Franz
Kafka: Die Briefe.
Briefsammlungen
zu lesen ist, ähnlich wie die Lektüre von Tagebüchern, eine heikle
Angelegenheit. Natürlich gibt es, manche Epochen waren – etwa der Humanismus –
berühmt dafür, Schreiber, die ihre Korrespondenz bewusst auf eine öffentliche
Mitleserschaft bereits anlegten, für Tagebuchautor:innen gilt das zumeist sogar
noch mehr, was jedoch für Kafka (1883-1924), der bekanntlich selbst seine
literarischen Werke nur ungern der Allgemeinheit zugänglich werden ließ, kaum
gelten dürfte. Wir lesen also tatsächlich die rein privaten Briefe, ein
voyeuristischer Akt, der nur durch die Prominenz – und den Tod – des Autors
leidlich legitimiert ist. Und im Nachhinein wird man sich fragen, ob man sich
damit einen Gefallen getan hat. Denn der Kafka der Briefe ist nicht unbedingt
eine angenehme oder liebenswerte Person. Insbesondere der Austausch mit seiner
mehrfachen Verlobten Felice Bauer, aber auch mit Milena Jesenská-Polak hat oft
etwas zutiefst Quälendes, Kafkas Besessenheiten gehen über das übliche –
anfangs ebenfalls vorhandene – und für Außenstehende ja nicht immer leicht
erträgliche Liebesgesäusel weit hinaus. Der selbstmitleidige, hypochondrische
Kontrollfreak, der stets in seiner Schuld und seinen Schmerzen watet, für die
er aber in subtiler Manipulation sein Gegenüber mindestens mitverantwortlich
macht, er, der sich nie festgelegen möchte, der oft Vorschläge macht, die er
dann sofort selbst wieder zu sabotieren beginnt, ist ein exzessiver Schreiber,
nicht selten, besonders in den frühen Phasen einer neuen Beziehung, werden zwei
nicht gerade kurze Briefe am Tag – beziehungsweise eher: mitten in der Nacht – zu
Papier gebracht. Und dann sofort geklagt, wenn nicht in ähnlichem Tempo
geantwortet wird. Es gibt auch den Ironiker, den Beobachter und den
hilfsbereiten und freundlichen Kafka, doch gerade gegenüber den Frauen zeigt
sich eher der Monomane, der auf uns heute bedrückend wirkt. Die bittere Ironie
ist, dass der ständig exzessive Schmerzen ausmalende Kafka schließlich
tatsächlich schwer erkrankt und schließlich früh stirbt. Die Sonderausgabe von
Zweitausendeins versammelt auf über 1200 Seiten – in kleiner Schrift – alle Briefe
Kafkas. Jedoch nur seine. Es fehlen die Korrespondenzpartiner:innen, was
naturgemäß dem Platz oder dem Nichtmehrvorhandensein geschuldet, aber eben doch ein großes Manko ist.
Vielleicht erschiene Kafka in manchem doch wieder menschlicher, würde man die
Antworten auf seine Schreiben kennen. Etwas fragwürdig ist allerdings auch die
Auftrennung der Briefe in fünf Abschnitte, das erste Kapitel versammelt
hauptsächlich Briefe an Freunde und Verleger, ein Sammelsurium, das wohl unter
dem Kriterium ‚alles, was übrigblieb‘ zusammengestellt wurde. Hier haben wir den
am wenigsten fremden Kafka vor uns. Es folgt das Kapitel Felice Bauer – das
längste und zugleich schwer erträglichste – dann die Korrespondenz mit Milena
Jesenska und schließlich, reichlich kurios, erst ein Abschnitt mit Briefen an die
Schwester Ottla, gefolgt von einem mit Briefen an die Familie allgemein, wobei
die Trennung hier nicht einmal konsequent durchgehalten wird. Nun, irgendeine
Lösung musste bei der Masse gefunden werden, ob diese wirklich gelungen ist,
sei dahingestellt. Sprachlich sind die Briefe zweifellos den Abdruck wert, als
Charakterbild sind sie aufschlussreich, sympathisch dadurch, dass aufgezeigt
wird, welche komplexe, schwierige Persönlichkeit hinter dem literarischen Genie
Kafka liegt, das er unzweifelhaft war.
