Das war’s dann.
Nach gut 15 Jahren. Manchem mag es übertreiben erscheinen, den Verlust seines
Rucksacks zu betrauern, aber wer weiß, dass ich alle Dinge geradezu hasse, die
es verunmöglichen, beide Hände frei und nutzbar zu haben, also Tüten, Koffer,
Reisetaschen, Regenschirme sowieso, aber auch Handschuhe, obwohl die sich
manchmal kaum vermeiden lassen, der wird zumindest nachvollziehen können, dass
der Rucksack für mich das liebste Transporthilfsmittel war (und ist).
Umhängetaschen sind für das kleine Zwischendurch ja ganz nett, aber jede
Schulter wird sich nach einem Bibliotheksbesuch gründlich und einseitig
beschweren. Passiert mit einem Rucksack nicht – da beschweren sich dann
wenigstens beide Schultern – und das ist Demokratie!
Jetzt krümmt
sich das gute Stück – der Rucksack, nicht die Schulter – hier in der Ecke,
nachdem ich ihn komplett ausgeräumt habe für den allerletzten Gang, von dem ich
noch nicht entschieden haben, wohin er führen soll. Dabei war es keine Liebe
auf den ersten Blick, als er das erste Mal aufgetaucht ist. Ein Geschenk meiner
Eltern, mitgebracht als Schnäppchen von einer Messe in Nürnberg (Touristik,
nicht katholische). Das Ding sah irgendwie kubistisch und klobig aus, eher wie
ein Tornister. Nicht zu vergleichen mit seinem Vorgänger, der noch im aktiven
Dienst war, wenn auch ziemlich ramponiert. Aber einfach ersetzen wollte ich ihn
deshalb noch keinesfalls. Schließlich hatte ich auch zu ihm eine innige
Beziehung. Selbst gekauft anno 1997 in Cochem an der Mosel während eines
Urlaubs, allein diese Erinnerung war hochzuhalten, dazu war das gute Stück
komplett aus Leder und hatte echte Metallschließen, nichts Künstliches an sich.
Auch sonst war er schnörkellos, machte dem Begriff RuckSACK alle Ehre, einfach
ein großer Beutel zum Tragen auf dem Rücken, ohne Zwischenfächer, einfach rein
das Zeugs – fertig. Ein Schulkamerad sagte mir viel später, das sei doch ein
Mädchenrucksack gewesen. Also abgesehen davon, dass mir auch das herzlich wurscht
gewesen wäre, ist mir nicht so ganz klar, warum ein großer schwarzer Rucksack
ein Mädchenrucksack gewesen sein soll. Ein kleiner pinkfarbener mit „Hello
Kitty“-Aufdruck womöglich ja, ein schwarzer Lederrucksack eher nicht. Ob für
Jungs oder Mädchen, sein Manko bestand darin, nicht sonderlich beständig zu
sein. Schon nach absehbarer Zeit war die Metallschließe Geschichte. Das war
verkraftbar, das schwere Leder hielt die Abdeckung auch so unten. Dummerweise
rissen öfter die Tragegurte, ein dann doch relativ essentieller Teil bei einem
Rucksack. Gleichwohl darf sich glücklich schätzen, wer eine Heimatstadt hat, in
der noch ein waschechter Schuster seines Amtes waltet und solches Malheur für
damals noch Pfennigbeträge beseitigen konnte.
