Ketil
Bjornstad: Der Fluß.
Mit
„Vindings Spiel“ war Ketil Bjornstad (geboren 1952) ein großer Erfolg gelungen,
die melancholisch-tragische Geschichte der jungen Klavierschüler*innen, die
sich auf einen großen Wettbewerb vorbereiten und daran auf verschiedene Art
scheitern, fand zurecht eine breite Leserschaft. „Der Fluß“ ließ sich nun auf
das Wagnis ein, eine Fortsetzung anzubieten und man merkt sehr schnell, dass
diese Vorhaben ziemlich schiefläuft. Aksel Vinding verbringt die Zeit mit
seiner ehemaligen Konkurrentin Rebecca, die das Klavierspiel aufgegeben hat, in
ihrem Ferienhaus, um sich von den schrecklichen Ereignissen zu erholen: dem Tod
seiner Freundin Anja, dem Selbstmord ihres Vaters, dem Unfall seiner Mutter. Er
ist allein, sein Vater hat sich zurückgezogen, seine Schwester ist auf dem
Selbstfindungstrip, die Beziehung zu Rebecca ist ungeklärt. Da entdeckt er die
Annonce für ein Zimmer: Anjas Mutter sucht einen Untermieter. Aksel zieht ein,
ins Zimmer seiner toten Freundin und fängt eine Affäre mit deren Mutter an.
Gleichzeitig bereitet er sich auf Drängen seiner Klavierlehrerin auf sein Debüt
in wenigen Monaten vor. Nun ja, allein aus der Inhaltsangabe dürfte man schon
merken, dass Bjornstad hier seinen Leser*innen sehr viel, etwas zu viel
abverlangt. Mal kurzerhand mit der jungen Mutter der toten Freundin anbandeln –
sie später auch noch heiraten – nebenher ein fulminantes Konzert schmeißen,
auch ein bisschen mit der besten Freundin rummachen, das alles unglaublich
dürftig psychologisch motiviert. Gemeinsame Trauer und so. Leider erhebt sich
auch die Sprache nicht über Liebesratgeberniveau von Boulevardzeitschriften.
Nach gut fünfzig Seiten liest man den Roman eigentlich nur noch aufgrund der
unfreiwilligen Komik weiter, was aber auch nicht über 380 Seiten trägt, da das Buch
nicht einmal eine halbwegs fesselnde inhärente Spannung aufbaut, die Charaktere sind
so flach und die Entwicklung so schlecht motiviert wie voraussehbar, dass einen
das Ende gar nicht mehr sonderlich interessiert. Schon allein, weil man bis
dahin den schrecklichen Stil weiterhin ertragen muss. Nicht nur, dass für
manche Dialoge selbst ein Drehbuchautor von Telenovelas gefeuert worden wäre,
bestätigt Bjornstad das alte semiotische Grundgesetz, dass Inhalt die Form
bestimmt und umgekehrt. Er erzählt konsequent – als Rückblick – aus der
Ich-Perspektive, was ja völlig plausibel ist, versetzt dieser aber ständig mit
Zusatzbemerkungen wie „denke ich“ oder „Mir fällt ein“, das wäre ja in der
Vergangenheitsform noch halbwegs genießbar, im Präsens der 1. Person Singular
aber ist es geradezu absurd. Aber es passt zum Erzählstil, jede Handlung zu
kommentieren. Dies ist ein auch für Laien leicht nachvollziehbares Merkmal
schlechter Literatur: Etwas wird nicht vermittelnd beschrieben, sondern
kommentierend gesagt. Anders ausgedrückt: Es ist ein qualitativer Unterschied, ob
ich in der Lage bin, eine verzweifelte Stimmung zu erzeugen oder kurzerhand den
Leser*innen sage: „Ich bin verzweifelt.“ Es ist überhaupt das Hauptkriterium
schlechter Literatur, den Leser*innen das Denken nicht selbst zu überlassen.
„Der Fluß“ ist weit mehr als die ja immer mögliche Enttäuschung durch eine
Fortsetzung, es ist einfach ein völlig misslungenes Buch. Im Text heißt es
einmal, die Musik unterscheide sich von der Literatur dadurch, dass der
Schriftsteller kein Handwerk beherrschen müsse. Wer das glaubt, schreibt solche
Bücher.
Edward
P. Jones: Die bekannte Welt.
Was
Literatur ausmacht, das führt uns als Kontrast zum Glück Edward P. Jones
(geboren 1951) vor. Schon der Titel – so unspektakulär er oberflächlich
erscheint – ist voller Anspielungen, auf die hier leider nicht alle eingegangen
werden kann, er geht auf die kolonialen Entdeckungen der Frühen Neuzeit zurück.
