische Leben der 1950er Jahre aufrechterhält und auf Rückkehr hofft. Dank Brian und der nach ihm eingeleiteten Suche gelangen sie schließlich in ein Großbritannien zurück, das so gar nicht ihren Vorstellungen entspricht – der Headmaster macht sich daran, England auf den richtigen Weg zurückzuführen. James Hawes‘ (geboren 1960) Satire von 2005 stieß auf großes Echo und ist doch ein unglaublich langweiliges Buch. Das zu konstatieren ist das eine, die Frage nach dem Warum das andere. Nun, sprachlich ist das Buch unauffällig in die eine oder andere Richtung. Den militärischen Altherrenjargon der 50er Jahre zu imitieren ist eher keine Großtat, es sei denn, man zählt eine gewisse Weitschweifigkeit zu den Stilmitteln der Epoche. Die Dialoge sind manchmal ganz nett, aber auch nicht zündend, all das liegt an dem Grundfehler des Buches, den ziemlich voraussehbaren und mit üblen Klischees behafteten Figuren. Die Medienvertreter: geld- und quotengeile Zyniker, die buchstäblich über Leichen gehen; die Politiker (von New Labour): inkompetente Sprechblasen ohne Ideologie, geführt von Spin-Doktoren; das Volk: von beiden verführbar und dumpf allem hinterherlaufend. Dem setzt Hawes seinen Protagonisten entgegen und ausgerechnet hier versagt sein Klischee vom liebenswerten Versager. Brian Marley bleibt eine blasse Figur, von dem man sich eher nicht wundert, warum es in seinem Leben nicht läuft, was einen aber auch nicht wirklich interessiert. Wesentlich mit mehr Tiefe zeichnet Hawes den Headmaster, der schließlich das Amt des Premierministers mit seinen Vorstellungen von Zucht und Ordnung, klarem Feindbild (die Roten und Franzosen!), Liebe zum Empire und zu England, nicht Großbritannien, übernimmt. Somit könnte man Hawes immerhin für einen Propheten halten, der die Sehnsüchte seiner Landsleute nach einer vermeintlich heilen 50er-Jahre-Welt karikiert, die, wie sich gezeigt hat, tatsächlich in nicht wenigen Teilen der Bevölkerung vorhanden zu sein scheint. Der Headmaster bedient im Prinzip die spätere Brexit-Gemeinde, tatsächlich steigt England – anders als Schottland oder Wales – im Roman ebenfalls aus der EU aus. Doch Hawes selbst hat etwas zu viel Gefallen an der neuen Politik des Headmasters, nur schwach stellt er, wenn überhaupt, Gegenargumente bereit. Die zynischen Politiker sind EU-freundliche Vertreter eines Großbritannien, sprich nicht nur England, Brian ist als Gegenpol sowieso zu lächerlich, abgesehen davon interessiert er sich nicht für die Vorgänge um sich herum. So gesehen ist er vielleicht doch ein gut gezeichnetes Bild des Durchschnittsengländers. Doch all dies ist schon zuviel gesagt, als Satire taugt der Roman nicht und als unterhaltende Lektüre ist er einfach viel zu langweilig. Verschenkte Lesezeit. 

 

Oswald Levett: Papilio Mariposa.

Im Ersten Weltkrieg verwundet, wird ein Hauptmann, im Zivilberuf Jurist, als Kriegsgerichtsrat auf den