Aber irgendwann
hat das schließlich auch nichts mehr genutzt. Und der Ersatz stand ja nun schon
bereit. Der hatte allerdings rein gar nichts außer dem Namen Rucksack mit dem
Vorgänger gemein und vermutlich wäre mein Klassenkamerad bei ihm nie auf
die Idee verfallen, es könnte ein Mädchenrucksack sein. Das Material war ein
undefinierbarer Kunststoff, die Form irgendwie, wenn auch nicht wirklich eckig,
zum Großraumfach gab es allerlei dazu. An den Seiten unten hatte er rechts und
links zwei kleine nicht verschließbare Fächer, in die man bestenfalls eine
0,5l-Flasche hineinstecken konnte. Das hab ich auch ab und zu gemacht, immer in
der Angst, sie wurde irgendwann beim Laufen rausflutschen. Sind sie nie, aber
das miese Gefühl, sie könnten, reichte schon. Darum war der einzige Nutzen
dieser dem Regen ausgesetzten Seitenfächer, rechts eine Notfallplastiktüte
reinzustecken und links eine Packung Taschentücher, die regelmäßig nach ein
paar Jahren total durch die Feuchtigkeit verformt und verfärbt ausgewechselt
werden mussten.
Nahaufnahme: Bepackt mit Büchern im Innern und Fräulein Annika oben drauf - eine der letzten Rucksackreisen. |
Ähnlich
hilfreich war das vorne angefügte mittlere verschließbare Fach. Es hätte
durchaus nützlich sein können (zum Beispiel um separat die Brotzeit
unterzubringen), wäre es nicht innerlich noch einmal in mehrere
Sonderabteilungen unterteilt gewesen. Damals ein absoluter Clou – wie gesagt,
dass Ding stammte von einer Messe, offenbar also ein innovativer Prototyp – war
ein Handyfach, noch gedacht für klassische Nokiaknochen. Eine Vorrichtung, die
nie ein Mensch je genutzt hat, ebenso wie die drei Fächerchen für Stifte. Der
Idee des Erfinders getreu habe ich dort Kugelschreiber reingesteckt und dann
jeweils nach ein paar Jahren der sanften Ruhe mit vertrockneter Mine
weggeschmissen. Der Rest des Faches war immerhin gut für Pflaster und
Ersatzbatterien, beides öfter mal gebraucht. Und dann gab es noch in der
Vorderwand des Rucksacks das absolut unnützeste aller Fächer. Dort hätte man
sinnigerweise ungefähr ein oder zwei Blatt Papier unterbringen können, alles
darüber hätte nur in den Innenraum gedrückt und dort Platz weggenommen.
Klingt schlimm.
Aber. Da war am mittleren Fach ganz vorne noch ein unscheinbares, aber
unglaublich nützliches Teil: ein schmales Einsteckfach. Und da ging ein Buch
rein (auch Karten aller Art, von Wander- bis Fahr-), egal wie dick, Lustiges Taschenbuch
oder Ulysses, immer greifbar, schnell reingesteckt, schnell rausgezogen.
Genial. Gut, allein deshalb wären wir wohl nie Freunde geworden, in der Bilanz
nützliche zu unnützen Fächern steht es bislang eher ungleich 1-4. Aber da war
ja noch das Hauptfach. Das hatte hinten innen auch noch ein großes Einsteckfach
– das war nicht ganz so dumm, da gingen Zeitungen oder der Laptop rein. Und
dann war da eben noch der Hauptstauraum. Ein Studienkollege, der des öfteren
gemeinsam mit zum Einkaufen in den Supermarkt ging, verfolgte eines Tages den
Weg der Waren vom Wagen in den Rucksack und meinte: „Ich wundere mich jedes
Mal, was Du da immer alles reinkriegst, das ist ja das reinste schwarze Loch!“.
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, das war mir so noch nie bewusst aufgefallen
– ein typisches Phänomen – aber er hatte natürlich völlig recht. Ich hatte mir
vor den Regalen noch nie Gedanken gemacht, ob ich die vier Tetrapaks zusätzlich
noch unterbringe, das Ding schluckte einfach widerspruchslos alles und ich hatte
ihm kein einziges Mal dafür gedankt. Bis zu jenem Tage. Wie gesagt, er war
klobig, aber von außen nicht auffällig groß. Trotzdem verschwand alles in ihm,
was man so reinschmiss – und es kam auch wieder raus, ohne Trümmerbrüche und
schwere Quetschungen.
