Dienstag, 13. November 2018

Lektüremonat Oktober 2018.


Helmut Eisendle (Hg.): Triest – Die Stadt zwischen drei Welten.

Aus der Anthologie, zusammengestellt vom österreichischen Schriftsteller Helmut Eisendle (1939-2003), der selbst einige Jahre in der Stadt gelebt hatte, haben wir bereits Milo Dor kurz zitiert. Die drei Welten, die hauptsächlich italienische Bevölkerung der Stadt, das vorwiegend slawisch-slowenische Umland und die jahrhundertelange Zugehörigkeit zur österreichischen Donaumonarchie, der Triest einst den Aufstieg zu einer der wichtigsten Hafenstädte Europas verdankte, haben neben der Grenz- und Randlage die Geschichte mit viel Auf und Ab, Einwohner*innen und naturgemäß die Literatur geprägt. Örtliche Größen,


 
deren Ruhm kaum über die Region hinausging, Autor*innen, die jeweils im Land ihrer Sprache Berühmtheiten, darüber hinaus jedoch kaum bekannt sind, aber letztlich auch internationale Beiträger zur Weltliteratur aus Triest wie Italo Svevo – von dem auch in dieser Anthologie die besten Texte stammen – oder James Joyce, der als Sprachlehrer hier die Grundlage für so gut wie alle seine Bücher legte, sie alle sind mit Triest verbunden und dementsprechend in der Sammlung vertreten. Wie in allen Anthologien finden sich Perlen neben Durchschnittlichem, Altbekanntes neben Entdeckungen, Kleinräumiges neben Weltweisendem, wie es schließlich besonders gut zu einer Stadtbeschreibung mit viel Fassaden und Facetten passt, die mal für Weltläufigkeit, mal für abgeschiedenen Niedergang stand und stets auch dank ihrer inneren Rivalitäten und Widersprüchlichkeiten Interessantes hervorgebracht hat. 
 

Aleksandar Tisma: Die Schule der Gottlosigkeit.

Vier Erzählungen des serbischen Schriftstellers (1924-2003), die alle mit der Erfahrung des 2. Weltkrieges zusammenhängen. In den beiden Geschichten „Schneck“ und „Die Wohnung“ sind es die Wirkungen der Kriegserlebnisse auf die unmittelbare Gegenwart der Protagonisten, in „Die schlimmste Nacht“ und „Die Schule der Gottlosigkeit“ sind wir einmal Augenzeugen eines Opfers, einmal eines Täters. „Die schlimmste Nacht“ ist die Nacht vor der Gewissheit des jüdischen Familienvaters, mitsamt Frau und Tochter am nächsten Morgen von der deutschen Besatzungsmacht ins KZ abtransportiert zu werden. Was sind die Optionen? Widerstand, Flucht, Selbstmord…? Noch bevor er sich zu einem Entschluss durchringen kann, wird es Tag. Ist diese Erzählung schon hart genug, dann gehört die Titelgeschichte sicher mit zum verstörendsten, was die Weltliteratur zu bieten hat. In nüchterner Sprache und aus der Perspektive des noch jungen Folterers lässt uns Tisma teilhaben an dem brutalen Verhör eines Mannes durch die ungarische Geheimpolizei des faschistischen Regimes. Dabei verfällt Tisma nicht in irgendwelche voyeuristischen Grausamkeiten oder das Abdriften in Splatter, sondern schildert die Vorgänge in so eindrücklicher Brutalität, dass es schwerfällt, das Buch nicht beiseitezulegen. Der junge Folterer ist Unmensch und Mensch zugleich, unsicher, abgelenkt von seinem Sohn, der schwerkrank zuhause liegt und um den er sich sorgt. Doch gerade dies und der Druck, sich vor Kollegen und Vorgesetzten zu bewähren, führt nur zu einer verstärkten Wut auf sein Opfer, über das wir wenig erfahren, außer dass es, bereits schwer misshandelt, schweigt. Obwohl es nicht mehr nötig ist – ein Mitgefangener hat inzwischen gestanden – kann sich der Folterer nicht von seinem Opfer lösen, eine Art sexueller Faszination, aber auch eine verquere Identifikation mit dem Sohn lassen ihn jegliches Maß verlieren und wie im Rausch den Wehrlosen qualvoll töten. Doch Tisma geht weiter – nicht nur ist dieser Tod sinnlos, es gibt für den Leser und die Leserin keinen Trost. Selbst der Folterer glaubt, zur Sühne für seine Untat würde nun wohl sein Kind sterben müssen – in einer Art perversem Ausgleich. Doch ein Anruf zuhause versichert ihm, dass es dem Sohn sogar besser geht. Der Folterer ist erleichtert: es gibt keinen Gott, keine höhere Gerechtigkeit. Und was macht der Text mit uns? Eine Geschichte von unglaublicher Wirkung, schwer zu ertragen, abgrundtiefe Literatur auf seltener Höhe!  
 

