Jean Rolin: Joséphine.
Bekannt wurde Jean Rolin (geboren 1949) auch hierzulande für seine Reportagen aus den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre, die in der nur sehr kurzen Erzählung „Joséphine“, der Hommage an eine Freundin, im Hintergrund eine letztlich nicht unbedeutende Rolle spielen. Rolin ist aber auch ein gewiefter Schriftsteller, was sich schon in der Struktur des Büchleins bemerkbar macht, es sind chronologisch nur grob strukturierte kurze Erinnerungstexte, anekdotische Fetzen, die aber gleichwohl ein Gesamtbild ergeben. Raffiniert ist dabei auch das sehr langsame Preisgeben alles andere als unwichtiger Fakten fast nebenher. So erfahren wir erst nach einiger Zeit, dass Joséphine tot ist – was naturgemäß gleichzeitig die Spannung nach dem Wie und Warum erhöht – oder dass sie schwer drogensüchtig war. Oder noch immer ist, beziehungsweise wieder. Auch die Kennenlerngeschichte wird erst später nachgereicht. Der Erzähler, selbst nicht ohne Erfahrung mit Drogen, glaubt Joséphine auf dem Weg der Besserung, doch darüber täuscht er sich vermutlich ebenso sehr wie über die Intensität ihrer Beziehung. Zumindest sieht er sich nicht in der Lage, sie vor dem erkannten Verfall nach einem Tod im Bekanntenkreis zu bewahren, im Gegenteil, gewissermaßen sehenden Auges reist er wider seine Intuition nach Bosnien. Er wird Joséphine nicht mehr lebend wiedersehen. Melancholische Betrachtung über den Tod der Freundin, aber auch über das eigene Nicht-Handeln. Eine traurige Amour fou, wie sie – fast schon dem Cliché nach – wohl nur französische Schriftsteller:innen ohne Kitsch und Larmoyanz zu schreiben vermögen.
James White: Das Prometheus-Projekt.
Astronomen beobachten ein Objekt in der Ferne, das sich bald als fremdes Raumschiff herausstellt. Es hält an einem Planeten an, ohne sich weiterzubewegen. Für die Menschen scheint dies endlich eine Gelegenheit, mit Außerirdischen in Kontakt zu treten, zugleich möchte man etwas über ihre Absichten und technischen Möglichkeiten erfahren. Allerdings ist man auf der Erde noch in einem frühen Stadium der Raumfahrt, man muss zwei winzige Forschungsschiffe umbauen, in die nur ein Team von je drei Leuten hineinpasst, die sich nun auf eine wochenlange Reise zu dem Objekt begeben müssen. Immerhin dürfte das Unternehmen, wie sich die Raumfahrtbehörde erhofft, endlich wieder Interesse an der vernachlässigten Erforschung des Alls wecken, weshalb man sich entschließt, das gesamte Projekt Prometheus nach Ankunft bei dem fremden Schiff live zu übertragen. Nur einer von vielen Fehlern, die noch gemacht werden würden. Nachdem die Besatzung manche Anzeichen von Lagerkoller überwunden hat und endlich an ihrem Ziel angekommen ist, reagiert das außerirdische Objekt weder auf Licht- noch akustische Signale. Wurde es verlassen oder ist es defekt? Ist es ein Hinterhalt? Oder sind die Fremden einfach so sehr von uns verschieden, dass sie diesen Versuch zur Kontaktaufnahme nicht verstehen oder vielleicht überhaupt nicht wahrnehmen können? Den Astronauten bleibt nur, sich vorsichtig Zutritt zu dem Raumschiff zu verschaffen. Doch das führt nach und nach in die Katastrophe – die gleichzeitig auf der Erde übertragen wird. Dort führt das Verhalten der Raumfahrer zu heftigen Kontroversen, die auch die Zentrale auf der Erde beeinflusst. Diese droht schließlich, die dezimierte Mannschaft im Stich zu lassen. Alles hängt nun davon ab, ob die Theorien des Arztes, der nach dem Tod des Missionschefs die Leitung innehat, sich als richtig erweisen. Doch das bleibt zweifelhaft und ohnehin muss der mit den restlichen Raumfahrern erst einmal darum kämpfen, überhaupt zu überleben. Erst dann wird sich beweisen, ob er und seine Leute als aggressive Massenmörder zu Sündenböcken werden oder sie ein außerirdisches Leben in Bedrängnis retten können. Erstaunlicher Science-Fiction Roman des Iren James White (1928 bis 1999), der anders als viele Zeitgenossen der 1960er Jahre sich nicht dystopischen Endzeitszenarien widmet, auch wenn das Buch selbst lange Zeit einen äußerst negativen Verlauf zu nehmen scheint, sondern ein letztlich sogar versöhnliches, wenn auch offenes Ende präsentiert. Sehr spannend erzählt, ohne allzu viel verwirrendes Technobabble, schreibt White auch gegen das damals noch vorherrschende Cliché des bösartigen Alien an – indem er dieses Cliché erst lange Zeit zu bestätigen scheint.