Balkan verschickt. Weil er angeblich zu milde urteilt, 

entsendet man ihn als Vorsitzenden eines Standgerichts, das über einen Fall von Defätismus zu befinden hat. Alles spricht gegen den Beschuldigten: Die Zusammensetzung des Gerichts, um ein Exempel zu statuieren, die eindeutigen Belege für seine Äußerungen, vor allem aber auch die schlechte Laune des Kriegsgerichtsrats, der schon länger nichts mehr von seiner jungen Freundin gehört hat. Und die Person des Angeklagten selbst: ein jüdischer Heeresangehöriger mit einem absurd lächerlichen Namen (Naftali Margoschenes) und noch dazu von geradezu abstoßender Hässlichkeit. Doch während der Verhandlung trifft der Brief der Geliebten ein, der Kriegsgerichtsrat erinnert sich seiner üblichen Milde und überredet das Kollegium zu einer Kerkerstrafe statt eines Todesurteils. Nach dem Krieg begegnet er mehrfach zufällig in Wien dem ehemaligen Angeklagten wieder, heruntergekommen und gedemütigt durch sein Aussehen. Doch es waren gar keine Zufälle, eines Tages verabreden sich die beiden und der Jude offenbart seinem damaligen Retter, dass er inzwischen eine Erbschaft gemacht habe, dank eines entfernten holländischen Verwandten sei er zu Reichtum gekommen und habe sich auch einen Namen zugelegt – den des Titels. Der ist vielsagend – jede*r darf selbst herausfinden, warum. Eine Freundschaft entwickelt sich, der Rechtsanwalt übernimmt Mariposas Vermögensverwaltung und macht ihn auch mit seiner Verlobten bekannt, die anfangs von der Hässlichkeit des neuen Bekannten angewidert ist, sich aber doch an ihn gewöhnt. Denn er hat ein freundliches Wesen und ist hochintelligent. Allerdings wird er nicht, wie sein Freund von ihm erwartet, in der Kunst oder Philosophie Großes leisten, sondern er zieht sich auf ein einsames Landgut in der Steiermark zurück und widmet sich dort – äußerst erfolgreich – der Schmetterlingsforschung. Der Kontakt wird etwas lose, bis Mariposa ankündigt, zu einer langen Entdeckungsreise aufzubrechen. Der Verlobten, in die er sich wohl selbst heimlich verliebt hat, sendet er eines Tages ein erstaunlich geflügeltes Tier, eine wissenschaftliche Sensation, doch lässt er weiterhin nichts von sich hören. Als der Rechtsanwalt wie versprochen sich bei Gelegenheit mal auf dem Landgut umsieht, kommt ihm das Verschwinden Mariposas seltsam vor, tatsächlich ergeben seine Nachfragen, dass dieser das Haus wohl nie verlassen hat. Derweil geht in der Region ein seltsam geflügeltes Wesen um und reißt den Viehbestand, während andererseits Frauen und Mädchen auf mysteriöse Weise verschwinden. Mit Hilfe eines Professors, dem früheren Lehrmeister Mariposas, kommen der Anwalt dessen Geheimnis auf die Spur: in einem Selbstexperiment hat sich dieser in einen riesigen menschlichen Schmetterling verwandelt. Doch der Versuch ging schief: das Tier hat einen hohen Geschlechtstrieb und ist vor allem ein unersättlicher Fleischfresser. Es bleibt nur, den verwandelten Mariposa zu jagen. Oswald Levett (1884-1942) gehörte lange zu den großen Rätseln der deutschsprachigen Literatur, nur wenig war über ihn bekannt. Die Vermutung, ihn mit den Prager Kreisen um Kafka und Brod, später mit den Wienern, vor allem mit Leo Perutz, dem großen Meister der Phantastik, zu verbinden, erwies sich als zutreffend. Sein „Papilio Mariposa“, 1935 erschienen, ist – leider – nur eines von zwei überlieferten Werken, aber es ist eine faszinierende Geschichte mit Parabelcharakter, der Versuch des ausgestoßenen Juden, sich zu verwandeln, eine neue Identität anzunehmen, der grausam scheitert. Geschrieben im nüchternen Stil der Neuen Sachlichkeit, mit vielen Anspielungen – auf Thomas Mann, die Psychoanalyse –, ist der Roman längst reif für die Wiederentdeckung. Levett wurde 1942 von den Nazis in einem Lager in Belarus ermordet, es wird Zeit, diesen außergewöhnlichen Romancier für sein Werk zu ehren.                                                              

 

Alexander Kluge: 30. April 1945.

„Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann“, so der Untertitel


dieser Chronik eines einzigen Tages, in der typischen Manier der jüngeren Werke von Alexander Kluge (geboren 1932), als Sammelsurium von quasi-, halb- oder echt dokumentarischen Episoden, die sich nicht mit den großen Ereignissen, sondern den Auswirkungen auf den Einzelnen auseinandersetzen. Der kann durchaus berühmt, bekannt oder völlig nebensächlich sein, aber irgendwie mit den Geschehen jenes Tages verbunden, aktuell oder auch als Folge, Kluges Netz spannt sich ausgehend von jenem Datum bis in die unmittelbare Gegenwart. Die berühmte Frage, was ist hier authentisch, was Fiktion, ist wie stets irrelevant, den Tatsachen sind die Möglichkeiten mithineingewebt, ein Verfahren, dass man zum Beispiel schon aus „Die Lücke, die der Teufel lässt“ kennt. Viele der kurzen Berichte sind geprägt von Absurditäten, die ein solcher später Kriegstag in einem zerfallenden Reich – und nicht nur dort – unweigerlich mit sich bringt, der noch dazu gleichbedeutend ist mit dem Ende einer Terrorherrschaft, beides macht jedoch diese Erfahrungen für die Einzelnen existentiell, das Absurde wird zur lebensgefährlichen Bedrohung. Unterstützung hat sich Kluge durch Reinhard Jirgl geholt, der in Zwischenepisoden, die sich durch seinen etwas prätentiösen Stil auszeichnen, weitere Schicksale schildert. Das macht Kluges Buch zu einer anderen Erfahrung als nur eine weitere Schilderung eines Untergangszenarios. Aufgelöst in Multiperspektivität ergibt sich ein neuer, anderer Blick auf das Geschehen an jenem Tag, der einen Epochenbruch einleitete.