David Vann: Dreck.

Der 22jährige Galen lebt noch immer bei seiner alleinerziehenden Mutter auf einer einsamen Walnussfarm irgendwo in der amerikanische Provinz, ziellos und sich von ihr aushalten lassend, was ihn nicht hindert, sie zu verachten und mies zu behandeln. Nicht angenehmer ist der Umgang mit dem Rest der Familie, der dementen Großmutter, seiner zynischen Tante mit ihrer nymphomanischen 17jährigen Tochter, auf die der sexuell frustrierte Galen scharf ist – und die ihn benutzt und gewähren lässt. Dies liest man so vor sich hin und fragt sich, warum man sich mit diesen unsympathischen Charakteren, die sich in einem fort streiten, beschäftigen soll. Der Kniff des Erzählers ist, nach gut 150 eine Extremsituation heraufzubeschwören, in der klar wird, dass Galen, dessen Perspektive wir einnehmen, nicht nur einen Spleen hat – er ist leidenschaftlicher Esoteriker, der sich ständig in Meditationen und Visionen hineinsteigert –, sondern ein ausgewachsener Psychopath ist, der nun daran geht, seine Mutter, die ihn ins Gefängnis bringen will, quälend langsam zu ermorden. Das kann man für literarisch raffiniert halten, aber sei es aufgrund von persönlichen Vorlieben oder auch der vorherigen Lektüre von Tismas Texten, so recht Gefallen mag sich an der Inszenierung von Brutalität zu Unterhaltungszwecken nicht einstellen. Und mehr ist es auch nicht, weder wird sprachlich brilliert, noch geht das Ganze allzu sehr in die Tiefe. Dass esoterische Selbstsuche und Ichversunkenheit Egozentriker und nicht unbedingt Mitmenschlichkeit hervorbringen, ist keine welterschütternde Neuigkeit.  David Vann (geboren 1966) ist mit seinen Romanen sehr erfolgreich – in Deutschland wird er immerhin bei Suhrkamp verlegt – es wird ihm also egal sein, dass wir von diesem Erfolg wenig halten.  


Andrew Sean Greer: Die Nacht des Lichts.

