Donnerstag, 24. August 2017

Adieu, schwarzes Loch! – Nekrolog auf meinen Rucksack.


 
Das war’s dann. Nach gut 15 Jahren. Manchem mag es übertreiben erscheinen, den Verlust seines Rucksacks zu betrauern, aber wer weiß, dass ich alle Dinge geradezu hasse, die es verunmöglichen, beide Hände frei und nutzbar zu haben, also Tüten, Koffer, Reisetaschen, Regenschirme sowieso, aber auch Handschuhe, obwohl die sich manchmal kaum vermeiden lassen, der wird zumindest nachvollziehen können, dass der Rucksack für mich das liebste Transporthilfsmittel war (und ist). Umhängetaschen sind für das kleine Zwischendurch ja ganz nett, aber jede Schulter wird sich nach einem Bibliotheksbesuch gründlich und einseitig beschweren. Passiert mit einem Rucksack nicht – da beschweren sich dann wenigstens beide Schultern – und das ist Demokratie!
Jetzt krümmt sich das gute Stück – der Rucksack, nicht die Schulter – hier in der Ecke, nachdem ich ihn komplett ausgeräumt habe für den allerletzten Gang, von dem ich noch nicht entschieden haben, wohin er führen soll. Dabei war es keine Liebe auf den ersten Blick, als er das erste Mal aufgetaucht ist. Ein Geschenk meiner Eltern, mitgebracht als Schnäppchen von einer Messe in Nürnberg (Touristik, nicht katholische). Das Ding sah irgendwie kubistisch und klobig aus, eher wie ein Tornister. Nicht zu vergleichen mit seinem Vorgänger, der noch im aktiven Dienst war, wenn auch ziemlich ramponiert. Aber einfach ersetzen wollte ich ihn deshalb noch keinesfalls. Schließlich hatte ich auch zu ihm eine innige Beziehung. Selbst gekauft anno 1997 in Cochem an der Mosel während eines Urlaubs, allein diese Erinnerung war hochzuhalten, dazu war das gute Stück komplett aus Leder und hatte echte Metallschließen, nichts Künstliches an sich. Auch sonst war er schnörkellos, machte dem Begriff RuckSACK alle Ehre, einfach ein großer Beutel zum Tragen auf dem Rücken, ohne Zwischenfächer, einfach rein das Zeugs – fertig. Ein Schulkamerad sagte mir viel später, das sei doch ein Mädchenrucksack gewesen. Also abgesehen davon, dass mir auch das herzlich wurscht gewesen wäre, ist mir nicht so ganz klar, warum ein großer schwarzer Rucksack ein Mädchenrucksack gewesen sein soll. Ein kleiner pinkfarbener mit „Hello Kitty“-Aufdruck womöglich ja, ein schwarzer Lederrucksack eher nicht. Ob für Jungs oder Mädchen, sein Manko bestand darin, nicht sonderlich beständig zu sein. Schon nach absehbarer Zeit war die Metallschließe Geschichte. Das war verkraftbar, das schwere Leder hielt die Abdeckung auch so unten. Dummerweise rissen öfter die Tragegurte, ein dann doch relativ essentieller Teil bei einem Rucksack. Gleichwohl darf sich glücklich schätzen, wer eine Heimatstadt hat, in der noch ein waschechter Schuster seines Amtes waltet und solches Malheur für damals noch Pfennigbeträge beseitigen konnte.
Aber irgendwann hat das schließlich auch nichts mehr genutzt. Und der Ersatz stand ja nun schon bereit. Der hatte allerdings rein gar nichts außer dem Namen Rucksack mit dem Vorgänger gemein und vermutlich wäre mein Klassenkamerad bei ihm nie auf die Idee verfallen, es könnte ein Mädchenrucksack sein. Das Material war ein undefinierbarer Kunststoff, die Form irgendwie, wenn auch nicht wirklich eckig, zum Großraumfach gab es allerlei dazu. An den Seiten unten hatte er rechts und links zwei kleine nicht verschließbare Fächer, in die man bestenfalls eine 0,5l-Flasche hineinstecken konnte. Das hab ich auch ab und zu gemacht, immer in der Angst, sie wurde irgendwann beim Laufen rausflutschen. Sind sie nie, aber das miese Gefühl, sie könnten, reichte schon. Darum war der einzige Nutzen dieser dem Regen ausgesetzten Seitenfächer, rechts eine Notfallplastiktüte reinzustecken und links eine Packung Taschentücher, die regelmäßig nach ein paar Jahren total durch die Feuchtigkeit verformt und verfärbt ausgewechselt werden mussten.
Nahaufnahme: Bepackt mit Büchern im Innern und Fräulein Annika oben drauf - eine der letzten Rucksackreisen.