 

Karine Tuil: Douce France.

Die junge Schriftstellerin zuckt noch jedes Mal zusammen, wenn sie die Worte: „Polizei. Ausweiskontrolle!“ hört, eine Art genetischer Hinterlassenschaft ihrer Eltern, die einst als Juden nach Frankreich eingewandert waren. Dabei haben weder diese noch sie selbst etwas zu befürchten, sie sind längst eingebürgerte französische Staatsbürger. Und als sie dann doch zufällig in einem Laden in eine Razzia nach illegalen Einwanderern gerät, hat sie nicht dieses Angstgefühl, im Gegenteil, ohne recht zu


realisieren warum, gibt sie sich, nachdem ihre Papiere nicht auffindbar sind, spontan als Rumänin aus (der Roman wurde vor dem EU-Beitritt Rumäniens geschrieben). Sie wird mit einigen anderen in ein Abschiebegefängnis nahe am Flughafen abtransportiert. So genau begreift sie selbst nicht, warum sie dies tut, ist es ihre schriftstellerische Neugier, eine gewisse Hilflosigkeit, Abenteuerlust? Die Behörden sind jedenfalls allzu schnell bereit, ihr ihre falsche Geschichte zu glauben. Ein fehlender Ausweis ist gleichbedeutend mit Nicht-Französin, mit Illegalität und Millionen von möglichen Geschichten, für die sich niemand interessiert. In Abschiebehaft wird sie keineswegs schlecht behandelt, sondern gleichgültig, routiniert, als altbekannter Vorfall. Das Leben dort ist zwar nicht wie in einem richtigen Gefängnis, aber trotzdem ist die eigene Person dort endgültig irrelevant geworden. Einschränkungen bürokratischer Art, das Leben auf engem Raum mit Menschen aller Nationen, die sich nicht gut miteinander verständigen können oder wollen, und die sich auch nicht unbedingt verstehen, Solidarität ist keine hilfreiche Eigenschaft. Trotzdem schließt sich die Protagonistin einem Weißrussen an, weil er ihr hilft – und sie ihm – und weil er sie auch fasziniert. Erst spät merkt sie, dass hier niemand der ist, der er zu sein scheint – wie sie selbst ja auch nicht. Lügen und Verstellungen sind Teil, sogar Notwendigkeit des Überlebensplanes. Die Maschinerie funktioniert dagegen perfekt: für die vermeintliche Rumänin steht schon ein Platz im Abschiebeflugzeig bereit. Nun wird ihr das Ganze doch zuviel, sie beruft sich auf ihre französische Staatsbürgerschaft, was nun natürlich niemand mehr glauben will. Erst die Kontaktaufnahme mit ihrer Familie hilft ihr aus der Situation – da ist sie schon in Rumänien. Ihr enttäuschter und verwirrter Vater stellt natürlich ebenfalls die Kardinalfrage: Warum hast Du das gemacht? Für die Schriftstellerin brachte die Erfahrung als Kurzzeitillegale ihre eigene Herkunft als arrivierte Migrantin der zweiten Generation tiefer zu Bewusstsein, ein nur scheinbar privilegiertes Dasein, dass ihre Eltern mit viel Anpassung, Zurückhaltung und auch Verleugnung mühsam aufgerichtet haben – und von dem sie immer noch fürchten, es verlieren zu können (durch Aktionen wie die ihrer Tochter). Vor allem aber wird ihr klar, dass ihre Berichte aus dem Inneren des Abschiebegefängnis auf taube Ohren stoßen werden, dass diese Parallelwelt und ihre Insassen niemand interessiert, dass diese Schicksale akzeptiert werden können, weil sie allgemein ignoriert werden. Karine Tuils (geboren 1972) Roman erregte große Aufmerksamkeit in Frankreich, ihre nachfolgenden Bücher wurden noch größere Erfolge. Basierend auf eigenen Recherchen ist es vor allem der nüchterne Stil, der den Text auszeichnet und ihn damit vor reiner gutbürgerlicher Betroffenheitsprosa oder pseudoauthentischer Sozialpornographie bewahrt, eher schon zeigt sich die eigene Verwirrung über eine unbekannte Welt, die neben uns existiert und die wir stillschweigend akzeptiert haben. Den genauen Blick, den Karine Tuil sich hier erlaubt, ersparen wir uns für gewöhnlich, weil er verstört und wir nicht gestört werden möchten.   

 

Helmut Eisendle: Exil oder Der braune Salon.

Wieder einer der kurzen Romane von Helmut Eisendle (1939-2003), wieder hat er wenig zu tun mit einem klassischen Roman. Oder anders:

„Ich kenne das Buch und war enttäuscht.

Wieso?

Ja, diese vier Personen – und das hat mich gestört – sind völlig unwirklich, es sind gleichsam vier Sprachsysteme, die sich überschneiden, die miteinander in Kommunikation treten. Nichts geschieht, keine Handlung, keine Entwicklung, es wird geredet, geredet, erzählt ohne Sinn und Ziel. Das Ganze ist sprachimmanenter Unsinn, jenseits der Vernunft. Gespräche über den menschlichenVerstand, wobei Verstand eben etwas ist, das nicht zu fassen, nicht zu definieren ist. Nonsens aus der Flasche. In dem Moment, wo die Figuren schweigen, gibt es sie nicht mehr. Die Personen haben keine Geschichte, man erfährt nichts Persönliches über sie, sie sprechen; die Wirklichkeit geht an ihnen vorbei.“

Eisendle über Eisendle, oder noch genauer: Eine der genannten geschichtslosen Personen über den Roman – und andere von Eisendle – und damit über sich selbst. Der Autor nutzt die literarischen Möglichkeiten, um in ironischer Brechung, wenn auch zugegeben nicht gerade subtil, der typischen Kritik am avantgardistischen Schreiben den Wind aus den Segeln zu nehmen. Tatsächlich stimmen die Vorwürfe: keine Handlung, keine Entwicklung, die vier Protagonisten, die sich im titelgebenden Braunen Salon zum Billardspielen treffen, stehen nicht für Individuelles, sondern für verschiedene Denksysteme, die sie anhand bestimmter Themen, etwa der Utopie, miteinander diskutieren. Leser und Leserin werden dadurch zum fünften Mit-Denker und das ist das Reizvolle an dem Text, dem es wie schon in „Jenseits der Vernunft“ gelingt, nicht trockene Theorie in Figuren hineinzupressen, sondern spannende und lebendige Argumentation zu liefern.

 

Eckhard Henscheid: Maria Schnee.

Dem Mitglied der Neuen Frankfurter Schule Eckard Henscheid (geboren 1941) haben wir solche Klassiker wie das Lexikon „Dummdeutsch“ und die „Kulturgeschichte der Missverständnisse“ (zusammen mit Gerhard Henschel und Brigitte Kronauer) zu verdanken, abgesehen von ungezählten Satiren und Artikeln natürlich. Eher ein Nischendasein führt sein rein literarisches Schaffen, obwohl er gerade von vielen Schriftstellerkolleg*innen hoch geschätzt wird. „Maria Schnee“ hat einen einfachen Plot: Ein nicht mehr ganz junger Wanderer kommt in einer Kleinstadt irgendwo im oberpfälzisch-fränkischen Grenzgebiet an, um dort in einem ihm empfohlenen Gasthaus zu übernachten. In den folgenden 24 Stunden beobachtet er die Gäste und Wirtsleute – und die ihm begegnenden Tiere. Geprägt ist sein Aufenthalt von einer ständigen Unsicherheit: Was ist von den diversen Gästen zu halten, warum sind die Gasthausbesitzer so unerklärlich nett zu ihm? Ist es wirklich eine gute Idee, hier zu übernachten, wäre es nicht besser, noch weiterzulaufen? Wird der Club durch die verschiedenen Abgänge in der nächsten Saison in Abstiegsgefahr geraten? Dass unser Protagonist, mit dem viel geredet wird, obwohl er selbst kaum spricht, leicht paranoid ist, wird gleich eingangs klar, da er sich aus uns unbekannten Gründen vor einem blau gekleideten Mann fürchtet und überhaupt hat die Atmosphäre des Gasthauses, obwohl dort kaum für eine solche Gastwirtschaft auf dem Land Atypisches passiert, etwas Beklemmendes. Dass er dort bleibt, aber nicht übernachtet, was wiederum niemand bemerkt, gehört zu den leisen Ironien des Textes, ebenso wie der Ausbruch aus dem Dorf, der nur durch einen ebenso kuriosen wie plötzlichen Vorfall ermöglicht wird. Eine Art Gaststubenkammerspiel mit einem eigenen Stil irgendwo zwischen einem Thomas-Bernhard-Roman in der nüchternen Sprache Kafkas, an den auch die kleinen grotesken Einbrüche in das banale Alltagsgeschehen erinnern, das unmotivierte, nie erklärte Verhalten der Personen. Erstaunlich, wie schnell man in diesen quasi ereignislosen Roman hineingezogen wird.