Andreas
Gryphius: Leo Armenius.
Gryphius‘
(1616-1664) ‚fürsten-mörderisches Trauerspiel‘, so ein früherer Untertitel des
Dramas, nimmt sich einer Episode der byzantinischen Geschichte an, was allein
das Stück schon interessant, aber auch schwieriger macht, denn Ostrom war und
wird seltsamerweise in unseren Breitengraden recht stiefmütterlich behandelt,
seine Historie ist überwiegend Expertenwissen. Ob dies zu Gryphius‘ Zeiten viel
anders war, darf bezweifelt werden. Andererseits wird für das Drama nicht
unbedingt tiefste Kennerschaft der Konstantinopler Verhältnisse vorausgesetzt,
gut barock hat Gryphius sein Thema aufgrund seiner Beispielhaftigkeit
ausgewählt, um ein aktuelles Problem diskutieren zu können. Michael Balbus, ein
sehr erfolgreicher Feldherr, hat um sich einen Kreis von Verschwörern
versammelt, der ein Attentat auf den amtierenden Kaiser Leo Armenius plant.
Leo war einst selbst als Offizier durch eine Usurpation an die Macht gekommen
und fürchtet nun, zurecht, ähnliches für seinen Thron, so dass er das Reich mit
harter Hand führt. Doch die Verschwörung des Balbus‘ wird aufgedeckt, Leos
Berater fordern die sofortige Hinrichtung, der Kaiser ist allerdings unschlüssig und
lässt sich von seiner Frau Theodosia zur Milde umstimmen. Balbus landet im
Gefängnis, womit die Revolte nicht beendet ist. Als Priester verkleidet dringen
seine Mitverschwörer in die kaiserliche Burg ein und ermorden Leo am Altar.
Michael Balbus kann Kaiser werden. Die Monologe und vor allem Dialoge zwischen
Balbus und seinen Anhängern, ihm und dem Kaiser und letztlich zwischen ihm und
der Witwe Theodosia verhandeln das im Barockzeitalterstark diskutierte und
hochaktuelle Thema des Tyrannenmordes. Michael Balbus glaubt sich durch die
diktatorische Herrschaft Leos gerechtfertigt, diesen zu beseitigen, er ist
jedoch selbst womöglich nur ein machtgieriger Usurpator, dem jedes Mittel recht
ist – man denke an die frevelhafte Tötung des Kaisers in einer Kirche. Leo
wiederum ist zwar der offiziell rechtmäßige Herrscher, aber selbst durch
unlautere Methoden und Verrat an die Macht gekommen – und er kann sich nur
durch Unterdrückung an eben dieser halten. Theodosia verkörpert die Vernunft
und die christliche Milde, aber dadurch beschwört sie wiederum nur das Unglück
mit herauf. Angesichts der ihn umgebenden Zeitumstände sich bis aufs Äußerste
bekämpfender Fürsten im Dreißigjährigen Krieg breitet Gryphius ein Exempel aus –
das etwas wie Ratlosigkeit vor Augen führt. Klar ist nur eines, das spätere Ende
Konstantinopels vor Augen: Sich gegenseitig bekämpfende Herren im eigenen Land
fördern nur den Untergang desselben.
Anne
Bronte: Agnes Grey.
