Hermann
Broch: Die Schlafwandler. st 2586
Die
Schlafwandler wurde in jüngster Zeit zu einem Etikett des Neorevisionismus,
der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Schuldfragen des Ersten Weltkrieges
neu zu verhandeln und zu relativieren, ein Anliegen, dass mit Hermann Brochs
Romantrilogie (1886-1951) nichts gemein hat außer den Namen und den Zeitraum
der Handlung. Denn auch Brochs von 1928 bis 1931 verfasstes ambitioniertes Werk
befasst sich mit der Entstehung des Ersten Weltkrieges und dem Wirken der
Mentalitäten vor und mit dessen Ausbruch, verteilt auf drei Etappen im Abstand
von je 15 Jahren. 1888 fällt der Blick auf den preußischen Offizier Joachim von
Pasenow und die Romantik, 1903 auf den Kontoristen August Esch und
die Anarchie, 1918 schließlich auf den Händler Wilhelm Huguenau und die
Sachlichkeit.
1888 ist das
Dreikaiserjahr, eine Zeit des Umbruchs vom Altpreußischen über das kurze
liberale Intermezzo hin zum „persönlichen Regiment“ Kaiser Wilhelms II., ein
Übergang, der in den Untergang führt, was noch nicht zu erkennen, aber zu
erahnen ist. So ist die eigentliche Romantik dieses Zeitalters die Uniform
(23), die vom Militärischen aus alle Gesellschaftsbereiche erfasst hat, eine
richtige Uniform gibt ihrem Träger eine deutliche Abgrenzung seiner Person
gegenüber ihrer Umwelt (24), sie ist das Stützkorsett, eine zweite und
dichtere Haut (24), die für die Ordnung des Staates, die Sicherheit der
Religion und die Liebe zur Tradition steht. Und der alles Zivilistische
verdächtigt sein muss. So empfindet es auch Joachim von Pasenow, Sohn eines
Landjunkers, Offizier in Berlin, vorgesehener Erbe des Gutes, gute Partie für
den benachbarten Adel. Doch die Berliner Welt ist gleichwohl eine andere – eine
unromantische, gewissermaßen – mit allerlei das eigene Weltbild in
Erschütterung bringenden Gefahren: da ist Joachims Freund Bertrand, der die
Armee verlassen hat und nun als Geschäftsmann um die Welt reist, über den
Tellerrand blickt und dadurch Freiheit gewinnt. Und da ist die Liebe zur unstandesgemäßen
Ruzena, einer Böhmin, emotional und unbeherrscht. Dem steht Joachims Herkunft
und Familie gegenüber: der Vater, der ihn als Nachfolger aus der Armee lösen
will und zunehmend den Verstand verliert, die unscheinbare Mutter, der ganz
andere Bruder. Joachim findet sich in diesen Zwischenwelten nicht zurecht, was
sich nicht fügt, sieht er als gottgewollte Prüfungen (141) an, die
Krankheit seines Vaters, den Tod des Bruders, Ruzenas schwankende
Leidenschaften, vor allem jedoch sein Verhältnis zu Bertrand, der ihm Verlockung
des Teufels (145) und Verbündeter zugleich ist, den er im Inneren verachtet
und dessen Rat er doch stets sucht und folgt. „Wir sind nicht fremd genug
und wir sind nicht vertraut genug“ (176), so Pasenows Braut Elisabeth, die
er heiraten wird, ohne den Willen dazu zu haben, wie ihm überhaupt der Willen
fehlt, er ist ein Getriebener, der sich an den überlieferten Konventionen
entlanghangelt, ohne bewusste Entscheidungen zu treffen, ein Schlafwandler
durch seine Gegenwart.
August Esch ist
hier einige Schritte weiter, er schwankt zwischen Selbstbewusstsein und
fehlendem Gespür, ihm fehlt das stützende Korsett des Militärs und der
Tradition, doch auch sein zutiefst verinnerlichtes Ziel ist die Ordnung,
sie muß sein, wenn man hinaufkommen will (186). Sein kaufmännisches
Denken lässt ihn diese Sehnsucht in recht einfachen Schemata ausdrücken: Das
war gegen alle buchhalterische Regel, die bekanntlich zu jeder Post ihren
Gegenpost verlangt (242) und so versucht Esch, auch im Leben jeden
Rückschlag wieder auszugleichen. Diese Rationalisierung, die naturgemäß im
Alltag selten solch klare Ausformung findet, führt ihn zu immer stärkeren
Projektionen, um sich dieses Nichteinanderfügen der Umstände erklärbar zu
machen. Für die Haft seines sozialdemokratischen Bekannten – mit dessen Sache
sich Esch im Übrigen als guter Kleinbürger keineswegs identifiziert, sie steht
oberflächlich für die titelgebende Anarchie – muss es einen Grund, aber vor
allem auch eine Gegenstrafe geben. Esch macht hierfür den Konzernchef Bertrand
– eben jenen Bertrand – aus, der zwar selbst von seinen sozialistischen Gegnern
geschätzt, von Esch aber über eine irrationale Konstruktion verantwortlich
gemacht und in den Selbstmord getrieben wird. Analog zu Pasenow wird auch Esch
eine Frau heiraten, von der er nicht weiß, warum er sie heiratet, auch er
offenbart dasselbe Unwissen über sich selbst, das schlafwandlerische
Sichtreibenlassen, verbrämt durch Platituden wie Wer sich opfert, ist
anständig (279). Am Ende geht er einen Kompromiss mit sich selbst ein: er
behält seine Illusionen – etwa eine Flucht nach Amerika – bei, verfolgt diese
aber nicht mehr.
Der dritte Teil,
doppelt so lange wie die beiden ersten, spitzt Inhalt und Form zu, wozu das
sich anbahnende Chaos von Kriegsende und Niederlage den passenden Hintergrund
bildet. Wilhelm Huguenau, ein Elsässer und damit qua Herkunft eine
zwiegespaltene Figur ohne feste Bindungen, ist ein Deserteur. Doch nicht aus
Kriegsverdruss, sondern aus Gelegenheit. Er ist tatsächlich sachlich: der Krieg
bringt ihm persönlich nichts, höchstens körperlichen Schaden, also verlässt er
den Schützengraben. Seine schlafwandlerische Sicherheit (390) lässt ihn
fortan alle Gefahren überstehen, ihn aufsteigen und als Kriegsgewinnler am Ende
dem Ganzen entkommen. Huguenau ist der formvollendete Opportunist, frei von
übergeordneten Motiven, Bedenken und Ideologie, er sah klar in die Welt; man
muss bloß wissen, wo der Feind steht, dann kann man, wenn’s drauf ankommt,
einen Frontwechsel vornehmen (650). Die Gesellschaft um ihn herum zerfällt:
Esch, mittlerweile Herausgeber einer kleinen rheinischen Zeitung, verfällt der
religiösen Mystik – Anlass hierzu war ein Leitartikel des Stadtkommandanten von
Pasenow, der sich ebenfalls in die Religion zurückgezogen hat, die in Parallelhandlungen
in Form einer Berliner Judengemeinschaft und des Heilsarmeemädchens einen
weiteren Handlungsstrang bestimmt. Huguenau wird Esch hinterrücks und
skrupellos während der Revolutionstage ermorden, wiederum nicht aus
Überzeugung, sondern aus Gelegenheit. Pasenow verfällt dem Wahn und tritt auch
damit letztlich das Erbe seines Vaters an. Ihn, aber auch Esch, trieb schon in
den ersten Teilen der Trilogie, die hier klar formulierte Angst an, die
Angst, sinnlos auf Erden gewandelt zu sein, unbeholfen und sinnlos und hilflos
ins Nichts gehen zu müssen (557).
Diese Angst ist
berechtigt, wie die Kommentare des Philosophen, die als Einschübe unter dem
Titel Zerfall der Werte, belegen, die angesichts der Tatsache, dass der
Einzelne, ohne selbst wahnsinnig zu sein, sich in und mit dem Wahnsinn
zurechtfindet, der ihn umgibt: Sind wir wahnsinnig, weil wir nicht
wahnsinnig geworden sind? (419). Muss jemand nicht wahnsinnig sein, der
auszieht, um befehlsmäßig zu töten und um danach wieder friedlich ins bürgerliche
Leben zurückkehren, wie kann er Alltag und Brutalität trennen? Brochs Gedanken
auf diesen Seiten sind mehr als prophetisch – nicht umsonst enden diese
Überlegungen mit der Feststellung: Deshalb wohl sehnen wir uns nach
dem „Führer“, damit er uns die Motivation zu einem Geschehen liefere, das wir
ohne ihn wahnsinnig nennen können (421).
Brochs Thema ist
die Sinnsuche, die Sinngebung in einer zerfallenden Welt, die Inhalt und Form
seiner Romantrilogie bestimmen. Pasenow kann die auseinanderdriftenden Elemente
seiner Welt, die äußerlich noch fest verankert zu sein scheint, nicht mehr in
sich vereinen. Wie seine Nachfolger ersetzt er zunehmend das Rationale durch
das Irrationale, um die sich auftuenden, aber geleugneten Lücken im Weltbild zu
schließen. Wie gesagt ist die Umwelt im ersten Band, der sich nicht umsonst
stilistisch und geographisch sehr fontanehaft gibt, noch oberflächlich zu
kitten – am Ende wird auch dies nicht mehr der Fall sein, weshalb Pasenow erst
der Religion und dann der Flucht in die Krankheit nachgibt. Esch ist das
„anarchische“ Zwischenstadium, der Versuch, eine austarierte Ordnung zu
errichten, was letztlich aber nur zu einem immer größeren Einbruch des
Irrationalen führt, der sich wiederum im Stil niderschlägt– Passagen, die
unentscheidbar zwischen Traum und Realität changieren – und ebenso wie Pasenows
Bemühen im dritten Teil scheitern. In diesem bricht auch die Form endgültig
auseinander: während die Haupthandlung, in verschiedenen Strängen
zusammengeführt, sachlich berichtet wird, sind Essays, Lyrik, Dramenteile
dazwischengesetzt. Broch hat hier erkennbare Experimente ganz im Sinne des von
ihm bewunderten James Joyce in späteren Romanen wie Der Verzauberung und
Der Tod des Vergil weiter radikalisiert. Da es kein Wertesystem mehr gibt,
das dem Zwecke dient, all das Irrationale zu verdecken und zu bändigen
(689), besteht lediglich der Profiteur Huguenau, ein wertfreier Mensch
(693), der zwar nicht minder von Irrationalem geprägt ist – was ihn den Mord an
Esch begehen lassen wird – doch der gar nicht mehr den Versuch unternimmt,
dieses zu deuten und zu integrieren. Er bleibt, wie er sich selbst sieht, stets
sachlich. Nun, Hermann Broch ist nicht nur ein bis heute zwar nicht
unterschätzter, aber viel zu wenig bekannter Romancier, er war auch ein
Analytiker seiner Zeit. Neben einer Theorie des Kitsches, den er als Ausdruck
eines gefährlichen falschen Bewusstseins sah, verfasste er auch umfassende
Studien zum Massenwahn. Beides, Romane und Essays, sind notwendige Lektüre,
aktueller denn je.
Vorgänger: Julio Cortázar - Rayuela.
Vorgänger: Julio Cortázar - Rayuela.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen