Montag, 23. Juli 2018

Mit Fräulein Annika unterwegs...zum Kloster Weppach.


 
Klöster sind am Bodensee, man weiß es spätestens seit Arno Borsts Klassiker Mönche am Bodensee, alles andere als eine Seltenheit. Doch Kloster ist nicht gleich Kloster und neben den Berühmtheiten wie Salem, St. Gallen, der Reichenau, Stein am Rhein oder der Bregenzer Mehrerau finden sich allerlei kleine Konvente, die nur den Einheimischen im Umkreis von zehn Kilometern und den Experten bekannt sind, von Bächen über Kalchrain, von Hermannsberg bis Tübach, von Langnau bis Grünenberg. Unser heutiges Ziel, Weppach, gehört, es wird niemanden überraschen, in die zweite Kategorie. Eine Umfrage hier in Konstanz, ob man schon einmal von Weppach gehört habe und wo dieses denn liege, ergäbe vermutlich desaströse Ergebnisse.

Nun, es liegt auf der anderen Seeseite – von Konstanz aus betrachtet – zugegeben gut versteckt im Wald zwischen Bermatingen und dem Deggenhausertal auf dem Gebiet der einstigen Herrschaft Heiligenberg. Fräulein Annika und ich machen uns folglich mit dem Seehänsele, dem Zug von Radolfzell nach Friedrichshafen, Teil der Bodenseegürtelbahn, auf nach Bermatingen, obwohl das eine Qual ist, wenn man vorher ständig mit der Schweizer Bundesbahn unterwegs war – aber das steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls kommen wir überraschenderweise doch irgendwann in dem Ort zwischen Salem und Markdorf an. Bermatingen gehörte seit 1390 zur benachbarten Zisterzienserabtei, da hatte das Dorf schon einige Jahrhunderte auf dem Buckel, erstmals genannt wurde es nämlich bereits 799, als der Herr Karl der Große auf dem Königsthron saß – Kaiser wurde er ja erst im Jahr darauf. Diverse Funde weisen darauf hin, dass Bermatingen allerdings noch um einiges älter sein dürfte, so fand man ein Grab vom Ende des 7. Jahrhunderts und zudem in der Kirche eine christliche Altarplatte, die in etwa auf 650 datiert wurde.

Die Kirche. Wenn man ins Zentrum des Ortes kommt, unzweifelhaft eines der schönsten im ganzen Linzgau, sucht man sie vergeblich. Tatsächlich liegt sie am Ortsrand, auf einem Hügelchen, früher ein eigener kleiner Ortsteil mit dem sprechenden Namen Pfaffenhofen. Auch diese Gebäudekombination fasziniert, denn hier steht neben einem sehr kräftigen spätgotischen Turm ein dreischiffiges Langhaus ebenfalls aus der Spätgotik, was für eine Dorfkirche sehr monumental ist. Kenner würden eine ehemalige Kloster- oder zumindest eine Wallfahrtskirche vermuten, doch hätten sie sich damit – ausnahmsweise – getäuscht. Bermatingen war weder das ein noch das andere, sondern schlicht die bedeutendste Pfarrei im Umkreis. Wie der Altarfund schon angedeutet hat, kann die Pfarrei – erst viel, viel später im 13. Jahrhundert urkundlich genannt – ein hohes Alter aufweisen. Lange Zeit war sie die Mutterkirche für Markdorf, Hagnau, Kluftern, Ahausen, Ittendorf, Kippenhausen, Immenstaad und Fischbach, kurzum für einen beträchtlichen Anteil des heutigen Bodenseekreises bis hinein ins Stadtgebiet von Friedrichshafen. Da kann man schon mal ein stattliches Kirchlein hinstellen, auch wenn die Pfarrei naturgemäß im Laufe der Jahrhunderte durch Auskopplungen immer mehr schrumpfte. Das Selbstverständnis der Urpfarrei Bermatingen repräsentiert auch in späterer Zeit noch das prächtige Pfarrhaus neben der Kirche, ein auffälliger Barockbau von niemand geringerem als Peter Thumb höchstpersönlich. Die nächste Überraschung erlebt, wer das Gotteshaus schließlich betritt: es ist über und über bemalt mit Fresken wiederum überwiegend aus der Spätgotik, in dieser Fülle – und dem teils sehr guten Erhaltungszustand – auch im an Fresken reichen Bodenseeraum eine Seltenheit. Auch der Rest der Ausstattung, darunter viele sehr schöne Marienstatuen, würde, neben dem Eindruck der Hallenkirche, den Besuch schon lohnen.