Die
jüngste der drei Bronte-Schwestern veröffentlichte – unter männlichem Pseudonym
– ihren kurzen Romanerstling gemeinsam mit der „Sturmhöhe“ Emilys, was ihrem
Buch zuträglich war und auch nicht. Einerseits wurde es dadurch
mitwahrgenommen, andererseits jedoch eher als nettes Anhängsel zum wesentlichen
durchschlagenderen Erfolg der „Wuthering Heights“ betrachtet und bald aus dem
Fokus der Aufmerksamkeit verloren. Was nicht nur schade ist, sondern dem Text
auch nicht gerecht wird. Wer Angst vor ‚großer‘ Lektüre und insbesondere derer
des 19. Jahrhunderts hat, mit der er oder sie womöglich schwulstige
Sprachungetüme verbindet, dem sei „Agnes Grey“ wärmstens empfohlen. Nüchtern
und schnörkellos erzählt Anne Bronte ihre größtenteils autobiographische Geschichte,
die genaugenommen keine sonderlich spektakuläre Handlung hat und einen doch
sofort für sich einnimmt. Die junge Agnes, jüngste Tochter in der Familie eines
Pfarrers, der mit einer ehemaligen Adligen verheiratet ist, die ihm zuliebe
ihren Stand aufgegeben hat, möchte etwas zur Verbesserung der Situation
beitragen und sich, da sie durch ihre Eltern eine gute Bildung vermittelt
bekommen hat, als Gouvernante verdingen. Mutter, Vater und Schwester sind
äußerst skeptisch, halten sie noch für unreif und der Aufgabe nicht gewachsen.
Doch Agnes setzt sich durch und kommt so in den Dienst einer neureichen
Kaufmannsfamilie. Deren Kinder sind nicht gerade die Engel, als die sie ihre
Mutter betrachtet – im Gegenteil. Die beiden nicht zu bändigenden Egoisten,
Junge und Mädchen, machen Agnes das Leben schwer, die sich extrem beherrscht,
auch weil sie an die Möglichkeit zur sanften Veränderung glaubt – Unterstützung
findet sie bei ihren Auftraggebern hierfür nicht, die die Fehler ihrer Kinder
nicht sehen wollen oder sie Agnes zuschreiben. Nach einiger Zeit wird sie
entlassen. Gedemütigt, aber nicht entmutigt kehrt sie nach Hause zurück, jedoch
nur, um einen zweiten Versuch zu starten, diesmal bei Landadeligen. Hier hat
sie sich bald nur noch um die Mädchen zu kümmern, die standesbewusst verzogen,
in ihren Mitmenschen hauptsächlich Spielzeuge zur Manipulation sehen. Doch
dieses Mal kann Agnes ihren Einfluss wenigstens unterschwellig geltend machen,
ihr Tun bleibt nicht völlig wirkungslos, wenn sich dies auch erst spät
herausstellt – und letztlich an den Um- und zuständen nichts ändern wird. Agnes
kehrt nach einigen Jahren nach Hause zurück, um nach dem Tod ihres Vaters mit
der Mutter eine Schule zu gründen. Dort trifft sie auch den Hilfspfarrer des
Landortes wieder, der ihr nun ihre Liebe gesteht. Wenn es je eine unschwülstige
Liebeserklärung in der Literaturgeschichte gab, dann ist es diese. Erzieherinnen
werden dieses Buch wohl mit einem Extravergnügen lesen, vermutlich erkennen sie
viele Charakterzüge ihrer Schützlinge und vor allem von deren Eltern wieder.
Doch Häme ist Bronte (1820-1849) fern, das Schicksal des ältesten adligen
Mädchens, das Agnes nach deren Heirat noch einmal besucht, ist ein tragisches –
wie sie es vorhergesehen hatte, ohne dies verhindern zu können.
Sophie
von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim.
