Montag, 30. April 2018

Das Zitat zum Montag.

 
"Some people say that their school days were the happiest of their lives. They may be right, but I always look with suspicion upon those whom I hear saying this. It is hard enough to know whether one is happy or unhappy now, and still harder to compare the relative happiness or unhappiness of different times of one's life; the utmost that can be said is that we are fairly happy so long as we are not distinctly aware of being miserable."
 
Samuel Butler, The Way of All Flesh.



      

Mittwoch, 11. April 2018

Mit Fräulein Annika unterwegs...zu den Goldbacher Heidenhöhlen.

 


Geheimnisvolle Höhlen, ungelöste Rätsel, ein tragisches Ende, das Ganze eingebettet in eine wunderschöne Landschaft am Seeufer. Was wie der Plot für einen guten Unterhaltungsroman klingt, ist die Geschichte der Heidenhöhlen, früher Heidenlöcher genannt, am Bodensee, genauer am Überlinger See zwischen eben dieser Stadt und dem Nachbarort Sipplingen. Grund genug für uns, sich dorthin aufzumachen, geleitet von der uns eigenen natürlichen Neugier. Wer jemals diesen kurzen Abschnitt mit dem Auto oder der Bahn gefahren ist – letzteres besonders hübsch, da man direkt am Wasser entlang, gewissermaßen über den Strand, gleitet, übrigens das einzige mal auf der den ganzen See umrundenden Bahntrassen – dem fallen die bizarren Felsformationen auf, die sich hier sehr steil hochschwingen, sehr schnell vom Wasserniveau auf gut 400 Metern sich teils bis auf über 600 Meter. Das hier zutage tretende Gestein ist die für den Bodensee typische Molasse, was ein bisschen nach Knetmasse klingt, womit man gar nicht so falsch liegt, handelt es sich doch um zusammengepressten Matsch des einst hier vor sich hin plätschernden Urmeers – lange vor dem Bodensee und etwas größer den gesamten heutigen Alpenraum bedeckend – der sich später verhärtet hat zu Sandstein. Allerdings ist verhärtet leicht übertrieben, manch andere Gestein könnte darüber nur lachen, wenn es lachen könnte, denn die Molasse ist vergleichsweise weich. Übrigens: im Gegensatz zum Ufer gegenüber – dem Bodanrück – setzt sich der Fels unter Wasser nicht in die Tiefe fort, so imposant die durchfurchten Steilwände oberhalb aussehen, so sanft gleiten sie unterhalb der Wellen hinein in den See – und verstecken dort zumeist die nicht sichtbaren Überreste von Pfahlbauten.

Die Molassefelsen zwischen Sipplingen und Überlingen - mit einem der Heidenlöcher.

In früheren Zeiten wirkten diese Felsen um einiges beeindruckender, denn sie reichten bis an das Wasser heran, eine Straße zwischen Sipplingen und Überlingen gab es nicht bis Mitte des 19. Jahrhunderts, wer von hier nach dort – so wie wir – und zurück wollte, musste sich mit einem schmalen und nicht ungefährlichen Trampelpfad auf einem Teilstück begnügen, der noch dazu bei Hochwasser unpassierbar wurde oder über das Hinterland den offiziellen Fahrweg nutzen, mitsamt Auf- und Abstieg. Das war natürlich ein Problem, insbesondere für die selbstbewusste Reichsstadt Überlingen, aber man hatte für Transporte immerhin auch den See direkt vor der Haustür. Gleichwohl wollte man sich später mit der umständlichen Situation nicht mehr abfinden – mit bösen Folgen, wie noch zu berichten sein wird. Wer heute auf dieser Strecke entlang läuft, kann sich dies kaum mehr vorstellen, zwar geht es hinter Sipplingen noch über Wiesen unterhalb der Molassefelsen vorbei, doch dann sehr lange und unangenehm direkt an der nun vorhandenen Uferstraße, der vielbefahrenen B31, mit der Garantie auf viel Auspuffgase für die Lungenzüge. Fräulein Annika ist da feinstaubmäßig mal wieder fein raus.

Enge Felsengänge in Goldbach
 enthalten die höhlenartigen Felsenkeller.
Selbst wer keinerlei Vorbildung hat, erkennt hier in den Felsen einige auffallende Löcher. Wären Fräulein Annika und ich hier vor gut 200 Jahren marschiert – auf dem Trampelpfad – wir hätten blind sein müssen, um sie zu übersehen. Und wir wären schon damals wahrscheinlich ohnehin nur wegen dieser Höhlen hierher gekommen. Was von diesen noch zu sehen ist, hat allerdings nichts mehr mit dem Glanz früherer Tage zu tun. Die sogenannten Heidenhöhlen oder Heidenlöcher auf dem Abschnitt zwischen Brünnensbach und Goldbach faszinierten die Besucher schon seit langem und gehörten zu den in jeglicher Hinsicht ersten und obersten Zielen des Bodenseetourismus seit der Romantik Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Molasse ist ein zu weiches Gestein, um natürliche Höhlenbildung zu erlauben, aber gerade deshalb bestens geeignet für künstliche Hohlräume. Die Heidenhöhlen und ihre um den See immer wieder auftauchenden Pendants sind somit von Menschen geschaffene Räume, deren genaues Alter und Zweck unbekannt sind – und teilweise sehr verschieden sein dürften. Daher auch ihr leicht irreführender Name, konnte sich unsere Vorfahren doch nicht erklären und erinnern, wer diese Höhlen hoch über dem Ufer – aus Sicherheitsgründen vor bösen Buben und dem Hochwasser – angelegt hatte. Also machte man die „Heiden“ verantwortlich, Menschen vor Einführung des Christentums, womit man hier vor allem die Römer meinte. Tatsächlich dürften die Goldbacher Heidenhöhlen aus dem Hochmittelalter stammen, kunstgeschichtliche Details verweisen auf die Zeit vom Übergang der Romanik zur Frühgotik, in etwa um 1200. Was natürlich nicht heißt, dass zu diesem Zeitpunkt nicht einfach nur Umgestaltungen oder Erweiterungen vorgenommen worden sein könnten. Ebenso unklar ist, wozu die schwer zugänglichen Behausungen gedient haben könnten. Vorzustellen hat manch sich keine globig unbeholfen in den Fels gehauenen Felsräume, sondern klar strukturierte Gebilde mit Zwischenwänden, die wiederum Fenster enthielten, mit Nischen, Bänken, Verzierungen, Türen und Fensterläden. Relativ eindeutig wurde einer der Räume als Kapelle genutzt, beigefügt vermutlich eine Eremitenwohnung, was buchstäblich nahe liegt – und per Definition liebt es so ein Einsiedler ja eher einsam. Noch dazu ist diese Kombination – entlegene Kapelle mit Eremit – um den Bodensee weit verbreitet gewesen (und in seltenen Fällen sogar noch immer existent). Wer jedoch in den anderen Höhlenwohnungen hauste und ob sie wirklich dauerhaft genutzt wurden, bleibt ein Rätsel und vermutlich eines der ewig ungelösten im Zusammenhang mit den Heidenhöhlen.

Unheimlich wirken die "Fenster"
der Höhlenkeller im Dorf Goldbach.
Die Bodenseenebel lichten sich etwas im späten 18. Jahrhundert. Damals lebten vor Ort nachweislich seit längerem noch immer Eremiten, hinzukommend hatte die Reichsstadt Überlingen dorthin – weit vor ihren festen Stadtmauern – ein Armenhaus ausgelagert, das wohl zusätzlich die Heidenhöhlen als Unterkünfte nutzte. Doch dies hatte sich wohl soweit verselbständigt, dass der Rat der Stadt auf zahlreiche Beschwerden über in den Höhlen hausendes Gesindel reagierte und diese räumen und teils zumauern ließ. Womit der Niedergang der Heidenhöhlen begann – trotz des zu dieser Zeit langsam einsetzenden Interesses durch die ersten romantisch veranlagten Touristen. Es gab ein weiteres Felsgebäude westlich vor den Heidenhöhlen, dem folglich Fräulein Annika und unsereins, da wir ja von Sipplingen herkommen, als erstes begegneten müssen: die Katharinenkapelle (nicht zu verwechseln mit der Felskapelle in den Heidenhöhlen selbst). Sie war ein in den Fels geschlagener Höhlendurchgang am Trampelpfad, der sich zu einem kleinen Wallfahrtsort entwickelte, innen geschmückt mit Bildern und Votivtafeln – von denen eine einzige im Überlinger Museum überlebt hat. Den Ort dieser einstigen Kapelle – auch sie einst ein absolutes Muss für die ersten Bodenseebesucher – erkennen wir auch heute noch leicht, obwohl von der Felskirche nichts übrig geblieben ist. Doch als erinnernden Ersatz hat man einen Hohlraum in den Felsen gebohrt. Mehr als die Bewunderung aus der kurzen Distanz haben Fräulein Annika und ich allerdings nicht gewagt, denn um bis zu dem Gitter der Höhle zu kommen, müsste man das davor wuchernde Gesträuch überwinden, was nicht ganz so gefährlich ist, wie die leider ebenfalls davor liegende Bundesstraße. Da es in der neuen Höhle laut Auskunft ohnehin nur Geröllbrocken zu sehen geben soll, haben wir uns entschlossen, dass der Preis einer dafür in Kauf genommenen möglichen Begegnung mit einem 24-Tonner etwas zu hoch ist.

Kurz darauf, auf dem eigentlichen Abschnitt der Goldbacher Heidenhöhlen, müsste nun die erste – westliche – Abteilung der Höhlen auftauchen, doch sind diese noch mehr verschwunden als die Katharinenkapelle. Nur von einem Plan kennen wir ihre etwas seltsamen Grundrisse. Beides, Kapelle und westliche Höhlen, wurde beim Bau der Uferstraße anno 1846/47 komplett gesprengt, dazu gleich mehr. Was wir anschließend noch sehr vereinzelt als Öffnungen oben im Fels sehen können, sind die spärlichen Überreste der östlichen Abteilung. Diese Räume sind etwas besser dokumentiert, sie waren auch strukturierter angelegt – hier fand sich unter anderem die Felskapelle mit den frühgotischen Merkmalen, zum Beispiel Relieffriesen – und hatten größtenteils Kreuzgratgewölbe. Schon die halb legale, halb illegale Nutzung als Armenhäuser dürfte ihnen massiv geschadet haben, wie gesagt, Molasse ist ein sehr weiches Gestein, man kann leicht darin herumritzen. Dies taten dann zudem die Touristen, die sich einst auf gleiche Art verewigten, wie es 200 Jahre später „Tobi & Luisa 2017“ noch immer zu tun pflegen. Manch Bodenseeliebhaber von nah und fern protestierte zwar gegen das Vorhaben des neuen badischen Staates, das enorm teure, weil aufwändige Projekt einer Uferstraße von Ludwigshafen nach Überlingen nach langer Diskussion endlich durchzuführen. Doch die ökonomischen Interessen überwogen und so fielen 1846/47, wie erwähnt, die Katharinenkapelle und die westlichen Höhlen völlig, die östlichen teilweise dem Straßenbau zum Opfer. Die böse Ironie der Geschichte ist, dass die Fahrten nun zwar bequemer waren, dies wirtschaftlich aber der Stadt Überlingen, die so sehr darauf gedrängt hatte, gar nichts brachte, denn inzwischen hatte die Eisenbahn den Güterverkehr übernommen – und an diese ließ sich Überlingen aufgrund seiner Lage noch schwerer schwer anschließen. Man konzentrierte sich immer mehr auf den Tourismus – hatte nun aber eine der Hauptattraktionen kurzerhand wegsprengen lassen. Daran änderte auch der dann doch noch erfolgte Bahnbau nichts mehr – der störte zwar die verbliebenen Heidenhöhlen nicht, da er, wie erwähnt, direkt am Rand des Sees verlief – kam aber erst um 1900, viel zu spät für einen industriellen Aufschwung (zum Glück, muss man sagen, so blieb Überlingen eine wunderschöne mittelalterliche Stadt, nur halt leider ohne Heidenhöhlen
 
Die Höhlen im Dorf Goldbach vermitteln
noch einen Eindruck von den einstigen Heidenlöchern.
Trotzdem machten Straße und Bahntrasse den letzten Heidenhöhlen auf lange Sicht den Garaus. Eine Besichtigung war weiterhin möglich, aber doch sehr beschwerlich. Treppchen und Geländer mussten angelegt werden, das Interesse war noch immer groß, immerhin war ja zum Beispiel die Felskapelle unbeschadet geblieben. Doch hatten diese Besucher den unschönen Nebeneffekt, dass sie buchstäblich in der Molasse ihre Spuren hinterließen. Umrisse und Innenausstattung der Heidenhöhlen litten und verformten sich, Stützmaßnahmen der Felsen mussten unternommen werden. Auf der anderen Seite waren Restaurierungsmaßnahmen sehr kostspielig und oft nur von begrenzter Auswirkung. 1960 dann die Katastrophe: die Kapelle stürze nach einem Sturmwetter in sich zusammen. Von den Behörden wurde beschlossen, die restlichen Heidenhöhlen abzusprengen. Nach vielen Jahrhunderten waren die einzigartigen Kulturdenkmäler bis auf spärlichste und nicht mehr zugängliche Überreste für immer verschwunden. Schlimm und unverzeihlich genug, hatte man sich vorher nicht einmal die Mühe gemacht, die Höhlen vor der Sprengung zu dokumentieren. Noch 1846 war man schlauer gewesen als 1960, wo man nicht einmal auf einen Photographen geschweige denn archäologische Expertise zurückgriff. Darin liegt vielleicht eine – deshalb trotzdem inakzeptable – Gedankenlosigkeit einer an Monumenten überreichlich gesegneten Kulturlandschaft.

An der Sylversterkapelle Goldbach.
Uns bleibt – buchstäblich – folglich nur, uns mit eben solchem Ersatz zu begnügen, der natürlich nicht als bloßer Trostpreis angesehen werden darf, an der Ignoranz gegenüber den Heidenhöhlen sind diese Denkmäler der Kulturgeschichte schließlich unschuldig und wir sind froh, das wenigstens sie erhalten geblieben sind. Wir laufen also noch die wenigen Meter weiter bis nach Goldbach, wo ein Kleinod auf uns wartet, das zwar ebenfalls unter der Uferstraße und der Bahn zu leiden hat – es wird vom Rest des Dorfes komplett abgeschnitten, aber diesen immerhin nicht weichen musste: gemeint ist die Sylvesterkapelle, eine der ältesten Kirchenbauten im gesamten Bodenseegebiet. Ignoriert man die quasi durch die linke Kirchenhälfte fahrenden Gleisen, die man vorher dank Mini-Bahnübergang zu übersteigen hat, liegt sie eigentlich ganz idyllisch am Ufer. Und dies seit über 1000 Jahren, im Kern ist sie noch romanisch, die Gotik hat leichte Veränderungen, etwa die Fenster mit Maßwerk hinzugefügt. Im Inneren finden sich Fresken, die man mit der Reichenauer Schule in Verbindung bringt, sie werden auf das 10. Jahrhundert datiert. Ob es da schon die Heidenhöhlen gab? – wir werden es vermutlich nie mehr erfahren. Aber ein ganz kleines bisschen Heidenhöhlenerfahrung können wir trotzdem dann noch machen, indem wir in das schmale, sich in einem Tal hinziehende Dorf Goldbach hineinlaufen. Rechts in der Ortsmitte tut sich zwischen den Häusern ein Felsspalt auf, in den man wie in eine Klamm hineingehen kann. Und hier finden sich zahlreiche in die weiche Molasse hineingegrabene Felsenkeller, die mit ihren Fenstern ein ganz klein wenig an die Heidenlöcher erinnern – auch es hier an Kunstfertigkeit im Inneren fehlt und man zudem bequem ebenerdig eintreten kann, beziehungsweise könnte, natürlich sind diese privaten Keller versperrt. Ganz enttäuscht ist Fräulein Annika von der gescheiterten Heidenhöhlenexpedition also am Ende – zum Glück – nicht. Und gar nicht allzu weit entfernt, im Dorf Zizenhausen bei Stockach, liegen ebenfalls sogenannte Heidenhöhlen. Deren Alter und Zweck ist nicht minder unbekannt. Aber sie sind intakt. Fräulein Annika ist für die nächste Forschungsreise schon bereit. 

Schmuckstück am Bodenseeufer: die Sylversterkapelle in Goldbach - eines der ältesten Kirchengebäude am See.
 

Mittwoch, 4. April 2018

Lektüremonat März 2018.

 

Fernand Pouillon: Singende Steine.

Pouillons (1912-1986) Roman ist ein ziemlich ungewöhnliches Buch. Der Autor, ein in Frankreich angesehener Architekt, schrieb es während einer langwierigen Untersuchungshaft aufgrund eines Finanzskandals, die letztlich mit seinem Freispruch endete. Diese Grundvoraussetzung ist unterschwellig im Text durchaus spürbar, auch wenn der Inhalt scheinbar ganz anderer Natur ist: in Tagebuchform berichtet der Zisterziensermönch und Baumeister Wilhelm von Balz von den schwierigen Anfängen der Errichtung einer neuen Abtei in einer unwirtlichen Gegend, wofür er zudem die sehr strengen Vorschriften der Zisterzienser mit den örtlichen Gegebenheiten, aber auch seiner künstlerischen Verwirklichung in Einklang bringen muss – abgesehen vom täglichen Kleinkram der Bauleitung. Pouillon schafft ein faszinierendes Buch, das weder an einer altertümelnden Sprache, noch zu vielen architektonischen Technizismen krankt, sondern einen klaren nüchternen Stil aufweist, der den Geist des Baues selbst gut charakterisiert. Sein Vorhaben, sich in einen Kollegen des 12. Jahrhunderts hineinzuversetzen, ist ihm gelungen – und wer das Ergebnis nicht nur lesen, sondern auch sehen möchte: das Kloster Thoronet in der Provence ist fast stilrein erhalten. 

Maarten ‘t Hart: Ein Schwarm Regenbrachvögel.

Und wieder mal ein Niederländer, der sich – zu Recht – auch bei uns großer Beliebtheit erfreut. Wie vermutlich schon mehrfach erwähnt, ist die zeitgenössische niederländische Literatur eine sehr facettenreiche mit vielen großartigen Autor*innen. Kein Wunder also, dass sie hier immer wieder auftauchen. ‘T Harts (geboren 1944) Roman ist eine ziemlich melancholische Rückschau – mit autobiographischen Elementen – eines einsamen jungen Mannes, der mit dreißig zwar bereits angesehener Biologieprofessor geworden ist, sich aber nie von den Vorgaben seiner isolierten Kindheit auf dem Land mit religiösen Eltern befreien kann, die ihn in Bruchstücken stets wieder einholt. Am sichtbarsten und schmerzlichsten zeigt sich dies in seiner Sehnsucht nach Frauen, denen er sich nie offenbart, weshalb sie ihm schließlich entschwinden. Zurück bleibt ein immer mehr vereinsamender Mensch. Traurige Geschichte, glänzend geschrieben – dank ‘T Harts freundlich-ironischer Erzählhaltung verfällt man deshalb zum Glück beim Lesen nicht gleich vollends der Depression. 

Isabel Allende: Fortunas Tochter.

Mit Fortunas Tochter wollte Isabel Allende (geboren 1942) nach langer Zwischenzeit an „Das Geisterhaus“, ihr fulminantes Debut, anknüpfen, der Roman versteht sich als Teil einer Trilogie über chilenische Frauen. Was hier nicht gänzlich zutrifft, ist die Protagonistin Eliza doch ein Waisenkind, das in der englischen Kolonie von Valparaíso aufwächst, auch spielt ein Großteil des Romans im Kalifornien des Goldrausches um 1849. Auch wenn Fortunas Tochter nicht an „Das Geisterhaus“ heranreicht – trotz der selbstbewussten weiblichen Hauptfigur Eliza ist diese sehr stark von den männlichen Charakteren abhängig, ganz anders noch als ihre Nachfahrinnen bzw. Vorgängerinnen aus dem Debut – hat Isabel Allende all ihre erzählerischen Fähigkeiten aufgeboten, um wieder allerlei skurrile Figuren, seltsame Bräuche und Spleens, überraschende Wendungen und umkämpfte Liebesgeschichten in spannender Manier aneinanderzureihen. Und so ist erneut ein literarischer Reißer entstanden, den man mit viel Freude verschlingt. 

Herbert Rosendorfer: Die Goldenen Heiligen oder Columbus entdeckt Europa.

Der Altmeister der literarischen Satire Rosendorfer (1934-2012) nimmt sich in seinem Roman aus den 1990er Jahren die New-Age-Welle vor, in gewohnt brillanter und sehr lustiger Manier. Doch das Buch hat viele unterschwellige Strömungen dystopischer Natur – denn die 1992 bei Paderborn landenden Außerirdischen sind keineswegs die von den Esoterikjünger*innen erhofften Erlöser, sondern nichts anderes als um das Heil der Menschen reichlich unbesorgte Besatzer. Sich die Erde untertan zu machen fällt ihnen allerdings nicht schwer, denn diese ist nach dem Zusammenbruch ohnehin quasi einfach nur am immer weiter zusammenbrechen, Religion und Rechtsstaat sind längst Esoterik und der Drogenmafia gewichen. Nach dem typischen rosendorferschen ersten Teil des Romans hat man manchmal den Eindruck, dass der Autor im Folgenden etwas über die Stränge schlägt, dahinter verbirgt sich jedoch – darauf macht der Titel nur zu deutlich aufmerksam – eine böse Kritik am Kolonialismus, aber auch am menschlichen Opportunismus, denn natürlich gibt es auch Personen, die mit den Besatzern kollaborieren und noch jede Untat verklären. Rosendorfer trägt, wie gesagt, manchmal dick auf, aber man verzeiht es ihm schnell angesichts der für ihn so charakteristischen Schilderungen der Alltagsabsurditäten und seiner skurrilen Einfälle – welchen Tribut fordern die Außerirdischen von den Menschen? Holländische Holzschuhe. Warum? Wir werden es nie erfahren. 

Marguerite Duras: Emily L.

Erneut ein kurzes Buch der französischen Schriftstellerin (1914-1996) und wie gewohnt ist es geprägt von hoher sprachlicher Kunst und nicht einfacher Zugänglichkeit. Die Szenerie ist einfach: in der Hafenkneipe eines kleinen französischen Ortes am Meer treffen ein sich trennendes Paar aufeinander, das zufällig Ohrenzeige eines anderen Paares wird – drei sehr unterschiedlich verlaufende Liebesgeschichten sind ineinander verschachtelt, alle von der Tragik menschlicher Beziehungen bestimmt. Duras‘ Romane und Erzählungen mit ihrer eigenwillige Umsetzung sind wahrscheinlich nicht jedermanns liebste Lektüre, aber auch in „Emily L.“ zeigt sie sich in Höchstform.  

Peter Shaffer: Five Finger Exercise/Shrivings/Equus.

Und gleich noch ein bereits Bekannter: Der Band versammelt – etwas willkürlich – drei Stücke des britischen Dramatiker Peter Shaffer (1926-2016), von denen „Equus“ schon besprochen wurde. „Five Finger Exercise“ (von 1958) ist ein typisches Familiendrama, in der ein aus Deutschland eingeladener Tutor, ein junger Mann, der vor seinen Nazieltern geflohen ist, Trost und Geborgenheit bei einer englischen Familie sucht, die alles andere zu bieten hat als genau dies. Der Hausherr ist ein Kaufmann und Materialist, seine Frau trauert ihrer Herkunft aus gebildetem französischem Milieu nach, die Tochter ist eine pubertäre Träumerin und der Sohn ein perspektivloser Student, der mit seinen künstlerischen Ambitionen, die vom Vater verachtet werden, nichts anzufangen weiß. Die Ankunft des Tutors bringt die Konflikte erst recht an die Oberfläche. Immer noch tolles Stück mit geschliffenen Dialogen. Mit „Shrivings“ war Shaffer selbst unzufrieden, weshalb er es später noch einmal umschrieb – diese Version von 1970 atmet noch mehr den Geist der Zeit. Ein zynischer Dichter, dessen Erfolge längst zurückliegen, besucht seinen Mentor in dessen zurückgezogenem Refugium, wo dieser sich für den radikalen Pazifismus engagiert. Vor Ort wohnen noch die Sekretärin der Organisation, eine junge Amerikanerin, und der von ihm entfremdete Sohn des Dichters. Letzterer versucht durch eine Wette den Philosophen davon zu überzeugen, dass sein Vorhaben einer friedlichen Existenz, der Nachsicht und Vergebung eine Lebenslüge ist, in dem er seinen Hinauswurf provozieren möchte. Somit setzt er alles daran, seine Wette zu gewinnen und beginnt sein Zerstörungswerk… Man könnte nicht behaupten, dass Shaffer in „Shrivings“ (überarbeitet oder nicht) auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft ist, zum Glück enthält der Band ja die beiden anderen Stücke.


Will Berthold: Der Krieg, der nie zu Ende ging.

Mal was ganz anderes: Der gebürtige Bamberger Will Berthold (1924-2000) war einer der auflagenstärksten Autoren der Bundesrepublik, sowohl als Sachbuchautor – hauptsächlich zu Themen des Zweiten Weltkriegs und der NS-Zeit – als auch für seine populären Romane, die sich zwischen Fiction und Faction ansiedelten. Ein typischer Bahnhofsbuchhandlungsautor. „Der Krieg, der nie zu Ende ging“ ist ein deutsch-deutscher Agententhriller aus dem Mauerbaujahr 1961, der im Titel genannte nie endenwollende Krieg ist dabei einerseits der Kalte, anderseits jedoch derjenige der alten Naziseilschaften, die in Ost und West noch immer ihre ganz eigene Zusammenarbeit pflegen. Kann man mal lesen… 

Judith Hermann: Alice.

Das sympathische an Judith Hermanns (geboren 1970) Schreiben ist, dass sie im Durchschnitt nur alle fünf Jahre ein neues Werk veröffentlicht, was kein vergiftetes Lob sein soll, sondern Bewunderung dafür, dass sie sich dem Druck nach ihrem über alle Maßen erfolgreichen ersten Erzählungsband „Sommerhaus, später“ entzogen und sich die Zeit genommen hat, ein neues eigenständiges Buch zu veröffentlichen – und dies seitdem beibehalten hat. Ihr prägnanter Kurzsatzstil und ihre Vorliebe für Kurzgeschichten prägt auch „Alice“, obwohl es hier eine verbindende – die titelgebende – Protagonistin gibt, die alle Geschichten miteinander verknüpft; erst in der letzten Erzählung führen weitere denn auch weitere Stränge zusammen. Mutig auch das übergreifende Thema: das Sterben. In Variationen widmet sich Hermann diesem äußerst schwierigen Motiv, ohne in die Untiefen der Betroffenheit zu geraten. Schließlich handelt es sich um ein Thema, dass die Generation von Alice eigentlich nur peripher betrifft, beziehungsweise zu betreffen scheint, in ihrem Alter liegt es vermeintlich, was den Umgang mit dem langsam, plötzlich, nah oder fern eintretenden Tod keinesfalls leichter macht. Absolut lesenswert! 

Cees Nooteboom: Roter Regen. Leichte Geschichten.

Ein Band mit zahlreichen kurzen (fast immer) autobiographischen Erzählungen aus der Feder des niederländischen – schon wieder! – Großmeisters Cees Nooteboom (geboren 1933). Leichte Geschichten sind es, weil Nooteboom hier sozusagen unbeschwert Episoden aus seinen Erfahrungen als Reiseschriftsteller als Ergänzungen zu seinen eigentlichen Reportagen – aber auch zu seinen Romanen – berichtet, über seine Nachbarn auf Menorca, über seine Kochversuche, über Krankheiten, Haustiere und Gartenkunst. Und leichte Geschichten sind es auch, weil sie sich wunderbar lesen lassen. Nooteboom eben.  


V.S. Naipaul: The Mimic Men.

Und noch ein Autor von Reisereportagen und Romanen, nur ein Jahr jünger als Nooteboom: der Literaturnobelpreisträger (2001) V.S. Naipaul, geboren 1932 auf Trinidad und Tobago. „The Mimic Men“ lässt einen bereits mit vierzig Jahren gescheiterten Politiker eines karibischen Inselstaates auf seine Londoner Studienzeit in ärmlichen Verhältnissen, seine Rückkehr auf die heimatliche Insel und die dortigen Konflikte der Familie – sein Vater verlässt diese, um eine Sekte zu gründen – seine kurze Karriere als Politiker und seine unglückliche, mit Scheidung endende Ehe zurückblicken, Umstände, die ihn wieder nach London zurückzwingen, nun als Exil. Klingt interessant? Ist es aber nicht. Unglaublich dröger Roman, quälend zäh zu lesen. 

Otto Knopf: An geheimnisvollen Orten.

Band mit Erzählungen des oberfränkischen Heimatforschers Otto Knopf (1926-2005) in erwartbar traditionellem Stil, mehr oder minder geschickt das zeitgenössische Leben im Frankenwald mit Sagenmotiven der Region verbindend. Durchaus mit eigenem Reiz, sind die Geschichten im Großen und Ganzen eher etwas für Liebhaber*innen der ostoberfränkischen Heimat. Zu lesen am besten bei Kachelofenfeuer in langen Winternächten. 

Henry Mackenzie: The Man of Feeling.

In der Einleitung des Romans wird eine Aussage von 1788 zitiert: „A Rousseau will ever be esteemed in France – a Goethe in Germany – and a Fielding and a Mackenzie will be admired whilst the English language is understood.“ Der Autor des Vorworts, Brian Vickers, nennt diese Prophezeiung mit freundlichem britischen Understatement „unlucky“. Gleichwohl war das Buch des Schotten Mackenzie (1745-1831) ein von Leser*innen und Kolleg*innen gleichermaßen geschätzter seinerzeitiger Bestseller und ist unzweifelhaft ein Klassiker der englischsprachigen Literatur. Dass er sich heute – und schon einige Jahrzehnte nach Erscheinen – anders als Rousseau, Goethe und Fielding nicht mehr der großen Gunst des Publikums erfreute, lag eher an der allgemeinen Abwendung vom Genre des sogenannten „sentimentalen Romans“, dessen Hauptexponenten Samuel Richardsons „Pamela“ und eben Mackenzie darstellten – und das schon bald zur Parodie herausforderte, unter anderem der genannte Fielding veröffentlichte einen Roman namens „Shamela“. Warum, wird jedem heutigen Leser und jeder heutigen Leserin schnell klar: es wird unendlich viel geweint auf diesen Seiten, kein Wunder, erfährt der Protagonist Harley seine „sentimentale Erziehung“ doch durch die Begegnung mit allerlei Personen, denen unschuldig übelst mitgespielt wurde. Und so können er und seine Leidensgenoss*innen sich menschlich bewähren und wir die Taschentücher auspacken.