Obwohl das ja eigentlich gar nicht unser Ziel ist, woran mich Fräulein Annika erinnert. Wir sind also im Zentrum von Bermatingen, wo zwar die Kirche fehlt, aber dafür dem Fachwerkliebhaber alles geboten wird: die Sparkasse, das Rathaus, der gegenüberliegende Gasthof Zum Adler, große, geräumige Fachwerkbauten, umgeben von zahlreichen Wohnbauten mit nicht weniger Holzschmuck. Am auffälligsten sind naturgemäß das Rathaus mit seinem Dachreiter und dem in die Straße hineinragenden Säulengang sowie das erwähnte Gasthaus, am Wappen erkennbar als früherer Amtsitz des Salemer Verwalters. Die Gebäude sind alle frühneuzeitlich, denn 1590 wütete im Ort ein verheerendes Feuer, das wenig übrigließ von den Vorgängerbauten, was zum schmucken einheitlichen Gesamtbild beiträgt. Gestört wird dieser heimelige Eindruck aber durch den Auto- und LKW-Verkehr, der sich in nicht weniger Zahl und genau mitten durch das Ortszentrum hindurchschiebt. Selten hatte man so sehr das Gefühl, dass ein Ort eine Umgehung verdient hätte – und dafür gibt es noch einen zusätzlichen Grund. 1975 hat man im Autofahrerland – gemeint sind die Bundesrepublik im Allgemeinen und Baden-Württemberg im Besonderen – das Kunststück vollbracht, die spätbarocke Laurentiuskapelle im Ort, die 1780 eine Vorgängerin aus dem Spätmittelalter ersetzte, tatsächlich als Engstelle zu betrachten und kurzerhand abzureißen. Eine Umgehung wurde damals unter anderem mit der Begründung abgelehnt, dass im Süden bald ohnehin die neue Autobahn vorbeiführen würde. Nun, diese Autobahn wurde – zum Glück – nie gebaut, und, zweite abstruse Folge der Abrissaktion, die Ortsdurchfahrt blieb eng wie eh und je, denn auch noch das Rathaus abzubrechen oder zumindest durch Rückbau zu verstümmeln, hat man sich dann doch nicht getraut. Den Bermatingern darf man zugute halten, dass viele den Verlust der Kapelle damals wie heute betrauern. Zu Recht, nicht nur, weil, wie erwähnt, der einzig positive Nebeneffekt, der bessere Verkehrsfluss, nie eintrat, sondern weil man dafür sinnloserweise ein Schmuckstück geopfert hatte, wie jeder erahnen kann, der sich allein nur die in die Pfarrkirche geretteten Ausstattungstücke vor Augen führt.


Über dem Weppachbach
Es nützt ja nichts, die Kapelle ist auf immer perdu. Wir verlassen, sobald wir es über die Straße geschafft haben, den Schauplatz dieser Freveltat und genießen lieber die noch vorhandenen Fachwerkhäuser, die sich auch entlang der Straße ortsauswärts in Richtung Deggenhausertal aneinanderreihen. Besonders auffällig ist ein Gebäude kurz vor dem Ortsrand rechts, wo Fachwerk ringsum schon seltener geworden ist. Dem laienhaften Blick nach scheint es nicht nur ein hohes Alter zu besitzen, es sieht auch schwer nach einer Mühle aus. Auf den zweiten Blick bestätigt dies der an der Fassade angelehnte Mühlstein, doch fehlt noch immer eine grundsätzliche Voraussetzung: ein Bach. Eine Hinweistafel verifiziert zumindest schon mal, das es sich um die Salemer Mühle handelt – und auch der Bach taucht kurze Zeit darauf auf, beziehungsweise verschwindet er, da wir uns gegen die Fließrichtung bewegen, unter der Oberfläche, er wurde kanalisiert. Mit ihm verlassen wir Bermatingen und die Straße, kurz darauf verzweigen sich der Bach – genaugenommen fließen zwei Bäche ineinander – und mit ihnen teilt sich der Weg. Wir gehen rechts hoch in den Wald, denn dort liegt der Weiler Weppach.