Es
ist eine glückliche Kombination mit einem kleinen Makel, der allerdings für die
Betroffenen selbst keinerlei Rolle spielt: Der langjährige Freund des Barons
von P., Oberst von Sternheim, aufgrund seiner Verdienste jüngst in den
Adelstand erhoben, zog nicht nur auf eine kleine Herrschaft in unmittelbarer
Nachbarschaft, sondern bat schließlich auch um die Hand der Schwester, die
darin ebensowenig ein Problem sah wie der freudig einverstandene Baron noch
dessen Mutter, obwohl der Oberst dem Rang nach nicht den Ansprüchen ihrer
Stellung in der höfischen Hierarchie entsprach. Das Paar lebt glücklich, eine
Tochter wird geboren, den ersten schatten wirft der Tod der Mutter, doch der
Oberst sorgt für eine exzellente Erziehung seiner Tochter, insbesondere durch
den örtlichen Pfarrer, wie er auch vorbildlich sein kleines Land verwaltet. Schließlich
jedoch sterben nach und nach die Verwandten aus: der Vater, der Baron, dessen
Mutter. Das Fräulein von Sternheim kommt in die Obhut ihres Schwagers und ihrer
Schwägerin, Traditionalisten, die einst nicht mit der unstandesgemäßen Heirat
einverstanden waren. Nun aber glauben sie, die ihnen Anvertraute für ihre
Zwecke einspannen zu können – ohne deren Wissen. Sie führen sie am Hof des
Fürsten ein, dem sie andeuten, die junge Frau sei gewillt, seine nächste
Mätresse zu werden. Doch nicht nur von dort droht Gefahr: Der intrigante
Engländer Lord Derby nimmt sich vor, das Mädchen durch seine Verführungskünste
in seine Gewalt zu bringen. Während das Fräulein von Sternheim, durch ihre
Tugend gewappnet, völlig ahnungslos in diese Fallen tappt, sich dadurch ihren
eigenen Freunden entfremdet, kommt es schließlich zum Skandal: Durch Lord
Seymour, ebenfalls Engländer und seit langem in das Mädchen verliebt, aber wie
alle Höflinge glaubend, die Sternheim habe sich längst dem Fürste hingegeben,
wirft ihr öffentlich ihre Scheinheiligkeit vor, die Tugendhafte zu spielen und
hinterrücks dem Fürsten zu gefallen zu sein. Entsetzt und überstürzt lässt sich
sie sich auf den bereits wartenden Lord Derby ein, der auf diese Gelegenheit
zugearbeitet hat. Nach einer heimlichen Vermählung flieht sie mit ihm. Im
zweiten teil des Buches geht die Entwicklung noch weiter bergab: Derby verliert
schnell das Interesse an seiner ehrenhaften Pseudo-Gattin (die Hochzeit hatte
er getürkt) und verlässt sie. Sie zieht sich unter falschem Namen zurück und
widmet sich der Bildung junger Mädchen, wofür sie letztlich nach England geht.
Dort trifft sie zufällig auf Derby wieder, der sie entführen lässt und in einer
entlegenen Gegend gefangen hält. Erst als er im Sterben liegt, verrät er Lord
Seymour seine Untaten und den Aufenthaltsort der Sternheim. Doch als dieser
dort mit seinem Bruder ankommt, scheint es zu spät. Man merkt schon, es
geschieht so einiges in diesem berühmtesten Roman einer deutschsprachigen
Schritftstellerin des 18.Jahrhunderts, erschienen 1771 und sogleich große
Aufmerksamkeit erregend. Dank der Form des Briefromans mit viel Einsicht in das
Innenleben der Protagonist:innen, auch der dadurch möglichen raffinierten
Überlappung der Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven mitsamt Suspense –
also der Frage, ob und wie jemand in die gestellte Falle geht – ist der Text
noch immer sehr gut zu lesen. Natürlich ist hier die Sprache der Gefühle etwas
überschwänglicher, die Heldin tatsächlich noch eine Heldin in ihrer naiven
Tugendhaftigkeit, aber wer Freude am gepflegten Intrigenspiel hat, dem wird
Sophie von La Roches (1730-1807) Roman noch immer Freude bereiten.
Morton
Rhue: Give a Boy a Gun.