Am Ende seines Romans dankt Andrew Sean Greer (geboren 1970) unter anderem einem Freund, der ihm die Idee zum Titel überließ. Man denkt sich dann ein bisschen, „naja, so mördermäßig toll ist der Titel nicht“, nur um dann festzustellen, dass das Buch im Original durchaus originell  „The Path of Minor Planets“ heißt, während man, warum auch immer, offenbar glaubte, für die deutsche Übersetzung auf das biedere Pseudoparadoxon zurückgreifen zu müssen. Nun ist es ja stets wohlfeil, sich über misslungene deutsche Titel aufzuregen – es gibt zahlreiche hervorragende Gegenbeispiele – aber in diesem Falle hat das Original einfach den Vorteil, dass es wesentlich besser gepasst hätte, denn es geht vordergründig um einen gut alle sechs bzw. zwölf Jahre wiederkehrenden Meteoriten, zu dem der einstige Entdecker einen Freundes- und Kollegenkreis einlädt, um eben jenes Ereignis der Rückkehr des kleinen Himmelskörpers und der weitesten Entfernung zu feiern. Die eigentlichen kleinen Planeten, um die sich alles dreht, sind die Personen, die dann wieder auf der Insel versammelt sind, wo der Komet am besten zu beobachten ist – und es ist der Pfad von deren Leben, den wir verfolgen. Greer verwebt die verschiedenen Lebensläufe gekonnt, unspektakulär und doch spannend, dieses und jenes klärt sich in Nebensätzen erst Jahre oder Jahrzehnte auf, manche Zusammenhänge werden einem erst klar, dann aber als falsch entlarvt. Und wie bei dem Kometen stellt sich für die Teilnehmer stets von Neuem die Frage, ob er wiederkommt oder ausbleiben wird, so wie der Kreis der Beobachter letztlich kleiner wird und mancher auf immer verschwindet. Ein kluges, ein gutes Buch.     
 

Régis Debray: Der Einzelgänger. 

Ein autobiographischer Roman von Régis Debray (geboren 1940) – der, nebenbei, im Original „L’Invisible“ heißt, womit nun jede*r selbst über den deutschen Titel urteilen möge – verspricht viel: Debray war nicht nur Wegbegleiter Chè Guevaras, dafür im Gefängnis inhaftiert, guter Bekannter der ersten RAF-Führung, Berater von Salvador Allende und später Francois Mitterand, nebenbei begründete er mit der Mediologie einen eigenen Wissenschaftszweig und schrieb nicht wenige sehr einflussreiche theoretische, journalistische und eben auch literarische Werke. „Der Einzelgänger“, 1975 auf Französisch, 1979 auf Deutsch erschienen, behandelt die Probleme des Guerillakampfes aus der Innensicht der Gruppen, geschildert von einem Schweizer Sympathisanten, der sich auf deren Seite engagiert. Das ist auch mehr oder weniger die Handlung, sofern man von einer solchen überhaupt reden möchte. Ein paar wenige Aktionen und etwas Liebesgeplänkel geben lediglich den Hintergrund ab für seitenlange Gespräche und Reflexionen über das Versagen des Guerillakampfes und die daran Schuldtragenden. Kann sein, dass man so etwas Mitte der Siebziger Jahre begierig verschlungen hat, für eine*n heutige*n Leser*in gilt: Debrays Roman ist wie das Fleisch der Affen, das die Guerilleros im Dschungel aus der Not heraus essen: sehr zäh.  
 

René Barjavel: Ravage.