Wie im Bodenseeraum üblich, schneiden sich die Gewässer, seien sie noch so klein, sehr tief in die Molasse, den weichen Sandstein der Region, ein, schnell geht es da gleich mal um mehrere zehn Meter hinunter. Für uns dagegen geht es an jenem engen Tal entlang bergauf in großer Kurve. Besagtes Gewässer hat übrigens den faszinierenden Namen Weppachbach, was einem ein bisschen redundant vorkommt und zu der Überlegung führt, ob der Wald um das Kloster Wald bei Pfullendorf Waldwald heißt oder die Seen um das Kloster Irsee bei Kaufbeuren Irseeseen. Der Weiher bei Marienweiher – noch ein Kloster, aber in Oberfranken – heißt jedenfalls nicht Marienweiherweiher, aber der Weppachbach Weppbachbach. Diesen trübseligen Gedanken nachhängend kommen wir schließlich, an ein paar freundlichen Waldarbeitern vorbei, die mit ihrem schweren Gerät den Weg ordentlich zermatscht haben – wovor immerhin gewarnt wird – auf die Lichtung des Weilers Weppach, dem Überbleibsel des einstigen Klosters.

Der Weiler Weppach
Dessen Ursprünge sind unbekannt, genauer: legendär. Ein Reisender soll sich hier verirrt, die heilige Anna um Hilfe gebeten und nach erfolgter Rettung an der Stelle, die er durch seinen Stock vorher gekennzeichnet hatte, einen Bildstock errichtet haben. Die heilige Anna als Nothelferin anzurufen ist recht ungewöhnlich, zumindest nicht unbedingt naheliegend, es sei denn man setzt einen persönlichen Bezug des Reisenden zu ihr voraus. Wie auch immer, das Kloster war später der Mutter Marias geweiht und womöglich liegt hierin die nachgetragene Erklärung. Die Gründungslegende, datiert auf das Jahr 1202, entspricht einem gängigen Muster, ihre Fortsetzung vermischt dann schon deutlicher Tatsächliches mit üblichen Motiven. Der Bildstock wurde ein beliebtes Pilgerziel, dazu fand sich bald in der Nähe eine Quelle mit vermeintlicher Heilkraft. Eine aussätzige Dame edler Abkunft habe sich dann dort niedergelassen, um – erfolgreich – von deren medizinischen Nebenwirkungen zu profitieren, ihr folgten andere Kranke. Um deren Betreuung kümmerten sich fortan Beginen, also fromme Frauen, die in einer ordensähnlichen Gemeinschaft lebten. Hier dürfte spätestens der historische Kern der Geschichte einsetzen, denn die Beginengemeinschaft existierte nachweislich und die Gründungslegende berichtet hier etwas, was gewöhnlich für diese Art Erzählung nicht zielführend ist, nämlich einen Misserfolg: das nachlassende Interesse der Kranken an der Heilquelle. Die Beginen aber blieben trotz fehlender Pilger vor Ort, der ihren Bedürfnissen entsprach: Abgeschiedenheit – wie noch heute der Fall – zur Kontemplation. 1384 ist die Sammlung, wie man solche Gemeinschaften nannte, urkundlich belegt, ab 1400 kommt es immer wieder zu Schenkungen. Die Beginen waren von der Kirche nie so recht anerkannt, jedenfalls beäugte man sie mal wohlwollend, mal – wesentlich öfter – misstrauisch. Selbständige Frauen waren immer verdächtig. Und so suchte man sie – in den besseren Zeiten – einer anerkannten Ordensgemeinschaft zuzuführen, in unserem Fall den Franziskanern aus dem nahen Überlingen. Dadurch wurden aus den Beginen sogenannte Terziarinnen, also „Drittordensschwestern“, zu unterscheiden vom anderen weiblichen Zweig des Franziskanerordens, den Klarissen. In schlechteren Zeiten wurden Beginen – und ihre männlichen Gegenstücke, die Begarden, noch mehr – auch als Ketzer verfolgt, hier im Bodenseeraum, wo sie sehr häufig waren und viele spätere Klöster auf Beginensammlungen zurückgehen, war dies zum Glück kaum der Fall.
Vor der ehemaligen barocken Klosterkirche.
Unter dem Kloster Weppach hat man sich keine prächtige Anlage wie im benachbarten Salem, auch keine große Ordensanlage wie im städtischen Überlingen bei den erwähnten Franziskanern vorzustellen, sondern eine kleine Kirche mit Ordenshaus, dazu später ein paar Ökonomiegebäude, beziehungsweise noch viel später ein Beichtvaterhaus. Solche Klöster existieren noch zum Beispiel auf der Schweizer Seeseite hoch oben in Grimmenstein oder Wonnenstein im Appenzeller Land – auch dort auf frühere Sammlungen frommer Frauen zurückgehend, später umgewandelt in Kapuzinerinnenkonvente. Die Weppacher Gründung gedieh recht gut, auch wenn – oder weil – hier nur jeweils an die zehn oder zwölf Nonnen wohnten. Selbst den Bauernkrieg scheint man gut überstanden zu haben, trotz der Nähe zu Bermatingen, dem Zentrum des „Bermatinger Haufens“. Aber der gab sich ja ohnehin je nach Standpunkt eher kompromissbereit oder kompromisslerisch, was nicht unbeträchtlich zum Scheitern des Bauernkrieges in der Region beigetragen hat. Ich solle nicht vom Thema abkommen, mahnt Fräulein Annika – und sie hat ja recht. Schlimm kam es für das Kloster erst im Dreißigjährigen Krieg, wo die Schweden mehrfach plünderten, dazu nahmen dann auch noch durchziehende bayerische Soldaten – an und für sich Verbündete – mit, was diese vergessen hatten. Die Schwestern flohen ins fürstbischöfliche Markdorf oder gleich hinüber nach Konstanz. Der Wiederaufbau gelang jedoch und wurde um 1780 mit dem Bau – oder der Renovierung – einer neuen Klosterkirche gekrönt. An der konnten sich die Klosterfrauen allerdings kaum mehr 25 Jahre erfreuen, 1803 wurde der Konvent vom neuen Landesherrn, dem Fürsten zu Fürstenberg, aufgelöst, die Nonnen dürften aber dort wohnen bleiben, bis die letzte von ihnen 1828 verstarb. Mit ihrem Ableben war auch das Schicksal der Gebäude besiegelt: das Ordenshaus wurde abgebrochen, das Beichtvaterhaus zum Bauernhof, die Kirche ausgeräumt und zur Scheune, später zum Wohnhaus umfunktioniert. Aus dem Kloster Weppach wurde das Einzel Weppach.