Berühmt
geworden durch sein Buch „Die Welle“ widmet sich der Jugendbuchautor Morton
Rhue (geboren 1950) – eigentlich Todd Strasser –in diesem 2000 erschienen Roman
einem damals durch den Amoklauf an der Columbine High School wieder einmal und
noch viele Male danach akuten Themas des Töten von Schüler:innen und
Lehrer:innen durch ihre Mitschüler:innen. In Form einer Doku-Fiction kombiniert
Rhue zahlreiche Zeugenaussagen der verschiedenen Beteiligten, begleitet von
Meldungen aus Zeitungen und Untersuchungsberichten über weitere Amokläufe, über
Waffengesetze und -verkäufe in den USA und Statistiken. Seine beiden
Protagonisten, die späteren Amokläufer – wobei Rhue es in vernünftiger
Zurückhaltung nicht zu einem Massaker kommen lässt – sind gemobbte Außenseiter,
in der Hierarchie ihrer Highschool, wo die von Mitschüler:innen und Personal
gehätschelten Sportstars ganz oben stehen, die sich schließlich unerwartet
dafür entscheiden, eine Schulparty in der Turnhalle zu überfallen und die Gäste
als Geiseln zu nehmen. Ihr Plan sieht – vermutlich – vor am Ende die gesamte
Halle mit Insassen, inklusive Täter, in die Luft gehen zu lassen. Doch der
akribisch vorbereitete Ablauf wird durch nicht vorausgesehene Ereignisse durcheinandergebracht.
Rhue unternimmt durch seine Methode den Versuch, möglichst allen Seiten gerecht
zu werden – während er zugleich durch die beigegebenen Kommentare eindeutig
Stellung gegen die leichte Zugänglichkeit von Waffen bezieht (wobei die Waffen
in dem Buch jedoch nicht selbst besorgt, sondern inkonsequenterweise beim
Nachbarn gestohlen werden). Letztlich wirkt der Roman aber ähnlich hilflos wie
alle Erklärungsversuche des Phänomens Schulamoklauf. Gerade der Einblick in die
beiden Protagonisten geht recht nahe ans Verständnisaufbringen, verstärkt
dadurch, dass Rhue, wie erwähnt und was bei einem an Jugendliche gerichteten
Buch auch sinnvoll erscheint, die übliche Konsequenz, nämlich ein Blutbad
auslässt und damit selbst am Ende bewusst und explizit offenlässt, ob es
überhaupt zum Äußersten gekommen wäre, bleibt ein schaler Geschmack von
Täter-Opfer-Umkehrung. Der Text entkommt folglich den Dilemmata des komplexen
Geschehens nicht und streift immer wieder an üblichen Klischees entlang (böse
Sportler, Gewalt durch Computerspiele etc.), bleibt aber nützlich als Grundlage
für eine offene Diskussion, die nicht nach einfachen Antworten verlangt.
H.D.
Everett: The Crimson Blind & Other Stories.
Endlich
mal wieder ein Band aus der schon mehrfach gerühmten Reihe „Tales of Mystery
& The Supernatural“, in diesem Fall aus der Abteilung Entdeckungen schwer
zugänglicher Texte. Und es lohnt sich, diese Entdeckung zumachen. H. D. Everett
(1851-1923) – die Kürzel stehen für Henriette Dorothy – muss leider zu den schwer
vernachlässigten Autorinnen gezählt werden, die selbst profunden Kenner:innen
der englischen Literaturgeschichte nur ein grüblerisches Stirnrunzeln entlocken
dürften. Leider. Die vorliegende Sammlung ihrer Schauergeschichten erweist sie
als einerseits klassische Vertreterin des Genres in viktorianischer Tradition,
die jedoch gleichzeitig einen ganz eigenen Ton gefunden hat. Und dieser
zeichnet sich durch eine, für phantastische Literatur ziemlich ungewöhnliche
Abgeklärtheit aus. Das mag man erstmal für eine eher unpassende Eigenschaft auf
diesem Sektor halten, schnell wird jedoch klar, wie sehr die schaurigen
Geschichten dadurch gewinnen. Zwei Vorteile bietet diese vordergründige
Nüchternheit. Everett erspart sich die typische überzogene