Und er musste
wahrlich was er-tragen! Schließlich war er mit einem Besitzer geschlagen, der
an keinem Bücherladen mit Ramschkiste, an keinem Bücherkasten, Bücherstand, an
keiner Bibliothek vorbeigehen konnte, ohne stapelweise Papier in ihn
reinzuschlichten. Ungelogen dürfte ich im Laufe der 15 Jahre mehrere Tonnen an
Büchern von hier nach da geschleppt haben. Und im Gegensatz zu Nudelpackungen
oder Gummibärchentüten sind die eher unflexibel. Ging alles irgendwie, so sehr
der Rucksack dabei auch aufquoll. Das schon nach kürzester Zeit der
Reißverschluss auf der einen Seite komplett versagte, hatte damit nichts zu
tun, ebenso wenig wie die baldige Kapitulation des ohnehin beklopptesten
Bestandteils überhaupt, des Bauchgurtes für Hochgebirgsgroßstädter von Rainer-Calmund-Format.
Dessen Plastikschließe brach doch etwas arg früh auseinander, ließ sich aber
weiterhin notdürftig zusammenstecken, nur dass das Band jetzt eben wie Gekröse
vorne herumhing, was, wie mir irgendwann auffiel, viele mir begegnende
Fußgänger irritierte. War mir aber wiederum wurscht.
Und so ging’s
durch die Lande, im Laufe der Jahre lag der Rucksack im Ostseesand, auf
Almweiden, in zahlreichen europäischen Ländern und trug oft die gesamte
Ausrüstung für mehrere Tage. Proviant, Kleidung, Kulturbeutel und natürlich
Bücher. Und dazwischen der übliche Alltagsdienst. Gelegentliche Katastrophen
blieben nicht aus. So in Karlsruhe auf der Reise nach Paris, als mir dünkte,
ich könnte mir hier am Bahnsteig sitzend doch ruhig einen Schluck aus der Pulle
Orangensaft gönnen, die sich aber unglückseligerweise bereits vollends in
meinen Rucksack ergossen hatte, der gerade anfing, eine hübsche Pfütze unter
meine Bank zu tropfen. Hab ihn trotzdem in den TGV geschmuggelt, wo
wahrscheinlich jetzt noch ein Fleck im Bodenbelag an Sitzplatz X prangt. Meine
Klamotten waren gut durchtränkt, hatten vielversprechende orangene Punkte
bekommen und waren vorerst eher nicht mehr zu gebrauchen. Ganz anders der gute
Rucksack. Im Hotel ausgeräumt, geputzt und zum Trocknen aufgehängt, hat er
anschließend weder geklebt noch gemüffelt. Ganz so glimpflich ging es nicht aus
mit dem Kaugummi, den mir ein Arschloch – ich weiß nicht wann, wie und schon
gar nicht warum – in das Innere des Rucksacks geklebt hatte. Der war eklig und
hartnäckig und ging nie vollends raus. Aber man konnte ihn irgendwann
ignorieren.
Und wie ein
alter Elefant hat sich mein Rucksack wohl entschlossen, in der Heimat sterben
zu wollen und im Frankenwald seine letzte Naht auszuhauchen. 15 Jahre
unglaublich robust, ging am Ende alles ganz schnell. An einer ziemlich dummen
Stelle bildete sich ein kleiner Riss, der täglich links und rechts gut 1 cm
zunahm. Nach einer Woche klaffte folglich in dem Rucksack eine ziemlich große
Wunde, von der man wusste, das ist das irreparable Ende. Und doch erwies er
einen letzten Dienst, um die Übergabe an den Nachfolger reibungslos zu
gestalten und reiste, mit Sicherheitsnadeln geklammert, noch einmal zurück an
den Bodensee. Es hätte nicht regnen dürfen an dem Tag.
Und nun steht er
da und harrt seines Schicksals. Sein Nachfolger bereits wartend daneben, der
auf mich keinen guten Eindruck macht. Aber das kennt man schon.