Aleksandar Tisma: Die wir lieben.
Dass wir Aleksandar Tisma (1924 bis 2003) lieben, ist natürlich völlig klar. Aber wer wird in dem kurzen Büchlein eigentlich geliebt? Und wer ist das „wir“? Denn sonderlich liebenswert sind die Protagonist:innen von Tismas Episodenerzählung eigentlich nicht. Und dies, obwohl es sich nicht um eines der düsteren Werke des Schriftstellers handelt, sondern um eine ironische Hommage an die Prostituierten der Stadt Novi Sad. Die sind allerdings allerdings alles andere als professionell, es handelt sich fast ausschließlich um Nebenerwerbsnutten, sozusagen. Die Armut, die familiäre Situation, selten auch die Frivolität oder die Sehnsucht nach schnellem, scheinbar leicht verdientem Geld, lässt die Mädchen und Frauen sich an Kupplerinnen wenden, die ihnen Männer zuführen oder auch nur Zimmer bereitstellen. Ein Vergnügen ist all das nicht: Das eigene Leben ist für gewöhnlich armselig in jeder Beziehung, die Unterkünfte sind ebenso schäbig wie die heimlichen Zimmerchen, das Verhältnis der Frauen zueinander ist selten geprägt von Wohlwollen, die Aussichten auf das große Geld sind utopisch wie die auf das große Glück, dazu kommen die gelegentlichen moralischen Anfälle der Miliz, falls sie von einem enttäuschten Kunden auf ein Lokal der Frauen aufmerksam gemacht werden. Mißgunst herrscht vor allem unter den Kupplerinnen, die sich die attraktivsten Frauen und Freier gegenseitig abspenstig machen wollen, aber gleichzeitig doch alle in derselben Misere stecken. Die Männer kommen in dem Buch nicht besser weg, sie sind getrieben von ihrer gedankenlosen Notgeilheit, handeln insgesamt verantwortungslos und nur in ihrem Eigeninteresse. Oberflächlich geht Tisma mit leichtem Tonfall an sein Thema heran, ein liebevoller Sarkasmus, der aber die triste Trostlosigkeit dieses Lebens am Rande und doch inmitten der Gesellschaft nicht verdeckt. Deshalb dürfte die Frage auf die Antwort, wen wir lieben, kaum sehr freundlich ausfallen.
Laurent Gaudé: Die Sonne der Scorta.
Es wird seine Rache sein – und zugleich, wie er weiß, sein Ende. Doch er hat fünfzehn Jahre auf diesen einen Moment gewartet. Jetzt, nach Verbüßung seiner Haftstrafe, reitet der Kleinganove Luciano Mascalzone zur Siesta-Zeit auf einem Esel in Montepuccio ein, dem abgelegenen Dorf, das er ebenso hasst wie die Menschen dort ihn. Er kennt nur ein Ziel und er erreicht es mühelos, das Häuschen seiner früheren Geliebten. Er klopft, sie öffnet ihm, scheint ihn fast erwartet zu haben, obwohl sicher niemand mit seiner Rückkehr gerade hierher rechnen konnte. Widerstandslos gibt sie sich ihm hin. Es folgt, was kommen musste, Luciano wird entdeckt, triumphierend gibt er sich den Dorfbewohnern zu erkennen, die prompt über ihn herfallen, fast schon glücklich lässt Luciano die Steinigung über sich ergehen: Er hat es ihnen allen noch einmal gezeigt, beruhigt kann er sterben. Doch er täuscht sich, nicht nur, weil ihn der Pfarrer zu retten versucht und dadurch seinen Tod qualvoll hinauszögert, sondern weil er aufgrunddessen in seinem buchstäblich letzten Moment noch erfährt, dass seine Geliebte bereits vor Jahren verstorben ist. Ihre jüngere Schwester, somit von einem Toten schwanger, begründet damit die Linie der Scortà, stolze Außenseiter im Dorf, verachtet und doch respektiert, denn die nächste Generation kann sich durch ihre Gaunereien Macht im Ort verschaffen. Deren Kinder sind ein eingefleischter Bund, der unter sich bleibt und sich doch Anerkennung verschaffen möchte, auf den verschiedensten Wegen, ehrlichen und unehrlichen, gescheiterten und in bescheidenem Rahmen erfolgreichen. Was jedoch immer gleich bleibt, ist der Zusammenhalt der Familie und die schwierige Bindung an Montepuccio. Immerhin, Laurent Gaudés (geboren 1972) Roman wurde übersetzt und in einem großen deutschen Verlag (dtv) veröffentlicht. Die Aufmerksamkeit, die ihm gebührt, hat er hierzulande – anders als in der französischen Heimat – trotzdem leider nicht erhalten. Ganz anders als Familienromane à la Buddenbrooks oder Les Thibaults schuf Gaudé die Saga einer ärmlichen und zwielichtigen Dynastie mit wunderbaren Einfällen, zweideutigen, aber doch auch liebenswerten Charakteren in einer kräftigen, kargen Sprache. Ein Leseerlebnis. Meisterlich.