Deutlich sind die Abbruchkanten des Chores zu erkennen.


Und so ist es noch heute. Die Lage ist ein Idyll, damals wie jetzt. Dazu trägt das noch vorhandene Ensemble durchaus bei, auch dessen Gastfreundlichkeit – man bekommt hier auf Verlangen Getränke gereicht. Gleichwohl stimmt einen die profanierte Kirche – schon auf den ersten Blick als solche zu erkennen – natürlich etwas melancholisch. Versöhnlich immerhin, dass sie hübsch renoviert ist. Um das frühere Eingangsportal und die Fenster erkennt man noch Überreste von Zeichnungen und Einritzungen des barocken Dekors, das diese einst umgab. Im Innern, das wir leider nicht besichtigen konnten, soll es ebenfalls einige Spuren von Malereien geben. Wer um das Gebäude herumläuft, dem fällt auf der Rückseite der deutliche Mauerabbruch auf, der den früheren, abgebrochenen Chor markiert. Das also ist geblieben von über vierhundert Jahren Klosterleben auf der Weppacher Lichtung, und bevor uns die Wehmut gänzlich überfällt, flüchten auch wir wie einst die Nonnen ins benachbarte Markdorf. Fräulein Annika fragt sich mit gutem Grund, warum wir nicht ein lebendiges Kloster besuchen, schließlich wäre das ein vernünftiger Ausgleich, und da Grimmenstein und Wonnenstein ohnehin schon erwähnt wurden...? Wie immer hat sie natürlich recht – und wer wäre ich, ihr diesen Wunsch nicht zu erfüllen?

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