Natürlich ist es eine für uns – besonders in Europa, aber sicher auch für viele
weiße Amerikaner – völlig unbekannte Welt, von der Jones erzählt. Hier im Süden
kurz vor dem Bürgerkrieg, im Manchester County, lebt eine so typische wie an
sich unauffällige Gesellschaft, die nach den Kriterien ihrer Zeit streng geregelt
ist. Es gibt die Weißen verschiedener Schichten, vom Grundbesitzer mit Plantage
bis hinunter zum armseligen Taugenichts, ihnen gegenüber ihre schwarzen Sklaven
und einige wenige freie Farbige. Doch es existieren Nuancen. Die – sehr wenigen –
Indigenen nehmen eine Zwischenposition ein, von den Weißen keineswegs als
gleichwertig anerkannt, sich selbst aber nicht zu den Farbigen zählend. Und
dann sind da die ehemaligen Sklaven, die nun selbst Sklaven halten. Sie führen
das Absurde und schlicht Bösartige des gesamten Systems vor. In der heute oft
aggressiven Diskussion würde man Jones – vielleicht hat man es auch –
wahrscheinlich vorwerfen, er verschaffe damit den Weißen apologetische
Ausreden, indem er das Argument, aber auch Schwarze hätten Sklaven besessen, vor
Augen führt. Nun sollte man vor solchen Fakten ohnehin nicht eben diese
verschließen, Jones aber nutzt, wie gesagt, diese Tatsache – die er im Übrigen
durch das Auftreten eines Sensationsjournalisten aus dem Norden, der darüber
ähnlich erstaunt ist, ironisierend aufgreift –, um die Unmenschlichkeit der
Sklaverei selbst aufzuzeigen, die eben solche grausamen Absurditäten erzeugt.
Anhand vieler alltäglicher Ereignisse, die, was eine seiner großen Leistungen
ist, Jones mit strikter Nüchternheit erzählt, wird deutlich, wie viel
Menschenverachtung in dem ganzen Konstrukt liegt. Denn ein Sklave ist kein
Mensch, sondern ein Eigentum. Er ist nicht anders zu behandeln als ein
gekauftes Möbelstück. Das klingt so menschenverachtend, wie es ist – und genau
dies bringt Jones ständig in Erinnerung. Augustus Townsend kauft sich
schließlich frei – aber nur sich. Er muss weiterschuften, um schließlich seine
Frau ebenfalls freikaufen zu können, dann weiterschuften, um auch das Geld für
seinen Sohn Henry aufbringen zu können. Dies dauert Jahre, und da Henry auf der
Plantage derweil neue Fähigkeiten lernt und sich seinem Herrn dort als sehr
nützlich erweist, wird er zudem immer teurer. Als er schließlich freikommt,
baut er selbst eine kleine Plantage mit Sklaven auf – zum Entsetzen seiner
Eltern. Er hat einerseits das Denken seines wohlwollenden weißen Ex-Herrn
internalisiert, andererseits ist dies in jenem Landstrich aber auch der einzige
Weg, sich Respekt zu verschaffen. So glaubt Henry zumindest, nicht erkennend,
dass selbst für den niedrigsten Weißen noch immer ganz andere Gesetze gelten
als für einen erfolgreichen Schwarzen. Wie allein das Schicksal seines Vaters
zeigen wird, dessen Freilassungsurkunde willkürlich zerstört, er von einem
Sklavenfänger erworben und weiterverscherbelt wird. Jones erschafft ein großes
Panorama rund um Henrys Plantage, angefüllt mit vielen sehr unterschiedlichen
Charakteren, deren Stärke in ihrer Differenziertheit liegt. Dies ist neben der
unpathetischen Sprache und der raffiniert gekonnten literarischen Erzählweise
mit vielen Vorgriffen auf die Zukunft die dritte Stärke dieses großartigen
Romans: er stellt komplexe Menschen dar, ausgesetzt einem unmenschlichen
System, dem sie nicht entkommen wollen oder können, ohne selbst schuldig zu werden.
Ida
Jessen: Leichtes Spiel.
Joachim
ist ein arrivierter 40jähriger, er hat einen gut bezahlten Job in Kopenhagen,
einen kleinen Freundeskreis und eine große Wohnung, ein Ferienhäuschen am Meer
und als er auf einer recht langweiligen Geburtstagfeier die zehn Jahre jüngere
Susan kennenlernt, mit der er sich gut unterhält und die er per Zufall Monate
später wiedertrifft, scheint sich als fehlendes Stück in seinem perfekten Leben
auch noch sein letzter Wunsch zu erfüllen: Familienglück. Dass Susan manchmal
launisch wirkt und auch mal aus eher nichtigem Grund einen ordentlichen Krach
heraufbeschwört, schreibt er einerseits ihrer ersten unglücklichen Beziehung
zu, aus der auch ihre Tochter Ditte stammt, und ist er andererseits nur allzu
bereit zu übersehen, als ihr gemeinsamer Sohn Jacob zur Welt kommt. Doch Susan
beginnt nun, ihn immer mehr aus ihrem, ja sogar seinem eigenen Leben
auszuschließen. Obwohl Joachim sich auf der Arbeit und im Haushalt abrackert,
während nicht klar ist, was sie den ganzen Tag eigentlich tut, überschüttet sie
ihn ständig mit Vorwürfen, mit jedem Verhalten seinerseits setzt sie ihn ins
Unrecht. Joachim kommt damit überhaupt nicht zurecht, er ist von der Situation
überfordert, resigniert, nimmt alles hin in der Angst seine Familie zu
verlieren. Als es schließlich doch zur Trennung kommt, überlässt er ihr die
Wohnung, weil er nicht riskieren möchte, den Zugang zu seinem Sohn zu
verlieren. Doch Susan ist raffinierter, sie hat das Recht auf ihrer Seite und
lässt ihn zappeln, ein demütigendes Spiel beginnt. Joachim verliert seine
Freunde, seinen Job und sein Selbstvertrauen. Dann verkauft Susan die Wohnung
und zieht aufs Land. Bösartiges Psychodrama aus der Feder der uns schon
bekannten dänischen Schriftstellerin Ida Jessen (geboren 1964), die hier, wenn
auch weniger sanft, einmal mehr ihr Können beweist. Besonders gelungen sind die
vielen kleinen Andeutungen, die nie eine Aufklärung erfahren. Was hat es zum
Beispiel mit den Gewalttaten auf sich, die immer wieder im Umfeld der beiden
auftauchen? Und ist Dittes Vater wirklich der unverantwortliche Mann, als den
ihn Susan hinstellt – mit genau den Vorwürfen, die sie später Joachim macht?
