Ellery
Queen: Japanische Kriminalgeschichten.
Was
dieser Band im Jahr 1983 versucht hat, lässt ihn immer noch sehr aktuell
erscheinen: Die japanische Krimikultur in Europa – und ursprünglich natürlich
in den USA – bekannt zu machen. Denn dass dieser damalige Versuch sehr
erfolgreich war, kann nicht behauptet werden. Während sich viele andere Aspekte
der japanischen Kultur auch bei uns längst großer Beliebtheit erfreuen, genannt
seien und Comics und Horrorfilme, führt der Krimi aus Fernost noch immer ein
Nischendasein. Die Anthologie, nun auch schon ihre vierzig Jahre alt,
versammelt Kurzgeschichten, die eher von europäischen Vorbildern inspiriert
sind. Dank der hilfreichen Einführung zur Geschichte des Genres – das
tatsächlich keine sehr lange Vergangenheit aufweist – stellt sich die Frage, ob
diese offensichtliche Nähe nun ein Vorteil oder ein Hindernis für eine hiesige
Leser:innenschaft darstellt. Von den Schauplätzen und ein paar kulturellen
Besonderheiten abgesehen trifft man auf bekannte Schemata des „kriminellen“
Erzählens, hier existiert keine wahrnehmbare Barriere – vielleicht ist dies
aber wiederum der Grund, warum die japanische Kriminalliteratur keinen
zusätzlichen Extrareiz ausstrahlt. Wobei natürlich gleich gefragt werden muss,
ob das heute noch immer so ist – und wie sehr damals schon die Auswahl im
Hinblick auf westliche Leser:innen vorsortiert hat. Wie auch immer, spannend
ist das Bändchen in jedem Fall und als Ausgangspunkt für weitere Expeditionen
in dieses nur spärlich besuchte Reich der Literatur Japans durchaus
gelungen.
Caritas
Führer: Die Montagsangst.
Womöglich
hat auch manchne:r Arbeitnehmer:in Montag Angst, vermutlich jedoch eher ein
Gefühl starker Unlust. Das wird nicht selten auch für Schüler:innen gelten,
aber die Protagonistin von Caritas Führers (geboren 1957) kurzer Erzählung hat
allen Grund, sich vor dem Betreten der Lehranstalt zu fürchten. Doch es sind
weder schlechte Noten – ganz im Gegenteil – noch mobbende Mitschüler:innen,
sondern, wenn man so möchte, ein mobbendes System. Denn das Mädchen entstammt
einer protestantischen Pastorenfamilie und geht auf eine Schule in der DDR.
Dort wird sie in allem als Außenseiterin markiert und von den üblichen
Aktivitäten ausgeschlossen, worauf sie einerseits mit Bedauern, zumeist aber
mit stolzem Trotz reagiert. Am Beispiel ihrer Schwestern, die jeweils mit sehr
guten Leistungen brillieren, denen aber stets im letzten Moment das
Weiterkommen, also zum Beispiel ein Studienplatz, verweigert wird, kann sie ihr
eigenes Schicksal bereits ablesen. Zuhause herrscht eine Stimmung der
Resignation – immer von neuem versucht der Vater vergebens, durch Eingaben
seinen Kindern Zugang zur Universität zu verschaffen – und des möglichst
unauffälligen Stillhaltens. Als das Mädchen in einem Anfall von Wut über eine
verlogene Propaganda-Aussage an der Wandzeitung ein Blatt abreißt, worauf
einige Mitschüler:innen in einem Taumel von Zerstörungswut den Rest der Plakate
zerstören, scheint sie endgültig abgestempelt – denn natürlich wird sie als
Urheberin ausgemacht und als bequemer Sündenbock von ihren Schulkamerad:innen
im Stich gelassen. Dann trifft auch noch ein Brief aus einem Berliner
Ministerium ein. Mit Bangen öffnet der Vater das Schreiben. Anknüpfend an das
Schülerromangenre, in der die Perspektive des Kindes eingenommen wird, weicht
die Erzählung aber durch das spezifische Thema der DDR-Erziehung vom Üblichen
ab. Am bedrückendsten ist dabei der Opportunismus – ist er bei den
Mitschüler:innen noch erwartbar, so zeigt er sich bei den Erwachsenen,
insbesondere den Lehrer:innen, in all seiner duckmäuserischen Grausamkeit, der
hilft, das System aufrechtzuerhalten.
Siri
Hustvedt: Die Verzauberung der Lily Dahl.
