Marketingtechnisch
ist der Name Neuburg für eine Burg ein absolutes Desaster. Zu Recht würde man
den unkreativen Designer, der sich dies ausgedacht hat, sofort feuern. Und was
Feuern im Hochmittelalter bedeutet, sei der Phantasie eines jeden überlassen.
Wenig verwunderlich gibt es die Bezeichnung Neuburg für zahlreiche Burgen und
Ruinen, auch die gelegentliche Bezeichnung Neuenburg für unser heutiges Ziel
macht es keineswegs besser, heißt so schließlich sogar ein ganzer Kanton
mitsamt Hauptstadt. Wie klangvoll ein Name sein kann, beweisen die
unmittelbaren Nachbarn der Neuburg über Mammern, die Steiner Burg Hohenklingen
scheint direkt einem Artusroman entsprungen, gut, die Schrozburg auf dem
Schiener Berg erinnert eher an einen üblen Keuchhusten, aber immerhin ist diese
Bezeichnung definitiv einmalig und könnte man sich anheimelndere Orte als
Liebenfels und Freudenfels ausdenken? Nun, all das hätte sein können, ist aber
nicht. Wir müssen mit der Bezeichnung Neuburg vorlieb nehmen – und das ist
nicht das einzige, was im Laufe ihrer Geschichte für Verwirrung sorgen wird.
Noch sind wir
auch gar nicht da. Fräulein Annika und ihr Begleiter haben sich des frühmorgens
von der Thurgauer Kantonshauptstadt Frauenfeld aufgemacht, um den Seerücken zu
überqueren. Dieser Höhenzug begleitet den Untersee von kurz hinter Kreuzlingen
– in etwa ab Tägerwilen – bis Stein am Rhein, mit anderen Worten, ziemlich
komplett. Dabei reicht er teils bis hart an das Ufer heran, nur die Straße und
die Bahntrasse trennen ihn vom Wasser. Von der Seehöhe auf gut 400 Metern geht
es teils recht steil hinauf auf bis zu knapp unter 700 Metern. Die Bezeichnung
Thurgauer Seerücken schien uns anfangs etwas seltsam, da ein Rücken ja
bekanntlich nur eine Seite – die RÜCKseite – besitzt, in diesem Falle offenbar
die dem See zugewandte, während unser Höhenzug auch auf der anderen Richtung
Thurtal abfällt. Beim Überwinden dieser Barriere ist uns dann aber eingefallen,
dass wohl eher gemeint sein dürfte, die Hügelkette als einen nach oben
zeigenden Rücken anzusehen, was ein stimmiges Bild ergibt – wäre der Thurgauer
Seerücken also ein riesiger Mensch, dann läge er dahingestreckt auf dem Bauch
von Stein bis Tägerwilen.
Im Pfyner Städtli: einer der interessantesten Orte im Thurgau, errichtet auf einem Römerkastell, mit Schloss und paritätischer Kirche, Museum in der Trotte und einer alten Steinzeitkultur. |
Fräulein Annika
und ich steigen also vom Thurtal, genauer in Pfyn – davon ein andernmal – auf
den Seerücken hoch, der aufgrund seiner Höhe erst einmal sehr lange vom See
nicht einmal etwas erahnen lässt. Sehr wildromantisch laufen wir im Tal eines
kleinen Bächleins entlang, das, wie gehabt, teils tief in die Molasse
eingeschnitten ist, gleichzeitig sieht das Bachbett oft wie künstlich mit
kleinen Treppenstufen angelegt aus, die das Wasser über die Jahrtausende schön
abgeschliffen hat. In der Nähe von Hörstetten geht es auf einen einzelnen
Bauernhof zu, wo kurz vor unserem Auftauchen ein Mensch im Blaumann mit ebenso
blauer Schlafmütze – so ein Klopapierwärmer mit Schnurzipfel, dazu etwas
Spitzwegs „Armer Poet“, wie ihn Skifahrer in den 1980er Jahren gelegentlich
getragen haben – rechts aus dem Stallgebäude. Er trägt in der rechten Hand
einen stattlichen Vorschlaghammer, in der linken einen Holzpflock. Wir könnten
nun ziemlich beunruhigt sein, würde der Mann nicht laut vor sich hinsingen.
Obwohl...vielleicht sollte uns gerade das noch viel mehr beunruhigen? In jedem
Fall ist die peinliche Situation entstanden, dass der gute Mann uns nicht
bemerkt hat und sich allein glaubt. Manchem ist das ja egal, andere füllen sich
dadurch ertappt. Auch wenn wir uns nicht unbedingt davor fürchten, dass der
Mann, sobald er uns bemerkt, von Pflock und Vorschlaghammer Gebrauch macht –
schon einzeln unangenehm, in der Kombination nicht minder – hoffen wir, dass er
vielleicht ohne uns wahrzunehmen ins Bauernhaus eintritt, da er allerdings
passend zu seinem sonstigen Verhalten äußerst gemütlich schlendernd unterwegs
ist, zeichnet sich ab, dass uns nur noch Sekunden davor trennen, ihn passieren
zu müssen. Tatsächlich bleibt er neben seinem – hübsch geschmückten –
Briefkasten stehen, wo er uns nun bemerkt und leicht überrascht mit einem
„Grüezi wohl!“ herübergrüßt, das wir erleichtert erwidern.
Nachdem wir
diese erste Gefahrensituation glimpflich überstanden haben, gibt es vom
weiteren Verlauf der Wanderung nur noch wenig zu berichten. Hinter Hörhausen
ergab es sich, dass der Wanderweg wiederum auf ein Einzel zuführte, erkennbar
ein älteres Ensemble, erkennbar aber auch, dass die Route schnurstracks direkt
in den einsamen Bauernhof hineinführte. Man weiß, was das zu bedeuten hat – und
man kann niemanden verdenken, dass er sich als Besitzer solch eines abgelegenen
Idylls einen Hund anschafft. Für Fußgänger ohne Ausweichmöglichkeit nicht
unbedingt eine glückverheißende Aussicht, aber wir gingen einmal optimistisch
davon aus, dass die sonst in allen Belangen so vertrauenswürdigen Planer der
Schweizer Wanderwege auch hier bedacht haben, dass man Wanderfreunde nicht
aggressiven Hofhunden zum Nachtisch ausliefert. Wir haben kaum den Hof des Hofes
betreten, schon kommt aus irgendeiner Ecke eine Art kniehoher braungefleckter
Dalmatiner dahergeschossen, ohne Kette, laut bellend. Es dürfte weniger mein
freundliches Zureden gewesen sein, als das Selbstbewusstsein des Hundes, der
weiß, was er seinem Job schuldig ist, nämlich klarzustellen, dass er hier den
Chef in der Runde darstellt, was wir in diesem Moment kaum abstreiten, weshalb
er einen halben Meter vor uns stehenbleibt, noch einmal eine Ansage in Form
lauten Gebells macht und dann unser weiteres Vorgehen abwartet. Das mit dem
buchstäblichen Vorgehen ist gar nicht so einfach, denn hier, inmitten des
Bauernhofes, müssen wir uns erst einmal orientieren, wo der Weg den
weiterführt. Unser Bewacher nimmt das aber gelassen hin – wahrscheinlich ist er
es gewohnt – und aus seiner Sicht lohnt es nicht einmal, uns verschwindenden
Störenfrieden, noch ein verabschiedendes Gekläff hinterherzuschicken. Für ihn
geht’s zurück an sein stilles Plätzchen – bis zum nächsten Wanderer – für uns
in Richtung Gündelhart. Dort am Ortsrand angekommen, sehen wir den ersten
Wegweiser zur Neuburg.
In der größten Ruine des Untersees. |
Hier, auf der
Hochfläche des Seerückens, ahnt man zwar bereits die Nähe des Gewässers, aber
zu sehen ist er noch immer nicht, gegenüber liegen die Höhen der Höri und
wüsste man es nicht, niemand würde dazwischen den Untersee vermuten. Unser Weg
nimmt einen für Schweizer Verhältnisse geradezu typischen Verlauf, indem er
urplötzlich vom breiten Teerweg mitten auf die Wiesen abzweigt, wo nicht mal
ein Trampelpfad, aber in der Ferne die nächsten Wegweiser erkennbar sind,
weshalb wir natürlich, oberstes Gebot, diese scheinbar irrationale Variante
einschlagen, die uns ebenso natürlich durch den anschließenden Wald sicher zum
Ziel bringt. Es geht bereits kräftig bergab, doch durch den Bewuchs ist nichts
sichtbar, bis plötzlich der Bergfried der Neuburg vor uns auftaucht.
Die Geschichte
der Neuburg ist zu Beginn klar, wird recht wirr, dann wieder übersichtlicher.