Ähnlich hilfreich war das vorne angefügte mittlere verschließbare Fach. Es hätte durchaus nützlich sein können (zum Beispiel um separat die Brotzeit unterzubringen), wäre es nicht innerlich noch einmal in mehrere Sonderabteilungen unterteilt gewesen. Damals ein absoluter Clou – wie gesagt, dass Ding stammte von einer Messe, offenbar also ein innovativer Prototyp – war ein Handyfach, noch gedacht für klassische Nokiaknochen. Eine Vorrichtung, die nie ein Mensch je genutzt hat, ebenso wie die drei Fächerchen für Stifte. Der Idee des Erfinders getreu habe ich dort Kugelschreiber reingesteckt und dann jeweils nach ein paar Jahren der sanften Ruhe mit vertrockneter Mine weggeschmissen. Der Rest des Faches war immerhin gut für Pflaster und Ersatzbatterien, beides öfter mal gebraucht. Und dann gab es noch in der Vorderwand des Rucksacks das absolut unnützeste aller Fächer. Dort hätte man sinnigerweise ungefähr ein oder zwei Blatt Papier unterbringen können, alles darüber hätte nur in den Innenraum gedrückt und dort Platz weggenommen.
Klingt schlimm. Aber. Da war am mittleren Fach ganz vorne noch ein unscheinbares, aber unglaublich nützliches Teil: ein schmales Einsteckfach. Und da ging ein Buch rein (auch Karten aller Art, von Wander- bis Fahr-), egal wie dick, Lustiges Taschenbuch oder Ulysses, immer greifbar, schnell reingesteckt, schnell rausgezogen. Genial. Gut, allein deshalb wären wir wohl nie Freunde geworden, in der Bilanz nützliche zu unnützen Fächern steht es bislang eher ungleich 1-4. Aber da war ja noch das Hauptfach. Das hatte hinten innen auch noch ein großes Einsteckfach – das war nicht ganz so dumm, da gingen Zeitungen oder der Laptop rein. Und dann war da eben noch der Hauptstauraum. Ein Studienkollege, der des öfteren gemeinsam mit zum Einkaufen in den Supermarkt ging, verfolgte eines Tages den Weg der Waren vom Wagen in den Rucksack und meinte: „Ich wundere mich jedes Mal, was Du da immer alles reinkriegst, das ist ja das reinste schwarze Loch!“. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, das war mir so noch nie bewusst aufgefallen – ein typisches Phänomen – aber er hatte natürlich völlig recht. Ich hatte mir vor den Regalen noch nie Gedanken gemacht, ob ich die vier Tetrapaks zusätzlich noch unterbringe, das Ding schluckte einfach widerspruchslos alles und ich hatte ihm kein einziges Mal dafür gedankt. Bis zu jenem Tage. Wie gesagt, er war klobig, aber von außen nicht auffällig groß. Trotzdem verschwand alles in ihm, was man so reinschmiss – und es kam auch wieder raus, ohne Trümmerbrüche und schwere Quetschungen.
Und er musste wahrlich was er-tragen! Schließlich war er mit einem Besitzer geschlagen, der an keinem Bücherladen mit Ramschkiste, an keinem Bücherkasten, Bücherstand, an keiner Bibliothek vorbeigehen konnte, ohne stapelweise Papier in ihn reinzuschlichten. Ungelogen dürfte ich im Laufe der 15 Jahre mehrere Tonnen an Büchern von hier nach da geschleppt haben. Und im Gegensatz zu Nudelpackungen oder Gummibärchentüten sind die eher unflexibel. Ging alles irgendwie, so sehr der Rucksack dabei auch aufquoll. Das schon nach kürzester Zeit der Reißverschluss auf der einen Seite komplett versagte, hatte damit nichts zu tun, ebenso wenig wie die baldige Kapitulation des ohnehin beklopptesten Bestandteils überhaupt, des Bauchgurtes für Hochgebirgsgroßstädter von Rainer-Calmund-Format. Dessen Plastikschließe brach doch etwas arg früh auseinander, ließ sich aber weiterhin notdürftig zusammenstecken, nur dass das Band jetzt eben wie Gekröse vorne herumhing, was, wie mir irgendwann auffiel, viele mir begegnende Fußgänger irritierte. War mir aber wiederum wurscht.
Und so ging’s durch die Lande, im Laufe der Jahre lag der Rucksack im Ostseesand, auf Almweiden, in zahlreichen europäischen Ländern und trug oft die gesamte Ausrüstung für mehrere Tage. Proviant, Kleidung, Kulturbeutel und natürlich Bücher. Und dazwischen der übliche Alltagsdienst. Gelegentliche Katastrophen blieben nicht aus. So in Karlsruhe auf der Reise nach Paris, als mir dünkte, ich könnte mir hier am Bahnsteig sitzend doch ruhig einen Schluck aus der Pulle Orangensaft gönnen, die sich aber unglückseligerweise bereits vollends in meinen Rucksack ergossen hatte, der gerade anfing, eine hübsche Pfütze unter meine Bank zu tropfen. Hab ihn trotzdem in den TGV geschmuggelt, wo wahrscheinlich jetzt noch ein Fleck im Bodenbelag an Sitzplatz X prangt. Meine Klamotten waren gut durchtränkt, hatten vielversprechende orangene Punkte bekommen und waren vorerst eher nicht mehr zu gebrauchen. Ganz anders der gute Rucksack. Im Hotel ausgeräumt, geputzt und zum Trocknen aufgehängt, hat er anschließend weder geklebt noch gemüffelt. Ganz so glimpflich ging es nicht aus mit dem Kaugummi, den mir ein Arschloch – ich weiß nicht wann, wie und schon gar nicht warum – in das Innere des Rucksacks geklebt hatte. Der war eklig und hartnäckig und ging nie vollends raus. Aber man konnte ihn irgendwann ignorieren.
Und wie ein alter Elefant hat sich mein Rucksack wohl entschlossen, in der Heimat sterben zu wollen und im Frankenwald seine letzte Naht auszuhauchen. 15 Jahre unglaublich robust, ging am Ende alles ganz schnell. An einer ziemlich dummen Stelle bildete sich ein kleiner Riss, der täglich links und rechts gut 1 cm zunahm. Nach einer Woche klaffte folglich in dem Rucksack eine ziemlich große Wunde, von der man wusste, das ist das irreparable Ende. Und doch erwies er einen letzten Dienst, um die Übergabe an den Nachfolger reibungslos zu gestalten und reiste, mit Sicherheitsnadeln geklammert, noch einmal zurück an den Bodensee. Es hätte nicht regnen dürfen an dem Tag.
Und nun steht er da und harrt seines Schicksals. Sein Nachfolger bereits wartend daneben, der auf mich keinen guten Eindruck macht. Aber das kennt man schon.
 
                                                                      
 

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