 

Don DeLillo: Falling Man.

Nimmt man die us-amerikanische Taschenbuchausgabe zur Hand, dann beginnt diese mit – was nicht ungewöhnlich ist – ganzen zehn Seiten an Zitaten aus positiven Rezensionen mehr oder minder


bekannter Presseorgane des Landes. Diese – oder zumindest die ausgewählten Ausschnitte – feiern geradezu enthusiastisch Don DeLillos (geboren 1936) Roman über den 11.September 2001, den er 2006 verfasst hatte. Nun, so nah noch am Geschehen über dieses ein fiktionales Werk zu schreiben, ist immer auch ein Wagnis, andererseits wird dies wiederum von einem bestimmten Publikum erwartet, eher dem Feuilleton, denn der Leserschaft, möchte man vermuten, und die genannten Kritiken spiegeln dies wohl nur zu deutlich wider. DeLillo, der hier seine übliche äußerst verschachtelte und komplexe Art des Schreibens stark zurücknimmt – auch dies ein Indiz für die Ausrichtung auf ein breiteres Publikum – schildert am Anfang und Ende Ereignisse aus dem Inneren der zusammenbrechenden Türme, dazwischen anhand eines Pärchens und einiger Nebenfiguren die Auswirkungen der Terroranschläge auf den und die Einzelne*n. Er, Keith, war im Büro und entkam, wobei sein Verhalten während und auch nach den Ereignissen von vielen Momenten der Irrationalität geprägt ist – dazu gehört auch, dass er spontan zu seiner Frau, Lianne, von der er längst getrennt lebt, zurückkehrt. Plötzlich bildet sich wieder so etwas wie eine, wenn auch äußerst fragile, Familie. Lianne versucht die Ereignisse indirekt in der von ihr geleiteten Schreibgruppe zu verarbeiten und in Diskussionen mit ihrer Mutter und deren Freund, einem deutschen Kunstagenten mit undurchschaubarer Vergangenheit. Eingeblendet werden zudem noch Einblicke in das Denken der Terroristen selbst. Das Schließen der Wunde durch Neubildung der Familie gelingt jedoch nicht, jedenfalls nicht dauerhaft. Keith wird kein komplett neuer Mensch, er betrügt seine Frau mit einer ebenfalls dem Inferno entkommenen Kollegin, der Sohn ergeht sich in verdrängenden Spielen, letztlich wird Keith ein leidenschaftlicher und mittelmäßiger Pokerspieler und Lianne entdeckt die Religion wieder für sich. Das überbordende Lob für den Roman erklärt sich, wie angedeutet, wohl hauptsächlich aus dem Verlangen nach den Worten eines der großen amerikanischen Gegenwartsautoren, und der Erleichterung, mit DeLillos Text diese nun vorliegen zu haben. Der Roman selbst bleibt in vielem banal, zwar liegt der Verdienst darin, sich auf einzelne Personen zu konzentrieren und deren Verhalten nach dem 11. September zu beleuchten – die großen politischen Auswirkungen kommen nur immer wieder mal am Rande vor – aber die Erkenntnisse, die daraus gewonnen werden, sind kaum überraschend. Keith lebt in dem Gefühl nichts mehr zu verlieren zu haben und wird deshalb endgültig zum Spieler in einer On/Off-Familienbeziehung. Nun gut. Und Lianne entdeckt irgendwie am Ende – den christlichen – Gott. Das wäre eine kontraproduktive Ironie der Anschläge, die aber nicht eingetreten ist. Dem französischen Autor Frédéric Beigbeder, der schon zwei Jahre nach dem Angriff mit „Windows on the World“ einen Roman über diese veröffentlicht hat, wurde unter anderem wegen einer Szene, in der ein Pärchen im Turm während des Moments des Einschlags bewusst Sex hat, Geschmacklosigkeit vorgeworfen, worüber man durchaus trefflich streiten kann, DeLillo bringt tatsächlich Sätze wie die eines der Opfer, dass durch die einsetzende Sprinkleranlage durchnässt wurde und dies entgeistert mit „I was wet all through“ beschreibt, in Verbindung mit sexuellen Phantasien, was definitiv geschmacklos und ziemlich peinlich ist. Vorweggenommen reflektiert er sein Vorgehen aber bereits selbst in der Titelfigur, dem „Falling Man“, einem Performance-Künstler, der sich fast ungesichert in Büroklamotten kopfüber an Stellen herunterhängen lässt, die möglichst abrupt in der Wahrnehmung der Zuschauer*innen auftauchen sollen, etwa an einer Bahnstrecke. Ist das eine adäquate Erinnerung an die sich aus den Türmen stürzenden Menschen? Ist es plumpe Aufmerksamkeitserregung? Oder eben eine zynische Geschmacklosigkeit? Das dürfen sich auch die Leser*innen des Romans fragen.     