Gegründet haben die Burg einst die Herren von Hohenklingen im benachbarten
Stein – deren Stammsitz dürfte sie einst auch ziemlich ähnlich gesehen haben,
wer also eine bessere Vorstellung der Gebäude haben möchte, muss die paar
Kilometer nach Stein weiterlaufen (oder mit der Bahn fahren), was sich
naturgemäß ohnehin lohnt. Die Neuburg entstand als typische stauferzeitliche
Festung vor 1250, der Grund ist allein vom Standpunkt noch heute für jeden
leicht ersichtlich und das im wahrsten Sinne des Wortes. Wie erwähnt, drängt
der Seerücken hier fast bis ans Ufer, nichts klüger also, als über der
Engstelle einen trotzigen Wächter hinzustellen, der als Bonus noch eine
Position mit Übersicht über den gesamten Untersee von Stein bis über die
Reichenau hinaus mitbringt, gleichzeitig mit Blickkontakt zur Stammburg
Hohenklingen. Wenig verwunderlich, dass die Neuburg zur größten Festung am
Unteresse heranwuchs.
Jetzt kommt der
verwirrende Teil: die von Hohenklingen verscherbelten ihren Besitz Neuburg und
Mammern Ende des 13. Jahrhunderts an die von Castell – bei Kreuzlingen, die
dortige Ruine ist ebenfalls noch vorhanden – die wiederum ihn kurz darauf an
das Kloster St. Gallen übergeben, welches die kleine Herrschaft in der Folge
mehrfach verschiedenen Lehensträgern abgibt, meist kleineren Adligen oder
Patriziern der Region. Das geht so die nächsten zweihundert Jahre, bis 1540
Ursula von Hutten den Besitz erwirbt, die Witwe des vom württembergischen
Herzog Ulrich ermordeten Hans von Hutten, eine Geschichte, die man durch die
Texte Ulrich von Huttens gut kennt. Dieser erneute Wechsel hat einen kuriosen Nebeneffekt,
den Frau von Hutten ist eine geborene Thumb von – richtig – Neuburg. Diese
Neuburg hat – oder jetzt: hatte – mit unserer natürlich nichts zu tun, sie
liegt im Rheintal beim vorarlbergischen Götzis, eine weitere Ruine. Ursula von
Hutten hat die Burg noch einmal ordentlich renoviert, wohl die letzte echte
Glanzzeit des Baues, nach dem Tod der Witwe erbt die männliche Nachkommenschaft
aus ihrem Zweig, womit die Neuburg nun tatsächlich in den Händen der Neuburg
ist, auch nach einer Teilung der Herrschaft um 1600. Das Wohnen auf Burgen
verliert allerdings rasant an Attraktivität, und die neuen Besitzer ab 1621,
die Roll aus Uri, haben nur noch wenig Interesse an der Bergfeste. Die Roll,
mehrere Brüder aus dem katholischen Urkanton, bauen lieber ein italienisches
Schlösschen unten am See in Mammern anstelle des dortigen Amtshauses. Die
ohnehin schon recht angeramschte Neuburg wird nur noch um 1690 kurz einmal
bewohnt, von – Überraschung, Überraschung – mal wieder einem neuen Besitzer, im
gleichen Jahr dann endgültig ein letztes Mal mitsamt der Herrschaft Mammern
verkauft. Nun gehört der Besitz mit allem Drum und Dran dem Kloster Rheinau bei
Schaffhausen, dass sich lieber dem Schloss am See als der Halbruine dort oben
am Hang widmet. Zum Bau des noch heute bemerkenswertesten Schmuckstücks in
Mammern, der Schlosskapelle, nutzt man 1749 schon Steine der Neuburg.
Dieses Ende ist
ein bisschen unrühmlich, bedenkt man, dass es nie jemandem gelungen ist, die
Neuburg einzunehmen und zu erobern. In unserer Vorstellung ist es ja oft so,
dass wir eine Burgruine mit einem Kriegsereignis in Verbindung bringen, bei dem
die Burg zerstört und anschließend nicht wieder aufgebaut wurde. Das ist zwar
auch oft der Fall, doch gilt es nicht für die Neuburg. Über die Jahrhunderte unbedrängt
und unzerstört, darum auch baulich kaum verändert, ist sie einfach durch nicht
mehr vorhandene Nutzung verfallen. Man kann es auch anders ausdrücken – und der
Beispiele sind viele: einen Schlossbau im Tal hat kaum eine Höhenburg überlebt.
Und so ist die Neuburg heute eine beachtliche Ruinenlandschaft über dem See,
deren hervorstechendestes Merkmal der hohe Bergfried ist, dessen
Mauerinnenseite inzwischen komplett fehlt. An ihm kann man allerhand
„Gesteinsproben“ miteinander vergleichen, von Buckelquadern über riesige
Kiesel, Wacken und ganz oben, zur Bekrönung, Zinnen aus Ziegelsteinen, auf
denen einst das Dach auflag, siehe Hohenklingen. Neue Bewohner hat die Neuburg
auch, Turmfalken genießen jetzt die schöne Aussicht auf den See. Aber nicht nur:
zwar weniger dauerhaft, scheint die einstige Vorburg gerne für Grillabende
genutzt zu werden, ganz ordentlich schweizerisch in einer dafür vorgesehenen
angenehm gestalteten Anlage. Überhaupt scheint man sich nach langen Jahren des
bis vor kurzem andauernden Verfalls nun dem Erhalt und der sinnvollen Nutzung
der Ruine gewidmet zu haben.
Für uns geht’s
von nun an bergab. Beziehungsweise weiter bergab aus dem Wald hinaus durch die
Obstplantagen, über die Straße und auf den Radweg entlang der Bahnlinie parallel
zum Seeufer bis hinein nach Mammern. Dort steht schließlich das Schloss, dass
unserer guten Neuburg das Genick gebrochen hat – wenn man es so sagen kann. Sie
war übrigens nicht das einzige Opfer dieses Neubaus – auch die etwas weiter
unten, direkt am Ufer bei der Schiffslände gelegene, heute völlig verschwundene
Wasserburg, verlor ihre Funktion angesichts des doch wesentlich schmuckeren und
vor allem angenehmer bewohnbaren Ansitzes aus der Zeit um 1620. Dessen
Prunkstück ist die bereits erwähnte, auf Kosten der Neuburg errichtete
Rokokokapelle von 1749, innen und außen ein Juwel eines Vorarlberger
Baumeisters aus der berühmten Beerfamilie, in diesem Falle Johann Michael.
Bemerkenswert im Inneren die nur aufgemalten Altäre – ein eher seltenes Exempel
der in jenen Tagen recht beliebten Scheinarchitektur, im Gegensatz zur
ebenfalls vorhandenen nur perspektivischen
Kuppel. Leider konnten Fräulein Annika und ich das Gelände des Schlosses
nicht betreten. Trotz des über dem Eingangstor freundlich grüßenden Salus
Intrantibus ist uns der Zugang verwehrt, denn innerhalb der Schlossgebäude
ist seit dem 19. Jahrhundert eine Privatklinik untergebracht. Die Kapelle ist
allerdings auch das markanteste Überbleibsel des Schlosses, das zwar im Kern
noch immer vorhanden ist, aber einerseits nach einem Brand schon im 18.
Jahrhundert alle seine Türmchen und Erker verloren hat, andererseits durch die
zahlreichen Zubauten seit der Nutzung als Klinik nicht mehr so recht in seinem
ursprünglichen Charakter zu erkennen ist. Zumindest von unserem Standpunkt
außerhalb. Den großzügigen Schlosspark nutzen nun die Patienten und
Patientinnen (hoffentlich) ausgiebig zur Erholung – auch er birgt eine
Besonderheit, eine Statue des heiligen Nepomuk vom Ende des 17. Jahrhundert,
was an und für sich noch nicht sonderlich bemerkenswert wäre. Doch ist dieser
sonst typische Nepomuk im barocken Priestergewand, mit Kreuz und einem sein
Haupt umgebenden Sternenkranz, sowohl von der Park- als auch von der Seeseite
komplett: er ist eine recht raffinierte Doppelfigur mit Vorder- und
Rückansicht. Nach einem kurzen Schwenk in die rundum außen und innen
einheitlich neugotische Pfarrkirche, ein insgesamt sehr gutes, stimmiges
Exemplar der Epoche, notwendig geworden nach einem Brand zu Beginn des 20.
Jahrhunderts, geht es für Annika und ihren Begleiter zum Bahnhof, wo auf dem
benachbarten Sportplatz, noch ein Zeichen dafür, dass wir in der Schweiz sind,
einige Kinder in ihrer Freizeit Hockey spielen. Dann kommt die Seelinie
herbeigefahren und nimmt uns mit...
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