In
dem schäbigen Hotel gegenüber hat sich ein Maler einquartiert, der sonst wenig
Umgang mit den Städtern pflegt, aber Lily fasziniert, die ihn von ihrer kleinen
Wohnung aus bei der Arbeit beobachtet. Sie selbst stammt aus dem Ort, arbeitet
im selben Haus unten in der Kneipe, und hat keine richtige Vorstellung von
ihrer eigenen Zukunft. Sie ist hier verwurzelt, engagiert sich in der lokalen
Theatertruppe, hat Freunde und Freundinnen, aber kann es das gewesen sein? Aus
einem ihr selbst nicht unbedingt bewussten Drang heraus präsentiert sie sich
eines Nachts nackt an ihrem Fenster, als der Maler zufällig in ihre Richtung
blickt. Kontakt ist damit hergestellt – und Lily geht kurz darauf eine
Liebesbeziehung mit dem etwas älteren, wohl auch verheirateten Mann ein, der
psychologische Portraits manch ihrer Mitbewohner malt. Ihr macht er dieses
Angebot nicht, stattdessen ihrer alten Zimmernachbarin, mit der sie sich
langsam angefreundet hat. Währenddessen gebärdet sich einer ihrer Stammkunden
aus der Kneipe immer seltsamer. Auch er hat eine Rolle in dem Theaterstück und
lässt ihr rätselhäfte Hinweise zukommen, von denen er offenkundig meint, dass
sie sich Lily erschließen würden, was jedoch nicht der Fall ist. Trotzdem ist
ihre Neugier geweckt, je weniger sie sich einen Reim darauf machen kann. Das
gilt mehr und mehr auch für das Verhalten des Malers. Gibt es gar einen
Zusammenhang? Sehr spannender Roman Siri Hustvedts (geboren 1955), der von der
Zeichnung der einzelnen Charaktere lebt und natürlich dem Rätselcharakter. Dass
die vielen Fragen keineswegs alle beantwortet werden, versteht sich von selbst.
Davide
Longo: Die jungen Bestien.
Bei
Bauarbeiten werden Skelettreste gefunden. Da sich schnell herausstellt, dass es
sich nicht um archäologische Zeugnisse, sondern um gleich mehrere Tote jüngeren
Datums handelt, wird die örtliche Kriminalpolizei unter Commissario Arcadipane
erst hinzu-, dann bald wieder abgezogen. Eine Sondereinheit nimmt sich des
Falls an, der als Fund im Umfeld des Zweiten Weltkrieges deklariert wird.
Solche verscharrten Leichen von hingerichteten Partisanen, massakrierten Juden
oder gelynchten Wehrmachtssoldaten sind keine Seltenheit, weshalb diese
Spezialtruppe eingerichtet wurde. Doch Arcadipane geht das alles zu schnell,
ohne genau sagen zu können warum, macht ihn das Vorgehen stutzig. Statt froh zu
sein, den Fall los zu werden, lässt er heimlich und illegal eine Analyse von
ihm entwendeter Knochen durchführen, die seinen Verdacht bestätigt. Die
Überreste stammen aus den 1970er Jahren und sind von jungen Menschen. Der
Commissario bringt sie mit einem nie aufgeklärten Fall eines Brandanschlages
auf den Sitz einer rechtsextremen Partei in Verbindung, bei dem ein Mann, vermutlich entgegen
der Absicht der Täter, in den Flammen starb. Zwar schien die Polizei damals
kurz davor, das Verbrechen aufzuklären, die vermuteten Täter waren aber spurlos
verschwunden. Mit Hilfe seines pensionierten Lehrmeisters, der einst an den
Ermittlungen beteiligt war, und einer strafversetzten jungen Kollegin, macht sich Arcadipane auf
die Suche nach den Hintergründen. Bald werden sich Abgründe damaliger Politik
auftun, deren Einfluss bis in die Gegenwart reicht. Obwohl auch dieser Roman
dem inzwischen etwas arg durchgekauten Klischee des psychisch angeknacksten
Kommissars mit zerrütteter Familie huldigt – was nebenbei für den Verlauf der Handlung
wenig Bedeutung hat –, ist dies aufgrund der ansonsten spannenden Geschichte
mit viel Hintergrundkolorit und der sprachlichen Kunst Davide Longos (geboren 1971)
vernachlässigbar und dem Buch nicht sonderlich abträglich. Somit auch für nicht
Krimi-Liebhaber:innen eine Entdeckung!