Bret Easton Ellis: Unter Null.
Aus heutiger Sicht gilt „Unter Null“ – Bret Easton Ellis, Jahrgang 1964, ist inzwischen schließlich auch schon knapp 60 – als Frühwerk und vor allem als Vorstudie zum späteren Meisterwerk „American Psycho“. Gänzlich verkehrt ist das natürlich nicht, aber solch eine Klassifizierung im Nachhinein mindert gleichzeitig den Eigenwert des Romans, was ihm sicher nicht gerecht wird. Clay kommt von seinem ersten Semester an der Ostküste in seine Heimat Los Angeles zurück, hängt in dieser Zeit mit seinen Freund:innen ab, nimmt etwas – leichte – Drogen – und reist nach gut vier Monaten wieder ab. Mehr passiert nicht, dazwischen herrscht reinste Inhaltsleere. Was Niemanden wundert, Niemanden stört und genaugenommen Niemandem auffällt. Die häufigste Antwort auf die Frage, was man die letzten Tage so gemacht habe, lautet – völlig zurecht: „Weiß nicht.“ Und auch sonst weiß man eigentlich nichts: Ist man noch mit seiner Freundin zusammen? War man es überhaupt? Wo sind die eigenen Eltern? Woher kennt man den oder diejenige, die einen auf der Party grüßen? War man gestern überhaupt auf dieser Party? Woher soll man die nächsten Drogen bekommen? Wohin heute Abend? Oder nach den Ferien? Alles verdämmert, hat kein Ziel, berührt einen nicht. Snuff Videos, die man nachstellt, Leichenfunde, heroinspritzende Freundinnen, sich gegen Geld prostituierende Kameraden? Nirgends mehr ein Kick, keine Verantwortung, kein Interesse. Zeigen sich bei Clay in diesem Dauerüberdruss hin zum Ende des Romans leichte Risse? „Weiß nicht“.
Jonathan Lee: High Dive.
„Moose“ Finchs Leben verlief bisher nicht unbedingt verheißungsvoll, nicht nur seine an sich durchaus erfolgversprechende Sportlerkarriere, auch seine Ehe ist gescheitert. Aus den USA als alleinerziehender Vater einer spätpubertierenden Tochter nach England zurückgekehrt, fristet er nun mit Mitte Vierzig ein wenig spektakuläres Dasein als stellvertretender Direktor eines Hotels in Brighton. Doch dann zeichnet sich ein möglicher Wendepunkt ab, die echte Chance auf einen Coup. Die Tories wollen ihren 1984er Parteitag im Hotel abhalten, mit dem Höhepunkt einer programmatischen Rede der politisch stark angeschlagenen Premierministerin Margaret Thatcher. Moose tut alles, um diese Veranstaltung ins Haus zu locken und sie nach der Zusage zum Glanzpunkt werden zu lassen, der ihm endlich den längst versprochenen Posten des Direktors verschaffen soll. Damit möchte er seiner Tochter, die an der Rezeption jobbt, den Aufstieg über ein Universitätsstudium ermöglichen – auch wenn die sich gegen eine solcherart bereits vorgezeichnete Zukunft noch wehrt. Dass Moose unter dem selbstaufgebürdeten Stress und der familiären Sorgen schließlich einen Herzinfarkt erleidet, wird ihn nicht bringen, sich diesen Höhepunkt seiner Karriere von solchen unschönen Nebenereignissen vermasseln zulassen. Was er nicht ahnt: Längst haben Aktivisten der irischen IRA sich im Hotel eingenistet und dort eine Bombe versteckt, die während der Anwesenheit Thatchers und eines Großteils ihres Kabinetts explodieren soll. Das Attentat ist perfekt vorbereitet, der Sprengsatz geht zum vorgesehenen Zeitpunkt in die Luft. Jonathan Lee (geboren 1981) schildert den historischen Anschlag aus der Sicht dreier fiktiver Charaktere: Des stellvertretenden Direktors Moose, dessen Tochter Freya und des IRA-Terroristen Dan, der das Hotel auskundschaftet und am Bau der Sprengsätze beteiligt ist. Das ist der große Pluspunkt des Romans, der diesen Charakteren viel Sympathie verleiht und sie mit Leben füllt, während die sonstige Dramaturgie in eher erwartbaren Bahnen verläuft. Naturgemäß ist der Ausgang durch die historischen Ereignisse ohnehin vorgezeichnet, bei Lee läuft er jedoch auf eine etwas schwache Es-gibt-keine-Gewinner-Moral hinaus. Das ändert aber wenig an der sonst gekonnten und spannenden Umsetzung.