 

Max Hermann-Neiße: Schattenhafte Lockung.


„Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen/Nun ist mein Leben Staub wie mein Gedicht“, so lautet eine Zeile aus einem späten Werk Max Hermann-Neißes (1886-1941), geschrieben bereits im Exil – und leider immer noch wahr. Ein typischer Vertreter der Zwischenkriegszeit, in der Weimarer Republik mit großen Erfolgen, wurde der Lyriker nach der Vertreibung, Ausbürgerung und der damit einhergehenden künstlerischen Isolation so gut wie vergessen. Obwohl immer wieder Versuche unternommen wurden, sein Werk wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, etwa durch die Gesamtausgabe, der auch unser Band entstammt, ist dies, anders etwa als bei der poetisch nicht ganz unverwandten Mascha Kaléko bislang jedoch nicht gelungen. Es wäre wünschenswert, wenn das zumindest zwischenzeitlich vorhandene Interesse an den 1920er Jahren, hervorgerufen durch die Fernsehserie „Babylon Berlin“, hier eine Veränderung herbeiführen würde. Denn Max Hermann-Neiße ist, wie erwähnt, ein klassischer Vertreter dieser Epoche. Erstaunlicherweise schien er schon ein Lyriker der Neuen Sachlichkeit zu sein, als diese noch lange nicht absehbar war. „Schattenhafte Lockung“ versammelt verstreute, ursprünglich nicht in Buchform veröffentlichte Gedichte der Jahre 1900 bis 1923. Schon die frühesten Verse klingen wie aus den 20er Jahren, der Jüngling Max Hermann, der seine haßgeliebte Heimatstadt in seinen Namen mit aufnahm, schrieb keine modische Dekadenzlyrik, sondern nüchterne, unpathetische Beschreibungen, wie sie später in der Nachkriegszeit Allgemeingut wurden. Erst mit dem Krieg kommen stärkere Einflüsse des Expressionismus zum Tragen, persönlichere Gefühle wie Todessehnsucht und religiöse Verzweiflung, bevor dann wieder stärker das sarkastisch-bittere Beschreiben in den Vordergrund tritt – nun sozusagen auf der Höhe der Zeit, die er längst vorweggenommen hatte. Max Hermann-Neißes Spießbürgerportraits, seine unsentimentalen, schonungslosen, manchmal ironischen Schilderungen des Städtelebens, die erotischen Sehnsüchte und Karikaturen auf die Republikfeinde, all das in oft klassischen, eingängigen Formen wie dem Sonett, aber auch für Kabaretts als Gesangseinlagen geschrieben, sind noch immer mit großem Gewinn zu lesen. Gerade, dass ihnen das Überdramatische der Lyrik des frühen 20. Jhs fehlt, dass sie die einfache Form bevorzugen, um ihre Kritik zu üben und dadurch eine hohe Eingängigkeit und Lesbarkeit erreichen, sollte ihnen und ihrem Autor eigentlich viele Leser*innen verschaffen. Die Hoffnung besteht ja noch immer.

 

Italo Calvino: Der geteilte Visconte.