Oder reagiert sie genau deshalb so destruktiv, weil sie diese Erfahrung kein
zweites Mal machen möchte? Und ist das Ende tatsächlich versöhnlich? Hatte
Susan mit Joachim nur „Leichtes Spiel“?
Thomas
Hettche: Woraus wir gemacht sind.
Niklas
Kalf schreib gerade an einer Biographie über einen vor den Nazis in die USA
geflüchteten jüdischen Wissenschaftler, als er die überraschende Einladung
eines Verlages in New York erhält, der sich für das Buch interessiert.
Gemeinsam mit seiner schwangeren Frau fliegt er das erste Mal in die Staaten,
doch das Treffen mit dem Verleger verläuft etwas kurios, dieser berichtet fast
ausnahmslos von einem grausamen Mord durch eine junge Frau im Central Park vor
einigen Jahren. Kalf und seine Frau genießen die Tage in der Stadt, bis Liz
eines nachts verschwunden ist. Ihm wird mitgeteilt, dass sie entführt wurde und
er sie gegen Informationen zurückerhalte. Doch Kalf hat nicht die geringste
Ahnung, welche Informationen man von ihm haben möchte, alles, was er über den
Wissenschaftler herausgefunden hat, ist öffentlich und nicht sonderlich
spektakulär. Zudem weiß er nicht, wem er hier trauen kann, der Verleger benimmt
sich seltsam, er warnt ihn vor der Polizei. In seinen Unterlagen findet Kalf
schließlich einen äußerst vagen Hinweis auf eine Stadt in Texas, Marfa. Da dies
aber seine einzige, wenn auch noch so geringe Spur ist, begibt er sich dorthin.
Seine Suche beginnt. So entfaltet sich ein recht spannender Plot, der sich
irgendwann im Textnirgendwo verliert. Kalf ist ein extrem mieser Spurensucher,
oft macht er tage-, wochen-, monatelang nichts, liegt im Bett und liest. Das
alles wäre als eine Art Unterlaufen von Lesegewohnheiten eines Thrillers ja
noch literarisch verschmerzbar, nur ist es leider äußerst schlecht motiviert,
noch dazu gibt es dann immer wieder Gegensignale, wo Kalf beteuert, dass er nur
noch ein Ziel kenne, nämlich seine Frau zu befreien. Da scheint das wochenlange Warten
auf irgendwelche Gelegenheiten dann doch nicht unbedingt das geeignete Mittel.
Auch als irreales Momentum lässt sich das Ganze schwer rechtfertigen, pflegt
Hettche doch andererseits einen Überrealismus, der besonders bei Beschreibungen
bis ins sprachlich Unbeholfene geht. Und so entschlüpft die Spannung dann
irgendwann aus dem Buch, warum sollte uns interessieren, wie es weitergeht,
wenn dies offenkundig nicht einmal beim Protagonisten der Fall ist? Es gibt
eine Stelle, wo Kalf, angeschossen, im Fieberwahn in einem Zimmer herumliegt
und hier hat man das Gefühl, der Roman rettet sich doch noch aus dem Dilemma,
indem das Rätsel einfach ungelöst bleibt. Leider nicht. Die Geschichte wird akribisch aufgelöst, wobei einem diese Mischung aus Sprengstoffwissenschaftler
und Satanismus wirklich gern erspart geblieben wäre. Wieder mal ein deutscher Versuch,
einen Amerika-Roman zu schreiben, mit eher unoriginellen Querverweisen auf den
politischen Hintergrund – der Roman spielt in der Zeit vom ersten Jahrestag des
11. September bis zum beginnenden Irak-Krieg – wo viel vom Sehnsuchtsland USA
und dem fallenden Imperium die Rede ist. Insgesamt einfach zu viel in einen
Text hineingepackt, ohne diese Fülle dann literarisch zu beherrschen.