Bernd Cailloux: Gutgeschriebene Verluste.
Nicht nur im Titel schien Bernd Cailloux (geboren 1945) an seinen Überraschungserfolg „Das Geschäftsjahr 1968/69“ anknüpfen zu wollen, was ihm, bedingt, mit der Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2012 zumindest auf der Kritiker:innenseite auch gelang. Vermutlich zehrte er bei der Jury vom Wohlwollen des Vorgängers, denn so richtig erschließt sich diese Ehre nicht. Anekdotisch erzählt das stark autobiographische Ich von seiner Ankunft in Berlin, den Gestalten aus der Stammkneipe, verflossenen Liebschaften, der Rechtfertigung der eigenen Aktivitäten während der Revoltenjahre um und nach 1968 und der Stimmung jener Zeit generell, auch der Auseinandersetzung um die Deutung nun fünfzig Jahre später. Nebenher gilt es noch eine wiederausgebrochene Krankheit und eine sehr wechselhafte Beziehung mit einer einige Jahre jüngeren Frau zu bewältigen, wobei auch hier Altlasten der Nach-1968er-Zeiten eine Rolle spielen. Was anfangs noch wie eine etwas erwachsenere nüchtern, aber auch mit leichtem Humor bilanzierende Version von „Herrn Lehmann“ daherzukommen scheint, plätschert bald mehr und mehr dahin, eine Handlung im eigentlichen Sinn gibt es nicht, die Charaktere bleiben blass, sprachlich ist manches missglückt, irgendwann ist das Buch zu Ende. Eine Bilanz zieht man dann besser nicht.
Jean Ray: Harry Dickson – La Bande de l’Araignée.
Als Verfasser Phantastischer Literatur müsste man sich mit dem Namen Raymundus Joannes de Kremer (1887 bis 1964) eigentlich, so möchte man meinen, keine Pseudonyme ausdenken. Doch de Kremer, der es ohnehin liebte, seine eigene Biographie völlig zu verschleiern, schuf eine ganze Palette an Aliasen, von denen Jean Ray und John Flanders lediglich die geläufigsten waren. Dass hinter dem effektiven Dauerproduzenten von Spannungsliteratur ein vermeintlich biederer belgischer Beamter steckte, blieb deshalb lange verborgen und würde de Kremer genaugenommen selbst zu einer passablen Hauptfigur eines seiner Romane machen. Neben der Phantastik – wir durften ihn bereits kennenlernen – verlegte sich der Vielschreiber auch auf die Schaffung einer Detektivfigur, die zwar als „Le Sherlock Holmes américain“ angepriesen wurde, mit dem britisch-aristokratischen Kollegen aber nur wenige Züge gemein hat. Zwar ermittelt auch er in London und Anspielungen auf die Baker Street werden hin und wieder in die Texte gestreut, doch mit den Subtilitäten Conan Doyles hat Jean Ray nichts am Hut. Seine Harry Dickson-Erzählungen sind Kolportage reinsten Wassers, nichts kann groß, gefährlich oder blutig genug sein, um die Leser:innen bei Laune zu halten. An Einfällen hat es de Kremer/Ray ohnehin nie gemangelt. Und so erhält Dickson in der Titelgeschichte täglich eine Spinne, die in sein Büro geschmuggelt wird, ohne dass er den Grund, die Methode und schon gar nicht den Überbringer identifizieren kann. Zehn Tage am Stück geht das trotz verschärfter Überwachung so, sehr zum verständlichen Ärger des düpierten Meisterdetektivs. Die Auflösung ist wenig beruhigend, hinter dem Arrangement steckt eine neugegründete Verbrecherbande, die nach eigenem Bekunden Menschen beseitigen will, die nach ihren Vorstellungen der Menschheit schlecht dienen. Dickson sieht sich herausgefordert, dieser Selbstjustiz entgegenzutreten. Doch muss er bald erkennen, dass die Methoden der Bande alles andere als leicht zu durchkreuzen sind – und er selbst zum Hauptziel wird. Dabei agiert der Kopf der Organisation ganz offen. Der ist auch Rays beste Innovation: Der kongeniale Gegner Dickson ist nämlich eine junge französische Internatsschülerin. Und sie ist Dickson durchaus gewachsen, bald schuldet man sich nicht nur gegenseitigen Respekt, sondern auch das Leben. An der tödlichen Feindschaft ändert das aber nichts. Für Liebhaber:innen sehr rasanter Spanungslektüre, über deren Realitätsgehalt man nicht den entferntesten Gedanken verlieren sollte.