Der junge Visconte Medardo di Terralba zieht mit Enthusiasmus zur Unterstützung der kaiserlichen Truppen in den  Türkenkrieg, dabei die zahlreichen bösen Vorzeichen missachtend. Es kommt, wie es kommen musste: Der unerfahrene Medardo wird bei einem Frontalangriff auf eine Artilleriestellung von einer Kanonenkugel komplett zerrissen. Und das buchstäblich. Als die Feldscher seine Überreste einsammeln wollen, stellen sie mit Erstaunen fest, dass er noch lebt. Die Ärzte des Feldlagers setzen alles daran, ihn zu retten – oder besser: das, was von ihm übrig ist. Und das ist buchstäblich nur die Hälfte. Und zwar die rechte. Einbeinig, einarmig, einäugig kommt Medardo in seine heimatliche Herrschaft zurück und hinterlässt nicht nur überall seltsame Zeichen – stets säuberlich vorhandene Hälften an Obst, Gemüse, Tieren etc. – sondern es stellt sich leider auch heraus, dass es nicht die bessere Hälfte war, die zurückkehrte. Medardo ist von bösartiger Grausamkeit, er terrorisiert seine Untertanen, seine Familie. Hat Freude nur an aufwendigen – und oft genutzten – Galgenkonstruktionen, an grausamen Spielchen und am Zündeln. Selbst das Mädchen, in das er sich verliebt, möchte er nur haben, um sie einsperren zu können. Wer kann, entflieht seinen Quälereien, bis er sich eines Tages urplötzlich gewandelt zu haben scheint: von geradezu übermenschlicher Güte und Freundlichkeit, ist Medardo überall da zur Stelle, wo Hilfe benötigt wird. Bald löst sich das Rätsel, es wird klar, auch die andere, die bessere Hälfte hat überlebt. Doch gemeinsam können sie nicht herrschen, der linke Medardo ist sogar zu gutmütig, um ein bereits ausgereiftes Komplott zum Sturz seiner anderen Hälfte zu unterstützen, prompt werden die Verschwörer vom bösen Medardo hingerichtet. Lösung kann nur Pamela, das von beiden begehrte Mädchen, bringen. Es kommt zum Duell zwischen den beiden halben Medardos. Eine der typischen absurden Parabeln Italo Calvinos (1923-1985), die Märchenhaftes mit Realistischem und Humor vereinen und dadurch menschliche Konflikte auf sehr leicht zugängliche Art, aber keineswegs oberflächlich schildern. Ein italienischer Klassiker.

 

Ian McEwan: Kindeswohl.

Vor einiger Zeit haben wir einen Band Erzählungen aus der Frühzeit Ian McEwans (geboren 1948) vorgestellt, als er noch ein junger Provokateur und nicht der angesehene Großschriftsteller unserer Tage war. Nun, in diese letztgenannte Phase fällt der Roman „Kindeswohl“, anno 2015 erschienen. Fiona Maye ist eine hohe Richterin am Familiengericht, die sich mit den oft bitterbös geführten Prozessen von Menschen beschäftigen muss, die sich eigentlich nahestehen oder -standen. Die juristische Kunst liegt hier vor allem darin, sich in die Gefühlswelten der diversen Parteien hineinzuversetzen und sich gleichzeitig aus ihnen herauszuhalten, was Maye bislang erfolgreich gelungen ist, sie genießt hohes Ansehen für ihre ausgewogenen Urteile. Das liegt auch daran, dass sie stets ihre Distanz wahrt, ohne dadurch unempathisch zu sein, aber auch an der Ruhe ihres Privatlebens als gewissermaßen sicherer Alternative. Diese gerät nun ins Schwanken, als ihr Ehemann mit ihrem Wissen eine Affäre beginnen möchte. Plötzlich ist eine unerwartete Ehekrise vorhanden, auf die sie kaum anders reagiert als die oft zerstrittenen Parteien vor ihrem Richterinnenstuhl. Dabei muss sie sich andererseits auf den schwierigen Fall eines fast volljährigen Jungen konzentrieren, der an Leukämie erkrankt aus religiösen Gründen die lebensrettende Bluttransfusion verweigert. Faye scheint es zu gelingen, den Jungen und letztlich auch ihre Ehe zu retten. Scheint. Ein äußerst unbefriedigendes Buch. McEwan schreibt gewohnt routiniert, vermutlich zu routiniert, gut zu lesen, alles nachvollziehbar und in sich logisch, aber trotzdem schal. Die Richterin entscheidet in den diffizilen Fällen stets genauso, wie man es mit den Gründen der Vernunft erwarten würde. Dass ist in einem Zeitalter, in dem längst nicht mehr von allen die Vernunft als Maßstab anerkannt wird, zwar äußerst tröstlich und muss vielleicht inzwischen extra betont werden, aber es ist auch erwartbar und reichlich unkontrovers. Die sympathische Richterin fällt sympathische Urteile, wie beruhigend. Dazu passt auch die geschilderte private Krise. Wer bitte soll das alberne Motiv des Ehemanns, er möchte, mit Einverständnis seiner Gattin, einfach noch einmal eine leidenschaftliche Affäre mit einer jüngeren Frau erleben, nur so zwischendurch, ohne weitere Konsequenzen, nur Sex, als nachvollziehbar und eben nicht als plumpen Egoismus gutheißen? Das ist nicht nur schlecht motiviert, sondern ebenfalls kein Konflikt, der zu einer inneren Abwägung, zu einer offenen Diskussion führen kann. Die Schlusspointe, dass auch gutgemeintes Handeln zu schlimmen Konsequenzen führen kann, ist dann schließlich auch eher banal. Liest man so durch und stellt es dann mit einem Achselzucken ins Regal.

 

Caught Between Cultures: Colonial and Postcolonial Stories.

Der Band mit Erzählungen versammelt, für den Unterricht an Schulen und Universitäten, in drei Abschnitten Erlebnisse aus und nach dem Britischen Empire. Der erste Bereich widmet sich den Erfahrungen der Kolonisten zu Zeiten des späten Empire, Autor*innen sind hier Vertreter*innen der weißen Schicht, ohne Ausnahme Klassiker: Joseph Conrad, William Somerset Maugham, George Orwell und Doris Lessing, alle mit direktem Hintergrundwissen, sei es im aktiven Dienst für die Kolonialbehörden, als Siedler oder als Reisender. Ihre Geschichten offenbaren vor allem die grundsätzliche Sinnlosigkeit des Unternehmens Kolonisierung: es ist ein System, das beidseitig nur Leid verursacht. Dass dies für die unterworfenen und ausgebeuteten Völkern gilt, ist – entgegen alter und manch neuer Propaganda – ohnehin unzweifelhaft. Dass aber auch die weiße „Herrenschicht“ in dieser Ordnung nur sich selbst zugrunde richtet, in der fremden, unwirtlichen Gegend, in der man sich die örtliche Bevölkerung zum Feind gemacht hat, in der man stets darauf achten muss, keine Zweifel an der eigenen Überlegenheit aufkommen lassen zu dürfen, was im Notfall nur mit Brutalität gelingt, all das zeigen die Erzählungen vom Scheitern dieser Repräsentant*innen einer vermeintlich höheren Kultur – sei es indirekt oder, wie bei Orwell, das eigene Handeln reflektierend. Im zweiten Abschnitt sind es Autor*innen ehemaliger Kolonien, R.K. Narayan, Chinua Achebe und Ngugi wa Thion’go, die – teils buchstäblich – vom Vorbeireden und Unverständnis der aufeinandertreffenden Kulturen berichten, aber auch vom fatalen Einfluss, den das aufgepropfte „höhere Wissen“ und die neue Religion des Christentums haben konnten. Im letzten Abschnitt widmen sich Muriel Spark, Qaisra Shahraz, Hanif Kureishi und Salman Rushdie den Folgen der Kolonisation lange nach deren Aufhebung – sei es im ehemaligen „Mutterland“ Großbritannien, sei es in den früheren Ländern des Empire. Hier ist es vor allem der Konflikt zwischen angepasster Integration und Bewahrung des eigenen kulturellen Erbes, selbst in den  nachfolgenden Generationen – und damit sind wir bei einem der brennenden Probleme der Gegenwart angekommen. Der Band verschafft einen breiten und auch für das anvisierte Publikum – aber nicht nur dieses – gut lesbaren Überblick, hat aber gleichwohl ein Manko. Er präsentiert keinen literarischen Vertreter, der sich positiv(er) zur Kolonisation äußert, wie etwa Rudyard Kipling. Das wäre wünschenswert gewesen, natürlich nicht, um im Nachhinein Verklärung zu betreiben, sondern um an solch einem Text die Argumentation der Befürworter kritisch aufzeigen zu können, die es schließlich bis hin zu den Intellektuellen ebenfalls gab. Gerade an der Verführbarkeit durch solche vermeintlichen Vorteile der Kolonisation und der Herausstellung des eigenen überlegenen Standpunktes lassen sich ja die Gefahren durch diese Art des Denkens am besten aufzeigen – und entlarven.

                                                                                                                           

           

                        

 

            

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