adjektivgeschwängerte Entsetzensrhetorik, in der ständig von nie gefühltem
Terror, unglaublichem Erschrecken, lähmender Angst etc. die Rede ist. Ihre
Protagonist:innen sind zwar durchaus keine geistergläubigen Spiritisten,
akzeptieren jedoch das Vorhandensein übernatürlicher Erscheinungen sozusagen
anstandslos. Dies wiederum erspart uns – zweitens – die sonst oft üblichen
langen Vorläufe des Unglaubens mit ihren wenig fruchtbaren Debatten um ein
Ereignis, dass wir als Leser:innen natürlich längst als übernatürlich erkannt
beziehungsweise akzeptiert haben. Everett umgeht beides, wodurch die
Geschichten keineswegs an Grusel verlieren, im Gegenteil, das Eintreten des
Irrealen sorgt für Umbrüche im Leben der Betroffenen und hat nicht selten
gravierende Folgen. An die Tradition knüpft dabei das häufige Thema des Haunted
House an, hier wird noch einmal das viktorianische Milieu mit seinen
Landhäusern, Villen und Dienerschaft vorgeführt, aber auch in oft subtiler Form
dem Untergang geweiht. Besonders die späten Geschichten sind geprägt von vielen
jungen Menschen, die verwundet aus dem Krieg zurückkommen, dem einen Schrecken
entronnen, zuhause dem nächsten ausgesetzt. Seien dies sich verformende
Taschentücher, titelgebende rote Vorhänge, Zettelchen im Ferienhaus oder
Telefonanrufe. Das Grauen liegt manchmal in den einfachen Dingen.
Else
Lasker-Schüler: Ich suche allerlanden eine Stadt.
Man
muss Else Lasker-Schüler (1869-1945), sicher die bedeutendste deutschsprachige
Dichterin des 20. Jahrhunderts, allein schon aufgrund solcher Formulierungen
wie der titelgebenden dieser Anthologie mögen. Das Buch versammelt einen Querschnitt
durch die Lyrik, durch Prosa und Briefe, stilisierte, aber auch die
resignierenden, geradezu hilflos wirkenden der letzten Jahre, es fehlt folglich
nur das dramatische Werk, dafür gibt es ein paar Zeichnungen – dazu kommen
kurze Erläuterungen, Zeugnisse von Zeitgenossen und ein ausführliches Nachwort.
Unzweifelhaft ist das hilfreich. Denn niemand wird behaupten, dass die
Literatur der Lasker-Schüler leicht zugänglich sei. Während sich die ersten
Gedichte noch im Rahmen eines traditionellen Expressionismus bewegen, dominiert
bald der Lasker-Schüler eigene Ton ihrer sprachlich verklausulierten
Eigenwelten, die autobiographisch untermauert und sprachlich brillant eine Art
persönlichen Exotismus entwickeln. Die verwendete Sprache ist dabei nicht kompliziert,
aber komplex und vor allem stark codiert. Dies wird in der Prosa, aber auch den
vielen Briefen nicht weniger deutlich. Bekannt ist Lasker-Schülers Vorliebe zum
Vergeben kreativer Namen und Titel, aber darin erschöpft sich ihre Lust am
Sprachspiel keineswegs. Dabei sollte der scheinbar fröhlich-experimentierende
Ton auch nicht über manche Härten hinwegtäuschen, Lasker-Schüler war durchaus
auch kämpferisch, was Kritik an Verlegern, Einsatz für Freunde oder das
Auftauchen der Nazis anging. Doch hinter dem exzentrischen Wesen verbirgt sich
auch viel Tragik. Als Dichterin war Else Lasker-Schüler hochanerkannt in ihren
Kreisen, aber das waren eben nicht die großen Kreise des Publikums, ständig
plagten sie immer größer werdende Geldsorgen, sie lebte mehr oder weniger in
Armut. Der Tod ihres Sohnes erschütterte sie tief, später kamen die Vertreibung
aus Deutschland, die ständige Angst vor der Ausweisung aus der Schweiz, die
schließlich auch erfolgte und das anschließende einsame Leben in Palästina
hinzu. Inzwischen muss sie fast schon wiederentdeckt werden – die Anthologie
wäre ein nicht einfacher, aber guter Anfang.