René Barjavel (1911-1985) gilt als der Urvater und sein 1943 erstmals erschienenes Buch „Ravage“ („Verwüstung“) als der Gründungsroman der französischen Science-Fiction. Liest man den ersten Abschnitt von vieren, könnte man glauben, man befinde sich inmitten einer klassischen Liebesintrige vor futuristischem Hintergrund: ein junges Mädchen wird vom einflussreichen Medienmogul als zukünftiger Star ausgemacht; als der Nachbarsjunge Francois Deschamps aus dem Dorf ebenfalls in Paris auftaucht, setzt der mächtige Konkurrent alle seine Möglichkeiten erfolgreich in Bewegung, um dessen Start in der Großstadt scheitern zu lassen. Dies alles vor dem Hintergrund der 2050er Jahre, wobei der Roman hier wie viele frühe Werke der SF etwas daran krankt, zuviel an Erstaunlichem beschreiben zu wollen und darüber die Handlung zu vernachlässigen. Ab dem zweiten Abschnitt ändert sich dies jedoch, wie überhaupt der ganze Roman einen Umschwung erfährt. Südamerika erklärt Nordamerika den Krieg und kurz darauf wird Paris – und, wie sich herausstellt, das gesamte Land – von einem Stromausfall betroffen. Fatal für eine Gesellschaft, die völlig von der Elektrizität abhängig ist. Was so fortschrittlich erschien, wendet sich nun gegen die Menschen: ohne Strom funktioniert rein gar nichts mehr, es gibt kein Wasser mehr, keine Medizin, kein irgendwas. Alle Transportfahrzeuge, die sich inzwischen in der Luft bewegen, stürzen ab, die eingefrorenen Toten tauen auf und verursachen Krankheiten, der nutzlose Technikmüll in den Straßen verursacht Brände. Barjavel zeichnet mehr und mehr ein Horrorszenario, das der New-Wave-SF der 60er Jahre in nichts nachsteht, insbesondere, da sich nun die Menschen auf der Suche nach Nahrung bald gegenseitig in die Haare geraten. Nicht genug, lässt Barjavel schließlich erst Paris, dann das gesamte Land in einem riesigen Feuerbrand untergehen. Eine kleine Gruppe um das Mädchen und verschiedene Überlebende unter Führung Francois Deschamps‘ suchen den mühsamen Fluchtweg Richtung Süden ins Gebirge. Dabei werden sie dezimiert und auf primitive Praktiken zurückgeworfen – auch was das Ausschalten der Konkurrenz angeht. Am Ende gelingt es der kleinen Anzahl, eine neue Gemeinschaft in einem Bergtal zu gründen, doch die Sehnsucht der Menschen, sich das Leben durch Technik zu erleichtern, ist trotz der katastrophalen Folgen nicht ausgestorben. Das letzte Kapitel ist etwas stark vom Zeitgeist abhängig ein Lob des Tatmenschen Francois, schon vorher eine nicht unproblematische Figur. Insgesamt jedoch besonders im Mittelteil ein furioses Werk, das bis heute als eines der besten französischen Science-Fiction-Romane gilt. 

Edzard Schaper: Der letzte Advent.

Edzard Schaper (1908-1984) war ein in der Frühzeit der Bundesrepublik äußerst erfolgreicher, heute etwas in Vergessenheit geratener Autor, was wohl daran liegt, dass er sich gerne Themen um religiöse Grundfragen widmete. Dies gilt auch für „Der letzte Advent“, ursprünglich 1949 erschienen, der Geschichte eines orthodoxen Priesters, der, nachdem beim Einsturz seiner baufälligen Kirche in Estland neben weiteren Gemeindemitgliedern sein direkt neben ihm stehender Kollege erschlagen, er aber verschont wurde, in eine tiefe Sinnkrise gerät. Er zieht sich in ein Kloster zurück, doch der Abt dort beauftragt ihn, sich heimlich in die stalinistische Sowjetunion zu begeben, um dort die versreuten und unterdrückten Christen zu betreuen. Dies geht nicht lange gut, die kleine Gemeinde wird aufgespürt und gerät in die Verhörkeller der Sowjets. Hat man sich an die leicht, aber nicht übertrieben pathetische Sprache gewöhnt, entwickelt der Text nach einiger Zeit durchaus seinen eigenen Sog, der von den diversen Gewissenskonflikten der Figuren lebt – schließlich werden hier zeitlos gültige Fragen verhandelt. Noch spannender ist nur das Leben Schapers selbst, eines Schulabbrechers, der sich mit diversen Berufen in verschiedenen Ländern durchschlug, bis er ab den 1930er Jahren quasi auf der Dauerflucht vor den politischen Verhältnissen war, es sogar zu der damals nicht gerade hilfreichen Ehre brachte, in Abwesenheit sowohl von der Sowjetunion als auch von den Nazis zum Tode verurteilt zu werden, der für Finnland spionierte und kämpfte, um dann doch noch ein angesehener Schriftsteller zu werden. Es wird sich folglich auch lohnen, eine Biographie über ihn zu lesen.      

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen