Kann
man immer wieder und wieder lesen. Mehr braucht man nicht zu sagen. Sollte man
jemals jemanden treffen, der Shakespeares Sonette doof findet, einfach
aufstehen und grußlos gehen.
Joachim Meyerhoff: Alle Toten fliegen hoch – Amerika.
Der
Theaterschauspieler Joachim Meyerhoff (geboren 1967) zählt derzeit zu den
erfolgreichsten Schriftstellern des deutschsprachigen Raumes. Lesungen seiner
autobiographischen Romane füllen Säle, die Auflage des vorliegenden
Taschenbuches ist die 29. (von 2015). Ersteres hat sicher auch mit der
Vortragskunst – oder teils szenischen Umsetzung als Einmannstück – Meyerhoffs
zu tun, doch könnte die die Leser*innen kaum über schriftstellerische Defizite
hinwegtäuschen – wenn es sie denn gäbe. Meyerhoffs Berichte stehen deutlich in
der Tradition jüngerer Erfolge wie denen von Sven Regener und dem ersten Buch
dieses Jahres, Thommie Bayers „Das Herz ist eine miese Gegend“, und sind eben
ähnlich lustig-melancholisch zu lesen. Im ersten Buch der noch nicht
vollendeten Reihe befindet sich der Protagonist auf einem einjährigen
Sprachaustausch – der kein Austausch ist – im ländlichen Amerika der 1980er
Jahre. Das Bemerkenswerte ist allein hier, dass Meyerhoff nicht den überlegenen
Europäer gibt oder unreflektiert US-Klischees abspult, auch nicht das Gegenteil
überwältigter Begeisterung, sondern er sich die neugierige Aufgeschlossenheit
des Jugendlichen erhält. Der seltsame Titel des Romans geht darauf zurück, dass
der Aufenthalt in den USA durch ein schreckliches Ereignis in der Heimat
unterbrochen wird.
Inge
Meyer-Dietrich: Plascha.
Die
deutschsprachige Jugendliteratur hat insbesondere, wenn sie sich mit
historischen oder zeitgeschichtlichen Themen befasst, zahlreiche viel zu wenig
beachtete Meisterwerke hervorgebracht, die nicht nur in der Schule, sondern
viel öfter und auch gerade von Erwachsenen gelesen werden sollten – mehr denn
je. Genannt seien nur Willi Fährmanns „Es geschah im Nachbarhaus“, Hans Peter
Richters „Damals war es Friedrich“, die drastischen Romane Gudrun Pausewangs
wie „Die Wolke“, Ingeborg Engelhardts „Hexen in der Stadt“ und viele, viele
mehr. In diese Tradition gehört auch der mehrfach mit Preisen aufgezeichnete
Roman „Plascha“ (1988) von Inge Meyer-Dietrich (geboren 1944) über eine
polnischstämmige Familie im Ruhrpott des Ersten Weltkriegs und der anschließenden
Revolutionszeit – die Geschwister und ihre Nachbarn haben nicht nur mit der
Abwesenheit des Vaters, Hunger und Not aufgrund der schlechten Versorgungslage,
Anfeindungen als ‚Polacken‘ seitens der Nationalen und den schwierigen
Arbeitsbedingungen der Kumpel zu kämpfen, ihnen bleiben auch die Hoffnung auf
eine Verbesserung der Zustände durch die Republik, vor allem aber auf die
Rückkehr des Vaters verwehrt.
J.B.
Priestley: Time and the Conways and other Plays
Hier
wurden schon öfters Dramen aus der großen Zeit des britischen Theaters ab den
1960er Jahren besprochen – siehe Peter Shaffer, Tom Stoppard. Ihren Erfolg haben die
einst jungen Theaterautoren gewissermaßen einem Mann zu verdanken, J.B.
Priestley (1894-1984), der vor ihnen die Bühnen beherrschte und von dem sie
sich abgrenzten. Priestley war ein ganz klassischer Bühnenautor, der noch die
aristotelische Einheit von Zeit, Raum und Handlung einhielt und das bürgerliche
Milieu bevorzugte. Handlung war an und für sich schon übertrieben – mehr als
Gespräche fand kaum statt. Gleichwohl war ein Priestley ein geschickter
Dramatiker mit Tiefgang, sein Erfolg kam nicht von ungefähr. Das titelgebende
Stück hat eine raffinierte Struktur. Wir sehen die gleichen Menschen am
gleichen Tag im ersten Akt – im zweiten Akt zwanzig Jahre später – und mit dem
Wissen hierum noch einmal im dritten Akt. Mystisches vermischt sich mit
Rationalem in „I have been here before“, in „The Linden Tree“ geht es um die
Frage, wann der richtige Zeitpunkt kommt, um aufzuhören – und ob es diesen
überhaupt gibt. Das vielleicht stärkste Stück „An Inspector Calls“ verhandelt
die Schuld jedes Einzelnen an seinen Mitmenschen und wie man damit umgeht –
Priestley zeigt sich hier wenig optimistisch. Das Stück verdient die
Wiederaufnahme auf den Bühnenanstalten.
Alexander
Ebanoidse: Hochzeit auf imeretisch.
Der
junge, recht erfolglose Bildhauer Lado wird in sein Heimatdorf in Imeretien,
einer Landschaft Georgiens, bestellt, wo man ihn – den vermeintlich berühmten
Künstler – beauftragt, ein repräsentatives Denkmal für die Gemeinde zu
schaffen. Inspiriert von einem hübschen jungen Mädchen, dessen Familie er
überreden kann, ihm Modell zu stehen, beginnt Lado sein Werk. Durch mehrere
kleinere Schaffenskrisen hindurch vollendet er schließlich die Figur, die nun
gemeißelt werden soll. Doch dem Künstler stellt sich plötzlich ein ganz anderes
Problem: wie selbstverständlich gehen alle Dorfbewohner davon aus, dass Lado –
schon aus Anstandsgründen – sein Modell heiraten wird. Eine Ablehnung
akzeptieren sie nicht, Lado unternimmt alles, um der Zwangsverheiratung zu
entgehen… Unterhaltsamer Roman des georgischen Schriftstellers Alexander
Ebanoidse (geboren 1939), zum Ende hin etwas zäh, aber insgesamt aufgrund der
Figurencharakterisierungen recht amüsant.
In
der aus einem kleinen Dorf hervorgegangenen Sowjetstadt Karassino wird ein
Jubiläum gefeiert: der 60. Geburtstag Nikolai Jetschowins, der damit der
älteste Lehrer der Stadt ist. Glückwünsche von allen Seiten treffen ein, doch
darunter ist auch ein Brief eines ehemaligen Schülers, der Jetschowin die
Schuld an seinem verpfuschten Leben gibt und ihm als Rache hierfür den baldigen
Tod ankündigt. Jetschowin gerät ins Grübeln, wem er solch ein Leid zugefügt
haben könnte, dass dieser Mensch so drastisch reagiert. Wie ernst ist das zu
nehmen? Schwankend zwischen Mut und Verzweiflung blickt Jetschowin auf seine
Fehler zurück. Ein Scherz war das Schreiben keineswegs, wie sich bald
herausstellt – doch von wem kann der Lehrer Hilfe erwarten? Typischer
Tendrjakow, der der eigenen Schuld am Handeln gegenüber Anderen nachgeht, den
ungewollten und gewollten Verletzungen der Mitmenschen mit ihren weitreichenden
Folgen. Es überrascht immer wieder, wie frei Tendrjakow seine wenig
optimistischen Texte in der Sowjetunion publizieren konnte, möglich war dies
nur in sogenannten Tauwetterperioden, denn die Romane und Erzählungen
entsprechen nur stilistisch dem sozialistischen Realismus – was sich positiv
auf die Lesbarkeit auswirkt – inhaltlich sind sie davon weit entfernt.
Marie
Hermanson: Himmelstal.
Die
beiden eineiigen Zwillinge Max und Daniel sind sich nur äußerlich ähnlich: nach
der Trennung der Eltern unabhängig voneinander aufgewachsen und erzogen, haben
sie wenig gemein. Max ist ein aufschneiderischer, wenig zimperlicher Typ und
dadurch äußerst erfolgreich, Daniel eher bieder, ein braver Dolmetscher mit
Karriereknick und privatem Missgeschick. Man hat sich wenig zu sagen und sieht
sich selten. Umso überraschender erhält Daniel Nachricht von Max mit der
dringenden Bitte, ihn in der Schweiz zu besuchen, wo er sich in einer
abgelegenen Reha-Klinik gerade von einem Burnout zu erholen scheint. Dort
angekommen, stellt sich bald heraus, dass Max‘ Probleme weitaus anderer Natur
sind als reine Überarbeitung. Er bittet Daniel um einen Gefallen: er solle als
Max einige Tage dessen Rolle spielen, damit dieser die Klinik – was verboten
ist – verlassen kann. Nur widerwillig lässt sich Daniel darauf ein. Doch sein
Bruder kommt nicht wie versprochen nach wenigen Tagen zurück und das ist nicht
das einzige, was Max Daniel verheimlicht hat. Ein klassischer Roman der
großartigen Marie Hermanson (geboren 1956), in dem natürlich nichts so ist, wie
es erscheint, selbst dann nicht, wenn man glaubt, das Schema zu erkennen. Alle
paar Seiten ändert sich die Richtung. Ungewöhnlich für Marie Hermanson ist
allenfalls, dass sie die Grenzen des Genres Thriller hier kaum verlässt. Das
ändert aber nichts an dem intelligenten, unglaublich spannenden Geschehen – wie
man es von der Autorin gewohnt ist.
Junichiro
Tanazaki: Insel der Puppen.
Ein
anschauliches Beispiel für die Probleme kulturellen Transfers bietet Junichoro
Tanazakis (1886-1965) Roman „Insel der Puppen“. Obwohl am westlichen Schreiben
geschult, richtet sich der Text anders als der zeitgenössischer japanischer
Autoren nicht vorrangig an ein internationales Publikum – auch wenn Tanazaki
schon zu Lebzeiten von diesem gelesen wurde. Denn der Plot ist durchaus international: ein
Ehepaar hat sich auseinandergelebt und willigt in gegenseitigem Einverständnis
in die Scheidung ein, was gesellschaftlich noch problematisch ist – der Roman
entstand 1929 – vor allem aber finden die beiden nicht den Mut, den Schritt
endgültig zu vollziehen, jeder findet neue Ausreden, um das Unvermeidliche zu
vermeiden. Eine Lösung findet sich letztlich nicht. Für westliche Leser*innen
stellt der Text aber höchste Ansprüche aufgrund des Kontextes, der vielen
historischen und kulturellen Hintergründe, aber auch der Übersetzung. Riten,
Kleider, Traditionen spielen eine große Rolle, dazu das japanische
Puppentheater mit seiner für das Land großen Bedeutung, außerdem zahlreiche
Nuancen des Soziallebens in den 1920er Jahren, die einem Europäer unbekannt
sein dürften und somit wie vieles andere entgehen – was mehr als bedauerlich ist. Das kurze erklärende Lexikon am Ende hilft da nur über die gröbsten
Fragen hinweg. Auch der Übersetzer – kurioserweise wurde aus dem Amerikanischen
übersetzt, sofern es sich da nicht um einen Druckfehler handelt – gerät in
Schwierigkeiten. So ist davon die Rede, dass der Sohn des Ehepaares gegenüber
seinem Onkel plötzlich in einem Osakadialekt spricht. Für uns ist schon nicht
klar, was dies nun genau zu bedeuten hat – dass der Sohn damit aufschneidet,
wird kurz erwähnt – vor allem aber spiegelt der Text dies nicht wieder: obwohl
oft unterschiedliche Dialekte Erwähnung finden, wird ständig hochdeutsch
gesprochen. Ob man hier eine bessere Lösung hätte finden können? Insgesamt
macht dies alles den Roman zu einem eher zähen Lesevergnügen, sofern man sich
nicht sehr eingehend mit japanischer Kultur befasst. Was vielleicht nicht der
schlechteste Anlass wäre.
Mai 2018
Mai 2018
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